Wer ist Systemoperator im Kapitalismus? Über das Buch »Gescheiterte Globalisierung« von Flassbeck und Steinhardt
Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt nehmen marktradikale Ideologien und eine ökonomische Weltordnung auseinander, die nur zum längerfristigen Nachteil gesellschaftlicher Interessen funktionieren kann. Ihre Alternative stößt zur Dialektik politischer Handlungsfähigkeit im globalen Kapitalismus vor: Wie weit braucht der demokratische Staat weltweite Koordination – und umgekehrt? »Gescheiterte Globalisierung« trägt so auch zu ökonomischen Alphabetisierung aktueller linker Kontroversen bei.
Ein über 400 Seiten dickes Buch vorzulegen, in dem es über weite Strecken auch noch um ökonomische Zusammenhänge geht, darf man in diesen Zeiten als einigermaßen mutig bezeichnen.
Das liegt aber nicht so sehr am Buch, sondern an den Zeiten: In einer Phase des großen Umbruchs wird zwar viel über die Erscheinungsformen gesprochen, über autoritäre Trends, Rechtsruck, Aushöhlung demokratischer Fundamente, die Widersprüche der Globalisierung, alte Ausbeutung, neue Ungleichheit und so fort. Die Kontroversen weisen aber nur selten über banal-materialistische Hinweise hinaus, denen zufolge die gesellschaftlichen Friktionen mit ökonomischen Dingen zu tun haben. Aber mit welchen?
Eine ausführliche Antwort von Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt gibt es jetzt bei Suhrkamp: »Gescheitere Globalisierung«. Es geht in dem Buch um »Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates« – und damit sind schon im Titel eine ganze Reihe von Signalwörtern untergebracht, die auch die progressiven, kritischen Debatten über die aktuellen Krisentendenzen bestimmen – und nicht zuletzt den Streit um die möglichen Auswege.
Genau deshalb aber ist auch die Ausführlichkeit ein Vorteil – es trägt zum Verständnis eines bestimmten Blicks auf die Welt bei, indem es eine bestimmte ökonomische Analyse nachvollziehbar macht. Etwas, das im politischen Schlagabtausch sonst oft hinter dem Donnergrollen von Begriffskontroversen ein bisschen verschwindet.
Ökonomische Matrix ausführlich und anschaulich geschildert
Flassbeck und Steinhardt sind keine Unbekannten. Das gilt für den früheren Finanzstaatssekretär unter Oskar Lafontaine, der später als Chefökonom bei einer UNO-Organisation tätig war ebenso wie für den früheren Bankmanager Steinhardt, mit dem zusammen Flassbeck inzwischen das ökonomiekritische Portal »Makroskop« herausgibt. Ein dort oft vertretener Tenor weist den demokratischen Nationalstaaten die entscheidende Steuerungsfunktion zur Einhegung der kapitalistischen Ökonomie zu. Das schlägt sich natürlich in Positionen etwa zur EU, zum Euro, auch zu den Chance transnationaler Integration nieder.
Nun kann man hier selbstverständlich ganz anderer Meinung sein. Und natürlich mag es auch theoretische oder politische Gründe geben, Flassbeck und Steinhardt zu revidieren. Aber, hier darf man Antonio Labriola zitieren: »Aber es scheint mir doch, notwendig, hinzuzufügen: Überwinden heißt verstanden haben.«
Was der italienische Marxist damit meinte war, dass auch eine kritische Auseinandersetzung mit einer Position voraussetzt, dass man diese ausführlich zur Kenntnis nimmt. »Gescheiterte Globalisierung« ist dazu gut geeignet, weil darin eine ökonomische Matrix ausführlich und durchaus anschaulich geschildert wird, trotz der bisweilen nicht unkomplizierten Zusammenhänge.
Flassbeck und Steinhardt starten mit einer Kritik des lange Zeit hegemonialen ökonomischen Diskurses, der ihrer Meinung nach mit wirtschaftswissenschaftlicher Expertise nicht viel zu tun hat, eher mit einem ideologisch getränkten Konzept des Interessenslobbyismus. Ihre Kritik am Neoliberalismus ist vielleicht nicht neu, gehört aber dazu, wenn man den Anspruch erhebt, »Grundzüge einer neuen Ökonomik« dagegenzuhalten.
Mit Freude an der Polemik auseinandergenommen
Die Mystifzierung von Entwicklungstrends wie der Globalisierung oder der Digitalisierung, die von Apologeten des Marktes gegen erkämpfte Rechte von Beschäftigten oder staatliche Regulierungen des Kapitalismus in Stellung gebracht werden, weil sie »Sachzwänge« seien, an die sich Gesellschaften anzupassen haben, wir hier mit Freude an der Polemik auseinandergenommen.
Die beiden Autoren kommen ökonomiekritisch nicht von Karl Marx, sondern von John Maynard Keynes, im Zentrum ihrer ausführlichen Skizze stehen Geld, Kapital und Arbeit. In einer methodologischen Betrachtung in dem Buch weisen Flassbeck und Steinhardt allerdings ein medial etabliertes Raster zurück – das Bild von den beiden »Antipoden« Keynesianismus und Neoklassik, das wirkmächtig auch die Ebene politischer Entscheidungen beeinflusst, wo dann nicht selten »der dritte Weg« zwischen beiden gesucht wird.
Falsch, sagen Flassbeck und Steinhardt, denn was wie Antipoden klingt, sind »in Wirklichkeit aber Ergebnisse ganz unterschiedlicher Aussagensysteme«. Das ist ein zentraler Punkt in dem Buch, die Autoren nehmen für ihre Position »die Bereitschaft« in Anspruch, »makroökonomisch unbestreitbare Zusammenhänge, erkenntnislogische Notwendigkeiten und empirisch gesicherte Informationen in das Theoriesystem einzubauen«.
Meint auch: Die Neoklassik mit ihrem Modelldenken und ihrem Marktaberglauben tue das nicht. Oder, in einer selbstkritischen Perspektive des Rückblicks formuliert: »Man kann es heute nur als großen strategischer Fehler des Keynesianismus ansehen, die Neoklassik als satisfaktionsfähigen wissenschaftlichen Counterpart akzeptiert zu haben, statt sie von Anfang an als ein normatives Gebilde zu charakterisieren, das keinem sinnvollen gesellschaftlichen Zweck dient.«
Begriffe bleiben mitunter unscharf konturiert
Dem Buch hätte es durchaus gut getan, wenn mit Blick auf die Benennung der »anderen Seite« die Begriffe etwas schärfer konturiert worden wären. Über das Buch hinweg ist Mal von liberalen, Mal von wirtschaftsliberalen oder neoliberalen Ansätzen die Rede. In einem eigenen Kapitel geht es um die »Scheinantworten des Liberalismus« und um einen »liberalen Irrglauben«.
Das kann zu Fehldeutungen führen, schließlich geht es im Folgenden dann stets um die Radikalisierung eines Freiheitsanspruchs in Marktapologien, ob die nun staatliche Eingriffe zur Sozialisierung der Kosten privater Misswirtschaft gutheißen oder nicht. Dass es auch eine progressive liberale Tradition gibt, die durchaus ökonomiekritisch ist, weil sie vom »stummen Zwang« der ökonomischen Verhältnisse weiß, an dem das Freiheitsversprechen stets kollidieren kann, fällt dabei ein bisschen hinten runter.
Wer von »Gescheiterter Globalisierung« spricht, hat eine Pointe im Kopf – bei Flassbeck und Steinhardt ist das der demokratische Staat, den wieder in einen Zustand der Eingriffsfähigkeit, der Steuerungsressourcen zu setzen, das politische Ziel darstellt. Während der Wirtschaftsliberalismus« die gesamtwirtschaftliche Dimension ausblende, geht es den Autoren um »die absolut unvermeidbare Frage, wer die Rolle des Systemoperators der Marktwirtschaft wahrnehmen soll«.
Die Rolle des Staates: zwei Implikationen
Das hat zwei Implikationen, die beide die Rolle des Staates betreffen. Die erste hat etwas mit der »Tiefe« der möglichen Eingriffe in die Ökonomie zu tun. Flassbeck und Steinhardt sind »weit davon entfernt, einer staatlichen Planwirtschaft das Wort zu reden«, sie suchen nach einem Weg, »die unbestreitbaren Vorteile einer dezentral organisierten und auf Gewinnerzielung orientierten Produktion von Wirtschaftsgütern mit einer intelligenten staatlichen Steuerung des Marktes zu verbinden«. Dabei ist, so schreiben sie an anderer Stelle, »die von uns geforderte Renaissance des Staates« nicht »einer staatsgläubigen Agenda geschuldet, sondern der Einsicht in gesamtwirtschaftliche und globale Zusammenhänge«.
Die zweite Implikation stößt zu den Widersprüchen nationalstaatlicher Steuerung zu tun – sowohl was die Substanz an geht, als auch die Räumlichkeit. Flassbeck und Steinhardt sind sich der Zweifel bewusst, die eine Strategie der »Renaissance des Staates« auf sich ziehen muss. Staaten haben »ihr Gewaltmonopol nach innen im Namen ›großer Ideale‹ missbraucht«. Die Autoren verweisen auch auf »die schlimmen historischen Erfahrungen mit der ›Nation‹«. Und sie »konzedieren, dass viele der zu beklagenden gesellschaftlichen Zustände« ja auch »eindeutig auf nationalstaatliche Maßnahmen« zurückzuführen sind. »Wenn vor diesem Hintergrund Zweifel an der Position angemeldet werden, dass eine Stärkung des Nationalstaats der richtige Weg ist, um sowohl eine sozialere als auch demokratischere Welt zu befördern, ist das mehr als nur verständlich.«
Allerdings pochen Flassbeck und Steinhardt darauf, »dass man über die Frage, ob ein demokratisch organisiertes Gemeinwesen nicht den institutionellen Rahmen eines Nationalstaates benötigt« weiter diskutieren muss. In diese Hinsicht sind sie sozusagen Pragmatiker, die in einer bestimmten »Zeitlichkeit« denken: Natürlich wissen beide, dass die politischen Formen der Einhegung eines globalen Kapitalismus auch der Räumlichkeit dieser Produktionsweise folgen müssen. Die Frage ist aber, wie weit das eine – transnationale Integration – schon sein kann, und welche Schlüsse daraus für das andere – die einzelstaatliche Ebene – gezogen werden können und müssen.
Solange aber kein Weltstaat existiert…
In den Worten der beiden Ökonomen: »Solange aber kein Weltstaat existiert – und der ist mindestens so weit von seiner Realisierung entfernt wie eine totale dezentralisierte Organisation des Gemeinwesens –, muss es zwischen beiden eine Ebene geben, auf der die Entscheidungen getroffen werden, die nicht einem einzelwirtschaftlichen Interesse entspringen, sondern der Einsicht, dass ein arbeitsteiliges Wirtschaftssystem nur dann funktionieren kann, wenn gesamtwirtschaftliche, also nur für eine regionale Einheit existierende Zusammenhänge bei der Entscheidungsfindung angemessen berücksichtigt werden.«
Auf welchen ökonomischen Analysen, welchen theoretischen Ausgangspunkten und welchen wirtschaftspolitischen Steuerungsideen diese »Einsicht« beruht, davon handelt dieses Buch. »Gescheiterte Globalisierung« trägt so auch zu ökonomischen Alphabetisierung aktueller linker Kontroversen bei – und es ist dazu keineswegs nötig, sich auf denselben Standpunkt wie Flassbeck und Steinhardt zu stellen.
Man kann zum Beispiel eine völlig andere Staatstheorie im Kopf haben. Oder politisch der Meinung sein, dass statt einer »Stärkung des Nationalstaats« das Wort zu reden, viel eher in die andere Richtung gelaufen werden müsste, also alle Anstrengungen in den »Weltstaat«, von dem die Rede war, investiert werden sollten. Man kann auch völlig andere Überzeugungen pflegen was die Rolle von Geldes angeht. Und so weiter.
Aber, hier soll nochmal Labriola sprechen: Diskutieren »heißt verstanden haben«. Flassbeck und Steinhardt entfalten ein Programm, das zur Bearbeitung der real existierenden Widersprüche beiträgt. Auch, weil sie zur Dialektik politischer Handlungsfähigkeit im globalen Kapitalismus vorstoßen: »Es gibt keinen Mechanismus«, schreiben sie gleich zu Beginn, »der dafür sorgen könnte, dass die auf nationaler Ebene gefundenen Preise, Löhne und Zinsen sich so ergänzen, dass schwere Konflikte zwischen den Staaten verhindert werden können. Daher ist die internationale Koordination der Politik unumgänglich, wenn eine Weltordnung angestrebt wird, die den intellektuellen und kulturellen Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, den Handel mit Gütern und Dienstleistungen zum Vorteil aller daran Beteiligten und die Bewegungsfreiheit des Einzelnen über die nationalen Grenzen hinweg ermöglicht.«
Man kann eben das jeweils eine nicht lassen, weil einem das andere nicht behagt.
Heiner Flassbeck, Paul Steinhardt: Gescheiterte Globalisierung. Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates, Edition Suhrkamp Berlin 2018, 410 Seiten, 20 Euro.
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