Systemwandel mit System
Andrea Vetter und Matthias Schmelzer legen mit »Degrowth / Postwachstum« die erste systematische Einführung in die Postwachstumsdebatte vor.
Fragen zu stellen gilt gemeinhin als Tugend. Den kundigen Fragesteller*innen eilt der Ruf voraus, sie seien wissbegierig, engagiert und fähig zu kritischem Denken. Wenn allerdings die Systemfrage gestellt wird, schlägt das Wohlwollen schnell in Spott, Paternalismus oder eine beinahe schon hysterisch anmutende Abwehrhaltung um. Das war etwa zu beobachten, als kürzlich Kevin Kühnert im ZEIT-Interview laut über eine Kollektivierung von BMW nachdachte, woraufhin die Zeitungen aufgeregt »Enteignung« und »Sozialismus« titelten und ein kollektives Empören durch die Twitter-Accounts der Journalist*innen, Politiker*innen und Parteigenoss*innen ging. Ähnlich ergeht es der Bewegung Fridays for Future, der FDP-Chef Christian Lindner realpolitisches Urteilsvermögen aberkannte. Gleichwohl diskutieren Gesellschaft und endlich auch die Bundespolitik ernsthafter über effektiven Klimaschutz – ohne indes den Kapitalismus in Frage zu stellen. So ist diese Debatte weiterhin von dem Ziel des anhaltenden, nur diesmal grünen Wirtschaftswachstums als Garant für Wohlstand geprägt. Gerechtfertigt wird dieses Festhalten am alten Modell mit dem Glauben an eine vollständige Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Emissionsausstoß. Die Postwachstumsbewegung wendet sich explizit gegen dieses Modell, das mit der Einbettung von Nachhaltigkeit in die Steigerungslogik des Wachstumsparadigmas die Quadratur der Erdkugel versucht.
In Bezug auf die Systemfrage hat seit 2008 die Postwachstumsdebatte an Relevanz gewonnen. Ihre Akteur*innen verhandeln an der Schnittstelle von Bewegungspolitik und Wissenschaft die Frage danach, wie Wirtschaft und Gesellschaft ohne Wirtschaftswachstum aussehen könnten.
Mit dem im Junius-Verlag erschienenen Buch »Degrowth / Postwachstum« legen die Autor*innen Matthias Schmelzer und Andrea Vetter erstmalig einen systematischen Überblick über die vielfältigen Strömungen des Postwachstumsdiskurses vor. Das Buch spannt den großen Bogen von den verschiedensten Facetten der Wachstumskritik, die rund die Hälfte des Buches einnehmen, über den Versuch einer Definition von Postwachstum und den von der Bewegung geteilten Zielen bis hin zu konkreten Anstößen zur Realisierung einer Postwachstumsgesellschaft. Zuletzt geben die Autor*innen einen umfassenden Überblick darüber, welche Strategien bei der gesellschaftlichen Transformation hin zu einer »realutopischen« Vision zur Anwendung kommen könnten.
Vetter und Schmelzer beginnen das Buch mit einem Überblick über verschiedene Perspektiven und Argumente der Wachstumskritik. Fluchtpunkt der verschiedenen Wachstumskritiken (z.B. ökologische, feministische oder kapitalismuskritische) bildet der Zweifel am Wirtschaftswachstum als zentrales wirtschaftliches Ziel. Postwachstum stellt damit das dominante Narrativ ökonomischen Denkens und Handelns, das Wirtschaftswachstum mit Fortschritt und Wohlstandsförderung verknüpft, grundsätzlich infrage. Dabei stellen die Autor*innen klar, dass Wachstumsrücknahme nicht das politische Ziel der Postwachstumsbewegung sei. Vielmehr sehen Vetter und Schmelzer Wachstumsrücknahme als notwendig an, dafür führen sie nicht nur ökologische Notwendigkeiten wie die bisherige technische und soziale Unmöglichkeit absoluter Entkopplung im kapitalistischen System, sondern auch soziale Verwerfungen ins Feld.
Oft monieren Kritiker*innen, dass der Postwachstumsdiskurs von Kritik und Utopie geprägt sei, aber kaum konkrete Wege in eine Postwachstumsgesellschaft skizziere. Auch in diesem Buch steht zweifelsohne die Wachstumskritik im Vordergrund. Gleichwohl sammeln Vetter und Schmelzer auf rund 30 Seiten konkrete Vorschläge zum Umbau des Wirtschaftssystems, die von Anreizsystemen für sozial und ökologisch verträgliches Wirtschaften über die Ausweitung von Gemeineigentum hin zu der Einführung von Maximaleinkommen reichen. Auf weiteren 40 Seiten werden Transformationsstrategien debattiert und das Zusammenspiel von bottom-up und top-down Strategien hervorgehoben. Gemeinsames Ziel ist ein gutes Leben, das ohne einen Wachstumsimperativ auskommt und stattdessen den Fokus auf Zeitwohlstand, Gleichheit, die Aufwertung von Reproduktionsarbeit und soziale Sicherung legt, ohne die ökologischen und sozialen Kosten zu externalisieren.
Eine Postwachstumsgesellschaft möchte ein anderes System. Das heißt nicht unbedingt, dass es uns darin schlechter gehen muss. Trotzdem wird Postwachstum oft vor allem auf Verzicht und Freiheitseinbußen reduziert. Dieses Buch zeigt, dass Wachstumsrücknahme nur ein Mittel zum Zweck ist, um ein global gerechtes Wirtschaftssystem zu ermöglichen. Die Autor*innen schaffen es, die Vielfalt der Bewegungen auf ihre großen gemeinsamen Ziele zu kondensieren, aber der Vielfalt dennoch gerecht zu werden. Dem Buch hilft, dass Schmelzer und Vetter selbst an der Schnittstelle von Bewegung und Wissenschaft aktiv sind, ihre eigene Rolle darin im Buch reflektieren und dieses breite Thema strukturiert und klar aufbereiten. Das Buch bietet einen Überblick für alle, die sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Für alle anderen stellt es einen idealen Einstieg in die Materie dar und verhilft zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Postwachstum. Nach dem Lesen bleibt der Eindruck haften: TINA (there is no alternative) hat ausgedient. Eine soziale und ökologische Gesellschaft ist in naher Zukunft möglich.
Matthias Schmelzer & Andrea Vetter (2019): Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Junius-Verlag, Hamburg.
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