Wirtschaft
anders denken.

Acht Tage, acht Jahre

21.09.2023
Ein Graffitti der ehemaligen griechischen Regierungspartei SYRIZAFoto: Thierry Ehrmann 2015 schaffte die linke Partei SYRIZA historisches. Trotzdem hinkt die Partei ihren eigenen Ansprüchen hinterher - was durch die Wahlniederlage im Mai nochmals deutlicher wurde.

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SYRIZA, das Ende des »Griechischen Frühlings« und die Frage, wann ein Fehler ein Fehler ist

Die Geschichte dieser Zeitung endet nun. Will man ihren Anfang markieren, findet man zurück in die acht rasenden Tage, die dem 5. Juli 2015 folgten. In Berlin wechselt es in jener Woche zwischen schwüler Hitze und abkühlendem Regen. Wer sein Herz am rechten Fleck hat, interessiert sich nicht für das deutsche Ferienwetter, sondern für das, was in Athen und Brüssel passiert, für das, was ein bleibender Einschnitt in die europäische Geschichte sein wird: Zuerst sagen die Griechinnen und Griechen in einem Referendum »Oxi« zu den Kürzungsauflagen und Umbaubedingungen der Gläubiger des in die Finanzkrise geratenen Landes – und dann muss der linke Premier Alexis Tsipras, erpresst mit der Drohung des Euro-Rauswurfs, nur wenige Tage später doch ein neues Gläubiger-Paket akzeptieren.

Was für eine Abkühlung. Aus der plebiszitären »Ohrfeige für Deutschland und für den harten Euro-Kern« (die spanische »El Mundo«) war ein erzwungenes »Ja« geworden, nicht nur für die griechische SYRIZA. Tsipras wird nach der entscheidenden Nacht zwar sagen, man habe »das Beste erreicht, was möglich war«. Er wird aber ebenso von »unserer verlorenen demokratischen Souveränität« sprechen. Ein hochrangiger EU-Beamter wird die Verhandlungen später als »Übung in ausgiebigem mentalem Waterboarding« bezeichnen. Ein finanzielles und politisches »Rettungspaket«, das den nicht rettet, dem es aufgebürdet wird. Dem aber nur eine Alternative geblieben war, die keine sein konnte. Kann man das anders nennen als eine Niederlage?

Ziemlich genau acht Jahre später wird Alexis Tsipras vom SYRIZA-Vorsitz zurücktreten. Seine Koalition der Radikalen Linken hat im Mai und Juni 2023 bei zwei aufeinanderfolgenden Parlamentswahlen erhebliche Verluste einstecken müssen. Verfolgt man die lange Linie der Ergebniszahlen bis zu jenem Januar 2015 zurück, der Tsipras erstmals ins Amt des Ministerpräsidenten brachte, ist die griechische Linke halbiert – von den 36,34 Prozent des großen Erfolgs bleiben noch 17,84 Prozent. Die rechtskonservative Nea Dimokratia hatte schon 2019 wieder das Regierungsruder übernommen, die Linkspartei nunmehr aus der Opposition heraus noch einmal verloren. Seit 2015 etwa 1,3 Millionen Stimmen, sechs von zehn Wählerinnen und Wählern. SYRIZA habe »einen großen historischen Zyklus abgeschlossen«, erklärt Tsipras am Tag seines Rücktritts und spricht von der Notwendigkeit, eine »neue SYRIZA zu erfinden«. Tsipras blickt zurück auf »Erfahrungen, Erfolge, Fehler, Kämpfe, die wir für das Land gewonnen, aber auch die, die wir verloren haben«. Die Reise gehe weiter, sagt er, »das schönste Meer ist das, das wir noch nicht bereist haben«.

Am 6. Juli 2015, am Tag nach dem griechischen »Oxi«-Referendum, tritt Tsipras’ Finanzminister Yanis Varoufakis zurück. Seine Begründung verweist auf die Feindseligkeit der Eurogruppe, den wahren Grund versteckt er in seiner Erklärung: Er betrachte es als seine Pflicht, »Tsipras dabei zu helfen, das Kapital, das uns das griechische Volk durch das gestrige Referendum gewährt hat, so zu nutzen, wie er es für richtig hält«. Tsipras hält anderes für richtig als er, deshalb der Bruch.

Varoufakis gründet später die Bewegung DiEM25 und zieht mit seiner neuen Partei MERA25 2019 ins griechische Parlament ein. Bei den Wahlen 2023, die für Tsipras Anlass zum Rücktritt werden, fliegt die mit 2,5 Prozent wieder aus der Voulí. Varoufakis, der 2015 gesagt hatte, er »werde die Abscheu der Gläubiger mit Stolz tragen«, kommentiert acht Jahre später Tsipras’ Rücktritt mit den Worten: »Die entscheidende Schlussfolgerung ist, dass Radikale nie lange im Club der Mächtigen willkommen sind, selbst wenn sie bereit sind, ihre Prinzipien zu verraten.«

Zwei Jahre bevor Varoufakis Finanzminister wird, spricht er beim Subversiven Festival in Zagreb 2013 über eine für ihn zentrale Lektion. Die geht auf seine Erfahrung mit dem Thatcherismus in Großbritannien zurück, die er während seines Studiums in England und später machte: »Was erreichten wir denn Gutes Anfang der 1980er Jahre in England, als wir eine Agenda des sozialistischen Wandels forderten, über die die britische Gesellschaft spottete, während sie Hals über Kopf in Thatchers neoliberale Falle tappte? Nichts. Was würde es denn heute nützen, die Auflösung der Eurozone und der EU selbst zu fordern, wenn der europäische Kapitalismus alles tut, um die Eurozone, die EU und sich selbst zu untergraben?«

Varoufakis wusste, »welche der beiden Seiten« vom Auseinanderfallen der Eurozone am meisten profitieren würde: die Rechten. »Wenn das bedeutet, dass wir, die angemessen erratischen Marxisten, den Kapitalismus in Europa vor sich selbst schützen müssen, dann sei es so. Nicht aus Liebe zum europäischen Kapitalismus, zur Eurozone, zu Brüssel oder der EZB, sondern schlicht, weil wir den Preis, den die Menschen in dieser Krise zahlen müssen, so gering wie möglich halten wollen.« Die Sünde, »die mir einige meiner linken Kritiker vorwerfen«, wollte Varoufakis 2013 »gerne zugeben: die Sünde, mich dafür entschieden zu haben, keine radikalen politischen Programme vorzuschlagen, die die Krise als Chance sehen, den Kapitalismus in Europa zu überwinden. Gewiss, ich sähe eine derart radikale Agenda gern. Doch ich bin nicht bereit, zweimal denselben Fehler zu machen.«

»Die Lösung, die wir haben wählen müssen, war keineswegs die beste. Sie war bloß die am wenigsten katastrophale, für Griechenland und für Europa«, so bilanzieren Étienne Balibar, Sandro Mezzadra und Frieder Otto Wolf im Sommer 2015 kurz nach dem »Coup« gegen SYRIZA, dem federführend von Berlin erzwungenen dritten »Rettungspaket«, dem neuen »Memorandum« die Lage. »Bis heute, das müssen wir doch zugeben, war die Unterstützung durch die anderen Völker Europas nicht auf der Höhe der zu lösenden Aufgaben.«

SYRIZA war keine »griechische Angelegenheit«, der Wahlsieg hatte Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel, was Solidarität politisch heißt, also im Sinne einer Organisation von Macht, von realen Entscheidungsmöglichkeiten. Was heißt das für die gesellschaftliche und die parteipolitische Linke? Was müsste die tun? Was könnte die überhaupt tun? Und das in Deutschland, dem erkannten Kernland der Austeritätspolitik? Es war die Frage aufgeworfen, was es heißt, sein eigenes Reden vom historischen Fensterspalt ernst zu nehmen, der in Athen angeblich geöffnet wurde, was es heißt, womöglich auch unter Zurückstellung von Maßstäben, die unter anderen Bedingungen herausgebildet wurden, aus einer bloßen Zuschauer-Solidarität herauszutreten. Wie hat die deutsche Linke diese Fragen seinerzeit beantwortet: praktisch?

Scheitert SYRIZA, auch diese Warnung war 2015 schon ausgesprochen, scheitert die europäische und deutsche Linke, ist die Zukunft für längere Zeit verstellt. Nach den acht rasenden, politisch aufgeladenen Tagen, die dem »Oxi«-Referendum folgten und in einer Niederlage mündeten, nahm das Interesse am »Griechischen Frühling«, der in seinen Herbst übergegangen war, in linken Kreisen schnell ab. Eine Niederlage wurde gern abgeschüttelt, die auch Folge eines Mangels an praktischer politischer Solidarität in anderen europäischen Hauptstädten war.

Man kann sich diesen Mangel vielleicht als »objektiv« ein bisschen hübscher reden, weil die Linken in den meisten dieser Hauptstädte selbst von den 17,84 Prozent, die einen Tsipras zum Rücktritt bewegen, meilenweit entfernt waren und es heute noch sind. Und na klar, ob linkes Vorpreschen überhaupt geglückt wäre, ob die 2015 im Bundestag bestehende parlamentarische Mehrheit auch wirksam geworden wäre – wer weiß das schon? Die Lautstärke der Solidaritätsparolen aber war oft umso dröhnender, je gemütlicher man es sich hinter Haltelinien gemacht hatte, um sich im politischen Gemenge die Hände nicht zu beschmutzen. Linkes Pfeifen im Walde.

Es gibt viele Menschen, denen SYRIZA bis heute nicht egal, deren Kritik an dem, was als politischer Kurs mit Alexis Tsipras verbunden bleibt, redlich, deren Engagement für praktische Solidarität mit griechischen Kooperativen ehrlich ist. Diese Art von Nachhaltigkeit – ein Wort, in dem »Haltung« steckt – braucht Information. Am besten die beste. Und weil mit dem Ende dieser Zeitung die Möglichkeit dazu für immer verschwindet, darf an dieser Stelle die Gelegenheit nicht verpasst werden: Danke für deinen »Griechenland-Blog« in »Le Monde diplomatique«, lieber Niels Kadritzke.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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