Wirtschaft
anders denken.

Ein ziemlich schräges Märchen

14.11.2023
Covid-MaskenFoto: Bild von jardin auf Pixabay

Die Geschichte der Maskenbetrügerin Andrea Tandler eignete sich für eine filmische Miniserie genauso, wie als Erzählung über das Versprechen eines für alle möglichen Reichtums.

Der Triggersatz – jenseits der vielen geradezu tragisch komischen Einlassungen der Angeklagten Andrea Tandler vor Gericht – fiel in einem Statement der Anwältin vor den Kameras des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Deren Mandantin habe sich, so sagte die Frau, eine Existenz aufbauen wollen. Ansonsten würden alle Anschuldigungen zurückgewiesen.

Andrea Tandler, dies zur Vorgeschichte, sitzt seit Februar wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft. Sie hatte 2020 an staatliche Stellen Maskengeschäfte in Millionenhöhe vermittelt, indem sie Deals zwischen ihrem Schweizer Auftraggeber Emix und den Gesundheitsministerien des Bundes, Bayerns und Nordrhein-Westfalens vermittelte. 8,90 pro FFP2-Maske, für Emix 700 Millionen Euro Erlös, an Tandler und ihren Partner flossen knapp 50 Millionen. Am 17. November will das Gericht ein Urteil fällen. Haftstrafe oder Freispruch.

Es wäre ganz sicher eine erstmal schöne Existenz gewesen, die sich allein aus 23,5 Millionen Euro Steuern aufbauen ließe, deren Zahlung Tandler mutmaßlich versucht hat, zu umgehen. Gegenwärtig beträgt das sächliche Existenzminimum eines Erwachsenen anerkannte 10.908 Euro und soll im kommenden Jahr auf 11.472 Euro steigen. Auf dieses Jahreseinkommen werden keine Steuern erhoben. Andrea Tandler hatte also ein Problem: Auf 49,99 Millionen ihrer aus einem glücklichen Deal hervorgegangenen Provision hätte der Fiskus zugreifen und sich seinen Anteil sichern wollen. Das aber wäre – glaubt man ihrer Anwältin – irgendwie ganz schlecht vereinbar gewesen mit dem Wunsch, sich eine solide eigene Existenz aufzubauen. Eine, von der Frau leben kann und mit der sie sich keine Sorgen mehr machen muss im Hinblick auf Miete, tägliche Suppe und sonstige Lebenshaltungskosten.

Andere Ich-AGs Existenzgründer:innen hatten und haben es da schwerer, aber das soll nicht zu Tandlers Ungunsten sprechen. Die Bundesagentur für Arbeit zahlt Menschen, die sich selbstständig machen wollen, in der ersten Phase (sechs Monate) einen monatlichen Zuschuss zum Arbeitslosengeld in Höhe von 300 Euro und in den darauffolgenden neun Monaten 300 Euro zusätzlich zur sozialen Absicherung. Allerdings steuerfrei – da sind die Leute im Gegensatz zu Andrea Tandler im Vorteil. Sie werden später wahrscheinlich nicht wegen Steuerhinterziehung vor Gericht stehen. Müssen aber den Gründungszuschuss für Phase 2 beantragen und nachweisen, dass sie hauptberuflich selbstständig sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat festgelegt, dass Steuerpflichtigen nach Erfüllung ihrer Einkommenssteuerschuld vom Rest des Erworbenen zumindest so viel verbleibt, wie zur Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen der Familie notwendig ist. Das nennt man Existenzminium.

»Die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab; diesen einzuschätzen, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Soweit der Gesetzgeber jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch staatliche Leistungen zu decken hat, darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum diesen Betrag nicht unterschreiten«, heißt es in dem Urteil im Wortlaut.

Andrea Tandler hat ausgesagt, es sei ihr niemals darum gegangen, zu betrügen, stattdessen sei halt in der hektischen und angespannten Zeit der Pandemie alles ziemlich chaotisch gewesen. Chaotisch stimmt sicher und chaotisch mag das Leben auch vielen Menschen vorkommen, die ihre Existenz mit dem zugestandenen Minimum bestreiten müssen. Im Gegensatz zu Andrea Tandler haben diese Menschen allerdings das Glück, im Übermaß kontrolliert, rechtzeitig zur Rechenschaft einbestellt und mehr als hinreichend bestraft zu werden (das nennt man Sanktionen), wenn sie sich über das Existenzminimum hinaus irgendwelche Sondervergnügen leisten. So kommen sie gar nicht erst in die Nähe des Subventionsbetruges, wie ihn Andrea Tandler in der hektischen Zeit und aus Versehen betrieben hat. Trotzdem berichtete die Zeitung mit den vier großen Buchstaben, die es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, vor zwei Jahren von einer »Jagd auf Geheim-Vermögen von Hartz-IV-Empfängern«. Das klang nach nicht angegebenen Aktiengewinnen, Erlösen aus Immobilienvermögen oder eben seltsamen Maskengeschäften in Millionenhöhe. Es stellte sich heraus, dass nur rund ein Prozent derjenigen, denen die Grundsicherung gekürzt worden war, Sanktionen erleiden mussten, weil sie Vermögen nicht angegeben hatten. Und zwar aus einer geringfügigen oder versicherungspflichtigen Beschäftigung, die sie nicht angegeben hatten. Vielleicht hatten sie den Traum geträumt, sich wie Andrea Tandler eine Existenz aufzubauen. Kleiner Seitensprung: Für Menschen, denen die Flucht nach Deutschland geglückt ist, heißt das in naher Zukunft wahrscheinlich, dass sie versuchen können, sich von Sachleistungen, Lebensmittel- und Kleidercoupons eine Existenz aufzubauen.

Auf der anderen Seite ließe sich die Geschichte von Andrea Tandler auch so erzählen: Zum richtigen Zeitpunkt die Chance erkannt, ergriffen und gehandelt. DAS macht den erfolgreichen Menschen im Kapitalismus aus, Tellerwäscher werden Millionäre, Putzfrauen gründen ein Imperium. Mit diesem unternehmerischen Mut kann jede und jeder recht schnell zum Erfolg gelangen.

Hätte Andrea Tandler die Kohle ordentlich versteuert, wäre genau dies die Quintessenz gewesen. Da sie ihren Erfolg laut Recherchen und Chatprotokollen mit ihrem Geschäftspartner und der Witwe Clicquot gefeiert haben soll, (»Veuve Clicquot« ist ein Champagner, den man gern zu besonderen Anlässen trinkt, aber ob des Preises für nur eine Flasche eher selten, wenn die Wohngeldstelle den Antrag bewilligt hat), hätte sie sich an der Unternehmerin, die von 1777 bis 1866 gelebt hat, ein Beispiel nehmen können. Mit 27 übernahm die junge Witwe den Weinhandel der Marke Clicquot ihres verstorbenen Mannes und machte ihn groß und weltberühmt. Muss viel Arbeit gewesen sein.

Was bleibt ist die ewige Frage, warum Steuerhinterziehung solch ein attraktives Geschäftsmodell bleibt, auch dann, wenn das Geld nach ordentlich abgeführten Steuern eindeutig ausreichte, sich eine komfortable Existenz aufzubauen. Die wird auch Andrea Tandler nicht beantworten können und wollen. Umso besser, dass der übergroßen Mehrheit die Verlockung, auf die hart erarbeiteten Millionen noch die paar Millionen draufzupacken, die eigentlich dem Fiskus und im besten Fall dem Unterhalt des Gemeinwesens gehören, auf immer und ewig verwehrt bleibt.

Geschrieben von:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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