Wirtschaft
anders denken.

Stromlandschaft und Regenwürmer

27.04.2023
Ein Kohleschaufelbagger erodiert eine Landschaft, im Hintergrund erstrahlt der Sonnenuntergang das Gerüst des Baggers.Foto: Spyridon Natsikos Kohlebagger schaufeln ganze Landschaften weg. Die Schäden überdauern Generationen.

Kann aus ausgeräumten Regionen auch wieder etwas werden, was den Namen Landschaft ohne Zusatzbegriffe verdient?

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Stromlandschaften sind schöne Regionen. Geprägt vom großen Fluss der scheinbar ewigen Dinge. Übergänge des Feuchten und Festen, Hort des Lebens, des Seins und Werdens. Es sei denn, jener andere Strom ist gemeint. Der durch die Leitungen fließt, nicht durch Flussbetten. Es sei denn, es geht um Energielandschaften. Die sind ein Ort des Sterbens. Und das sind sie schon, solange die Menschen Energie verbrauchen und dafür die Landschaften umgestalten. Wobei in früheren Jahrhunderten, als die Energie aus Holz war, nach der Ausbeutung immerhin neue Landschaften entstehen konnten. Gegenden, die die Bezeichnung »Landschaft« noch oder wenigstens nach einer langen Weile wieder verdienten. Die alten Landschaften der Aus- und Übernutzung sind heute übrigens gerne Naturparks und Schutzgebiete.

Als wir das Holzzeitalter beendeten, das noch in die Industrialisierung hineinragte, als wir umstellten auf Kohle, änderte sich der Zugriff auf die Landschaften radikal. Was unsere moderne Energiebeschaffung am Ende hinterlässt, kann mit dem alten Wort »Landschaft«, das eine gewisse Ruhe und sogar Schönheit in sich trägt, nur noch bezeichnet werden, wenn es mit dem Vorsatz »Mond« ausgestattet ist. Sachlich korrekt heißen solche Gebiete Bergbaufolgelandschaft. Und die Frage ist, nicht erst seit wir aus der Kohleverstromung aussteigen wollen, ob aus solchen ausgeräumten Regionen auch wieder etwas werden kann, was den Namen Landschaft ohne Zusatzbegriffe verdient.

Folgelandschaften früherer Energieausbeutung unterscheiden sich fundamental von den heutigen. Im Boden nach Kohle und Erz gegraben haben wir schon lange vor der Industrialisierung. Aber der eigentliche Energielieferant vorindustrieller Zeiten war das Holz. Entsprechend haben wir es mit großflächiger Abholzung zu tun, wo Energie gebraucht wurde. Entstanden sind daraus Landschaften, denen wir heute besondere Pflege angedeihen lassen.

Ich will jetzt nicht beim Raubbau der Römer anfangen, dem wir die heutigen Karstlandschaften im Süden verdanken oder das entwaldete Sizilien. Wir können ruhig vor der eigenen Haustür die historischen Sägespäne zusammenkehren.

Die Bergbau- und Energieindustrie bildete sich weit vor der ersten industriellen Revolution im 18. Jahrhundert. Als die kam, hatte die aufblühende oder besser aufschwärzende Bergbauindustrie längst einen Großteil der europäischen Wälder zu Stollenstützen verarbeitet und in den Erzschmelzen verhüttet. Das rauchende Mittelalter hatte Europa entwaldet. Als die Kohle begann, die Dampfmaschinen anzutreiben, war diese Industrie längst da. Und sie hatte Spuren in der Landschaft hinterlassen, die bis heute sichtbar sind.

Viele der für uns Heutige erhaltenswerten Landschaften sind durch Raubbau entstanden. Die Rhön zum Beispiel, von den Touristikern als »Land der offenen Fernen« beworben und von Schäfern mit traditionellen Rhönschafen und Ziegen frei gehalten von Bewuchs, damit sie bloß nicht wieder verwaldet. Eine sanfte Mittelgebirgslandschaft mit Kuppen, auf denen noch Restwäldchen thronen, und mit Senken, in denen sogar noch ein paar Moore überlebt haben. Ansonsten aber Wiesen- und Weidelandschaft mit gepflegten Streuobstwiesen, so weit das Auge schauen kann. UNESCO-Biosphärenreservat im Dreiländereck Bayern, Hessen und Thüringen. Eine Energiefolgelandschaft, die heute viele gefährdete und geschützte Arten beherbergt, vom Birkhuhn bis zum Rotmilan.

Nur zur Erinnerung: Es war ein Bergmann, der den Erhalt der Wälder forderte und die nachhaltige Forstwirtschaft in Deutschland einführte – und mit ihr ganz nebenbei eben dieses heute ubiquitäre Wort: Nachhaltigkeit. Hannß Carl von Carlowitz, dessen »Sylvicultura oeconomica« eine »Naturmäßige Anweisung zur Wilden Baum-Zucht« war und auf der Leipziger Buchmesse 1713 ein Bestseller wurde, war Bergrat und Oberberghauptmann des sächsischen Kurfürsten. Er hatte vor seiner Haustür im Erzgebirge und bei Reisen durch die deutschen Länder und Europa gesehen, dass die Industrialisierung, für die er zuständig war, ein Ende haben werde, wenn der Raubbau an den Wäldern nicht beendet würde.

Dieselbe Industrie, der schon Hannß Carl von Carlowitz angehörte, lange vor der eigentlichen industriellen Revolution, darf unsere Landschaft bis heute in einer Weise verändern, die brutaler ist als jeder andere Eingriff. Und wohl auch dauerhafter. Nicht umsonst heißen jene Kosten der Bergbauindustrie, die nach der industriellen Ausbeutung kommen, Ewigkeitskosten oder Ewigkeitslasten. Weil zum Beispiel auch der Salzbergbau der Hanse unter der Stadt Lüneburg bis heute Häuser unbewohnbar macht. Weil auf kaum absehbare Zeit in den alten Schächten der Kohlegruben Wasser abgepumpt werden muss, wenn nicht das halbe Ruhrgebiet zur Seenplatte werden soll, in der die Städte untergehen. Und weil der giftige Müll in den Stollen nicht ins Grundwasser gelangen soll.

Auch wenn das, was nach den Baggern kommt, Renaturierung genannt wird, werden die riesigen Gruben des Braunkohletagebaus, gewaltige Schürfwunden in der Landschaft, nie wieder die Natur und das Land, das sie einmal waren.

Gibt es überhaupt eine Renaturierung nach der Kohle? Wobei auch hier wieder die Semantik zuschlägt, wie schon beim Begriff »Landschaft«: Was nämlich wäre dann eine solche Renaturierung? Ein wieder natürlicher Zustand, entstanden aus einem widernatürlichen? Oder doch eher etwas Drittes? Nicht Natur, sondern eben naturiert. Für uns Menschen in naturähnlichen Formen und Farben gestaltet und koloriert, eine in die Mondlandschaft installierte Illusion von Natur.

Und wie und woran können wir unterscheiden, ob der Zustand nach der sogenannten Renaturierung etwas mit einer Natur zu tun hat, wie wir sie in anderen Kulturlandschaften vorfinden? Ich schlage vor, wir messen die Naturnähe der Renaturierungsflächen an dem Leben, von dem wir alle abhängen: dem des Bodens. Ohne Leben in den Böden keine Fruchtbarkeit und ohne die kein Leben außerhalb der Ozeane.

Wenn man nicht nur Freizeitlandschaften mit künstlichen Seen und Campingplätzen aus den Abraumhalden der Braunkohleindustrie machen möchte, wenn es also darum geht, tatsächlich zu renaturieren, dann müsste auf die Halden wieder fruchtbarer Boden. Oder etwas Ähnliches, was den Namen Boden verdient. Wenn damit nicht nur eine Fläche gemeint ist, auf der irgendetwas stehen kann, sondern eine, unter der und in der es lebt. Natürlich kann die Natur das: toten Boden lebendig machen. Aber sie braucht dafür leider Jahrhunderte, zumindest um etwas herzustellen, wovon wir leben können. Wenn wir lernen, wie sie das macht, könnten wir vielleicht nachhelfen, einen Reparaturbetrieb aufmachen.

Dass wir heute ziemlich viel darüber wissen, wie totes Substrat belebt und langsam tatsächlich zu lebendigem Boden wird, verdanken wir Wolfram Dunger, dem Nestor der deutschen Bodenzoologie. Er übernahm 1959 das ehemals von Bürgern gestiftete, in der DDR natürlich staatlich gewordene Museum für Naturkunde in Görlitz. Wie so oft gab es auch dort hinter der Fassade des Museums eine kleine Forschungseinrichtung. Diese baute Wolfram Dunger in den folgenden Jahrzehnten zum wichtigsten Forschungsort der Bodenzoologie in Europa aus. Heute ist der Forschungsschwerpunkt Teil der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung.

Der Standort war günstig für genau die Forschung, die uns demnächst vielleicht retten könnte. Nirgendwo auf der Welt dürften Bodenforscher mehr darüber wissen, wie Mikroorganismen, Tiere und Pflanzen klinisch tote Substanz besiedeln.

Die Halden, die die größten Maschinen der Welt hinterlassen, die Schaufelradbagger des Braunkohletagebaus, werden von sogenannten Absetzern, ebenfalls riesigen, auf Ketten fahrenden Förderbändern, als Schutt in die Baggerklüfte gefüllt. Es entsteht ebenjene besondere Art industrieller Mondlandschaft. Ein lebloses Nichts aus Gestein, das vor Jahrmillionen über den damaligen Wäldern, die heute Braunkohle sind, unter die Erdoberfläche geriet. Die Wälder wurden zu dieser besonderen, geologisch gesehen jungen und besonders schmutzig verbrennenden Braunkohle, dem dreckigsten Energieträger überhaupt. Und der Rest, der über und zwischen den Braunkohleflözen lag, wird nun zu Dreck, den niemand mehr braucht. Der aber jetzt an der Oberfläche herumliegt.

Natürlich gewachsener, gesunder Boden ist belebt und fruchtbar, wenn die Zusammensetzung und das Klima stimmen. Er ist Teil des Wasser- und Nährstoffkreislaufs. Er nimmt den Regen auf und speichert Wasser und Nährstoffe für die Pflanzen. Er filtert das eindringende Wasser und schützt das Grundwasser vor Verschmutzungen. Er speichert Kohlenstoff aus der Luft und vermindert damit die Menge des Treibhausgases in der Atmosphäre. Er reguliert die Temperatur, indem er Feuchtigkeit puffert und sie auch wieder abgibt. Erfüllt der Boden eine seiner vielen Funktionen nicht mehr, wird das für alle, die auf und von dem Boden leben, schnell spürbar. So wie auf den Abraumhalden, wo es diesen Boden eben gar nicht gibt.

Eine lebensfeindliche Umwelt, jede Wüste ein Hotspot des Lebens dagegen. Und dann? Dann kommt das Bodenleben geflogen! Was eigentlich nicht geht, weil die Milben und Springschwänze und Asseln und Regenwürmer, die den Boden besiedeln, ja nicht fliegen können. Sie sind, im Gegenteil, besonders langsam. Wenn sie ein Gebiet zu Fuß besiedeln, kommen sie jedes Jahr nur ein paar Zentimeter oder Dezimeter voran. Einige von ihnen, die Kleinsten und Leichtesten, können aber eben doch fliegen, obwohl sie keine Flügel haben. Die Görlitzer Bodenzoologen haben genau das nachgewiesen. Eine Sensation für die Wissenschaft und etwas Hoffnung für uns alle, zeigen ihre Erkenntnisse doch, dass es möglich ist, zerstörte Böden wiederzubeleben.

Die kleinen Bodentiere werden vom Wind verweht und landen im Unland. Sie siedeln sich an und bereiten mit Pilzen und Algen und Flechten den Boden für die ersten angewehten Samen. »Strukturen und Prozesse der initialen Ökosystementwicklung in einem künstlichen Wassereinzugsgebiet« hieß das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt in einem eigens dafür eingerichteten Forschungsgebiet inmitten der Bergbaufolgelandschaft.

Dass der erste Regenwurm, die Zeigeart für einen gesunden, fruchtbaren Boden in unseren Breiten, sich in einer der angeblich renaturierten Bergbaufolgelandschaften erst nach gut 20 Jahren wieder ansiedelt, das wissen wir schon von Wolfram Dunger. Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger bei Senckenberg in Görlitz können uns heute lehren, wie wir diesen Prozess beschleunigen könnten. Wofür wir allerdings sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen und sehr viel kleinräumiger arbeiten müssten, als das für die Bergbaufolgelandschaften bislang geplant ist.

Bis dann in den heutigen Energielandschaften wieder Schafe satt werden, wird dennoch viel Zeit vergehen. Bis dort gar etwas anderes wächst, was wir Menschen als Nahrung verwerten können, dürfte es eine Menschengeneration dauern.

Der Journalist und Autor Florian Schwinn betreibt einen klugen Blog, »Führerschein für Einkaufswagen«, und schreibt kluge Bücher, wie »Rettet den Boden! Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen«, 2019 bei Westend erschienen.

Geschrieben von:

Florian Schwinn

Journalist und Autor

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