Wirtschaft
anders denken.

Etappensieg gegen systemrelevante Missachtung

22.07.2022
Hände ziehen sich Einmalhandschuhe anFoto: Clay Banks

An den nordrhein-westfälischen Unikliniken wurde einen Tarifvertrag Entlastung erkämpft. Die vielen Beschäftigten der Krankenhaus-Servicegesellschaften haben davon wenig.

Elfeinhalb Wochen – so lange haben Beschäftigte der sechs Unikliniken in NRW gestreikt für den bundesweit ersten Flächentarifvertrag Entlastung bei der Arbeit in Krankenhäusern. So lange hielten zuletzt 1984 Beschäftigte der Metall- und Druckindustrie in Hessen und Baden-Württemberg einen Arbeitskampf durch. Damals ging es um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der kleinen BRD. Die wurde von der Arbeitgeberseite erfolgreich verhindert, unter anderem durch Aussperrung von 100.000 Metallarbeiter:innen. Doch während das Thema damals über Wochen die überregionale Berichterstattung beherrschte, fand der NRW-Krankenhausstreik – längster Arbeitskampf im Gesundheitsbereich seit Bestehen der Republik – jenseits der lokalen Nachrichten kaum Erwähnung.

Möglicherweise lässt sich das irgendwie psychologisch erklären, in einer Zeit, in der von steigenden Bierpreisen über Dieters Bohlens Rückkehr zu DSDS, einer dreitägigen Hitzewelle oder der möglichen Einführung eines zeitlich begrenzten Tempolimits alles im Katastrophenduktus verhandelt wird. Irgendwann ist jede:r vom Dauer-Alarmismus erschöpft. Wie Krieg und Klimakatastrophe wird der Pflegenotstand auf den stetig wachsenden Berg jener Dinge entsorgt, die angeblich nicht zu ändern sind. Außer aufpassen, dass dieser Notstand einen selbst nicht trifft: Gesunde Ernährung, Sport, private Zusatzversicherung. Neoliberales Voodoo, so verständlich wie nutzlos. Das ahnen alle, die in diesem reichen Land auch nur eine Routineuntersuchung beim Facharzt vereinbaren wollen. Umso wichtiger wäre es, sich für die tatsächlichen Ursachen des »Pflegenotstandes« zu interessieren, die anders als der Begriff suggeriert, eben nicht plötzlich und unerwartet über uns gekommen sind. Vielmehr sind sie die Folge lange zurückliegender Entscheidungen zur Profitmaximierung Weniger, auf Kosten der Gesundheit Vieler. Oder, wie es Arbeitende des Gesundheitssystems im Schwarzbuch Krankenhaus formulieren:

»Der Anreiz möglichst viele Patient:innen mit möglichst wenig Personal zu versorgen, hat Arbeitsbedingungen geschaffen, die unser aller Gesundheit gefährdet. Wir fordern daher eine gesetzliche Personalbemessung, die sich am Bedarf der Patient:innen bemisst, und ein Gewinnverbot mit unseren Krankenhäusern!«

Dass diese Forderung mit dem jetzt erzielten Tarifabschluss erfüllt wäre, behauptet niemand. Selbst die zuständige ver.di Landesfachbereichsleiterin Katharina Wesenick spricht nur von einem »wichtigen Etappensieg der Beschäftigten« der durchgesetzt werden musste »gegen die Profitlogik des Krankenhauswesens«. Eine Profitlogik, das darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, die auch den amtierenden Gesundheitsminister schon auszeichnete, bevor er SPD Mitglied wurde. Heute, in einer so durch und durch vom Profitwesen geprägten Gesellschaft, muss der erstreikte NRW Tarifvertrag Entlastung als Fortschritt gelten.

»Für weite Teile der Pflege inklusive der psychiatrischen Stationen und der Notaufnahmen wird schichtgenau das Zahlenverhältnis von Beschäftigten und Patient*innen festgelegt. Wird diese Quote unterschritten oder kommt es zu anderweitig belastenden Situationen, erhalten die Betroffenen Belastungspunkte. Für jeweils sieben Punkte wird ihnen ein zusätzlicher freier Tag als Belastungsausgleich gewährt. Im ersten Jahr der Umsetzung können bis zu elf freie Tage zusammenkommen. Im zweiten Jahr sind es 14 und ab dem dritten Jahr maximal 18 zusätzliche freie Tage.«

Ziel dieser Regelung ist nicht nur ein menschenwürdiger Umgang mit den vorhandenen Beschäftigten sondern vor allem auch die Einstellung zusätzlicher Kolleg:innen. Je mehr Geld die Überarbeitung der Angestellten kostet, desto plausibler wird auch dem Controlling die Schaffung neuer Stellen – so jedenfalls die Hoffnung. Mittlerweile gibt es allerdings schon Klinikleitungen, die zusätzliche, durch Bundesmittel – also von der Gesellschaft – finanzierte Stellen für Pflegefachkräfte auf der Intensiv-oder Kinderstation, lieber nicht annehmen. Aus Angst, sich damit auf einen Versorgungsauftrag festzulegen, statt weiterhin die volle unternehmerische Freiheit auszukosten, Personal immer da einzusetzen, wo gerade der größte Profit lockt – Operationen an alternden Füßen oder was auch immer das in Zukunft sein mag.

Dennoch: OP-Assistent:innen, Intensivpfleger:innen, oder Pflegende auf den Stationen der NRW-Unikliniken könnten also mit Umsetzung des Tarifvertrags Entlastung ab 2023 tatsächlich mit jenem Fachkräfte-Respekt behandelt werden, der für Megatroniker oder Solaranlagentechnikerinnen selbstverständlich ist. Ein Ziel, für das die Krankenhausbewegung seit einem Jahrzehnt mobilisiert und dabei in den vergangenen Jahren ausdrücklich jene Kolleg:innen einbezieht, die das Krankenhaus-Management zwecks Profitmaximierung in Tochtergesellschaften ausgegliedert hat: die Beschäftigten der sogenannten Servicebereiche. Je nach Klinik zählen dazu Küche, Reinigung, Technik, Zentralsterilisation, Patiententransport, Sicherheitsdienst, Hol- und Bringdienst, Stationsassistenz, aber auch Physio- oder Ergotherapeut:innen. Lauter Menschen, ohne deren Tun kein Krankenhaus auch nur eine Platzwunde versorgen könnte. Trotzdem arbeiten sie unter prekären Bedingungen auf juristisch fragwürdiger Grundlage im Rahmen von Werk-und Dienstverträgen. »Häufig gibt es in diesen Firmen keine Tarifbindung. Viele Beschäftige erhalten nur den Mindestlohn, oder, wie im Fall von Reinigungskräften, einen Branchenmindestlohn.« heißt es in einer lesenswerten Verdi-Broschüre zu Beschäftigten in Krankenhaus-Servicegesellschaften. Sie ist voll von anschaulichen Beispielen, wie die Ausgliederung außerdem Arbeitsabläufe verkompliziert, Behandlungen verzögert, Wartezeiten verlängert, Genesung verhindert – kurz allen im Krankenhaus das Leben schwer macht. Laut einer verdi-Umfrage unter Kolleg:innen in den Krankenhaus-Servicebereichen im Frühjahr 2021 muss jede:r Fünfte zusätzlich zum Lohn noch Sozialleistungen beantragen, weitere 23% benötigen noch einen weiteren Job, um über die Runden zu kommen.

Daraus folgt die naheliegende Forderung »Ein Krankenhaus, eine Belegschaft, ein Tarifvertrag«. Sie wird mit dem jetzt erkämpften Abschluss für die NRW-Unikliniken nicht erfüllt. Bestenfalls gibt es Vereinbarungen und Versicherungen, die Entlastungsprinzipien auch für die Beschäftigten jenseits der Pflege zu übernehmen.

Anders als beim 1984er-Streik im Metall- und Druckgewerbe funktioniert Ausgrenzung heute auch ohne Aussperrung. Das Prinzip »teile und herrsche« ist dem Neoliberalismus eben deutlich näher als »alle oder keiner« – daran ändert all das Team-Gerede noch lange nichts. Auch in der Tarifkommission, die den NRW-Tarifvertrag Entlastung verhandelt hat, weiß man von Ärzt:innen, die ihre Privilegien nicht eintauschen wollten gegen einen Situation »in der die Pfleger:innen bestimmen, welche OP’s gemacht werden«. Eine seltsam rückständige Haltung in einer Gesellschaft, die sich angeblich gerade darüber klar wird, dass jede Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Anders gesagt: Nein Herr Doktor, es ist nicht die Pflegefachkraft, sondern die Reinigungsfachkraft, die durch ihre Arbeit die tödliche Sepsis verhindert. Und es grenzt an ein Wunder, wie verantwortungsvoll sie, und all die anderen Missachteten des Krankenhauses noch immer arbeiten, obwohl der jetzt in NRW erzielte »Etappensieg« für sie eigentlich nur eine Aufforderung sein kann, zukünftig zu härteren Bandagen zu greifen. Möglicherweise war es das, was Politiker:innen der Grünen im Kölner Stadtrat fürchteten, als sie sich während des Streiks weigerten, die Forderung nach einem Entlastungstarifvertrag zu unterstützen. Mit der Begründung, damit drohe ein Dominoeffekt.

Geschrieben von:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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