Wirtschaft
anders denken.

Teilhabe, Vertrauen, Gerechtigkeit: Warum die Mindestlohn-Festsetzung politischer werden darf

04.11.2018
Lowdown , Lizenz: CC BY-SA 3.0Aus der Vorzeit des Mindestlohns: Bei einer Aktion 2007

Rufe nach einem Mindestlohn von zwölf Euro hört man inzwischen auch aus der SPD-Spitze. Schon ist von einer »Entmachtung« der zuständigen Kommission die Rede. Eine Drohkulisse, die eine stärkere und sinnvolle Politisierung der Lohnfestsetzung verhindern soll.

Sozialdemokraten, die sich für einen Mindestlohn von etwa zwölf Euro stark machen, hört man inzwischen immer öfter. Seit Bundesfinanzminister Olaf Scholz Ende Oktober in einem »Bild«-Gastbeitrag die Forderung noch einmal wiederholt hat, spitzt sich die Diskussion darüber aber zu. »Ich finde übrigens, dass 12 Euro Mindestlohn angemessen sind. Am Lohn sollten Unternehmen nicht sparen«, so Scholz darin. Kurz darauf kündigte Arbeitsminister Hubertus Heil an, bis 2020 ein neues Verfahren zur Festsetzung des Mindestlohns vorlegen zu wollen.

Zunächst einmal: Das entspricht der Rechtslage. Paragraf 23 des Mindestlohngesetzes legt lapidar fest: »Dieses Gesetz ist im Jahr 2020 zu evaluieren.« Bis dahin ist auch nicht mehr übertrieben viel Zeit, dies gilt auch deshalb, weil hier ganz direkt sehr grundsätzliche Interessen und Ordnungsvorstellungen aufeinanderprallen.

Das Problem des Nachlaufens und die Evaluation 2020

Bisher legt das Mindestlohngesetz fest, dass die festzusetzende Höhe »zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden« habe. Außerdem: »Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.« Damit sind einige Zielmarken definiert: eine materiell-soziale (Angemessenheit des Mindestschutzes), eine ökomisch-ethische (Fairness im Wettbewerb), eine arbeitsmarktpolitische (Beschäftigung darf nicht gefährdet werden) sowie, bei enger Auslegung, die Bindung des Mindestlohns an die Tarifentwicklung.

In letzterem steckt ein Problem, um das es den Sozialdemokraten nun geht: Die Tarifentgelte steigen zwar seit einiger Zeit wieder etwas stärker an, solange der Mindestlohn aber »nachlaufend« an diese Dynamik gebunden ist, wird man die Angemessenheit kaum erreichen. Für diese wiederum lassen sich soziale und Gerechtigkeitsargumente anführen, mit denen man sogar noch klar über zwölf Euro beim Mindestlohn landen müsste.

Dagegen wenden sich nicht nur die Unternehmenslobbies, sondern auch ein Teil der Ökonomen und der mit deren Grundüberzeugungen sympathisierende Sektor der Politik. Die »Frankfurter Allgemeine« beklagte bereits mit Blick auf den jüngsten Anhebungsvorschlag, die Gewerkschaftsvertreter hätten »eine deutlich stärkere Erhöhung gegen die Arbeitgeber durchsetzen« wollen.

Sie scheiterten damit aber, und man kann annehmen, dass entscheidend dafür weniger ökonomische oder soziale Argumente waren, sondern formale. Kommissionsmitglied Clemens Fuest vom ifo-Institut illustriert diese Nein-Position so: »Die Mindestlohnkommission soll nur dann empfehlen, davon abzuweichen, wenn es dafür triftige Gründe gibt, beispielsweise eine schwere Wirtschaftskrise. Das ist derzeit nicht der Fall, deshalb steigt der Mindestlohn so wie die Tariflöhne.« Ab 2019 liegt der Mindestlohn bei 9,19 Euro brutto pro Stunde, ab 2020 bei 9,35 Euro.

Wie kommt man zu einer deutlichen Steigerung?

Die Sozialdemokraten haben jedenfalls erkannt, dass im Zuge der Überprüfung des Gesetzes auch die eingebauten Hürden für eine stärkere Anhebung vermindert werden könnten. SPD-Mann Heil hat es direkt ausgesprochen, es gehe darum »zu klären, wie wir ab 2020 zu einer deutlichen Steigerung des Mindestlohns kommen«. Dies zielt auf das Verfahren, denn eine Abkürzung zu einer höheren Lohnuntergrenze gibt es derzeit nicht.

Die ersten Echos auf den Vorstoß der SPD in dieser Sache fielen sehr unterschiedlich aus. Von links wurde erklärt, eine Anhebung in den Bereich von zwölf Euro werde mit der Union ohnehin nicht zu machen sein, weshalb die SPD die GroKo platzen lassen müsse – womit aber der gesetzliche Rahmen zur Mindestlohnfestsetzung noch nicht aus der Welt wäre. »Warum spitzt der Vizekanzler nur die Lippen und pfeift nicht?«, zitiert eine Zeitung den DGB-Vorstand Stefan Körzell, der Mitglied der Mindestlohnkommission ist: Wenn Scholz zwölf Euro wolle, solle er das durchsetzen.

Nur wie? Auch in einem solchen Fall, andere Mehrheiten einmal vorausgesetzt, wäre das Verfahren ja noch gültig. Gegen eine Änderung stemmen sich nun die üblichen Verdächtigen: Unternehmenslobby, der so genannte Wirtschaftsflügel der Union, die FDP (siehe etwa hier) und jener Teil des Kommentariats, der die Interessen des Kapitals fälschlicherweise für die Interessen der Gesellschaft hält. »Lohn nach Lau­ne des­sen, der re­giert?«, schreibt Heike Göbel in der FAZ. »Die SPD rührt an ei­nem Pfei­ler der Markt­wirt­schaft.« Schon treffend, dass hier das sonst gebräuchliche Beiwort »soziale« fehlt. Unter Verweis auf dieses argumentiert in die andere Richtung unter anderem der Sozialverband SoVD.

Schon wieder Warnungen vor Arbeitsplatzverlusten

Ein wenig erinnert die Debatte an jene vor der Einführung des Mindestlohns. Was wird da an die Wand gemalt? Da wäre erstens ein zu starker Einfluss der Politik auf die Lohnfestsetzung, was mal ordnungspolitisch beklagt, mal als sozialer Populismus und Stimmenfang gegeißelt wird. In Zeitungen und diversen Wirtschaftsforschungsinstituten hört man: »Bei einer stärkeren Erhöhung oder bei einem Wirtschaftsabschwung kann es durchaus zu Arbeitsplatzverlusten kommen.« Auch dieser Tenor ist noch aus den Debatten um die Einführung im Ohr.

Von der anderen Seite wird unter anderem mit dem Hinweis darauf reagiert, dass der Mindestlohn in der gegenwärtigen Höhe viel zu niedrig ist – etwa um eine Alterssicherung damit aufzubauen. Viel zitiert wird die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion, laut der für eine Nettorente oberhalb dieses Grundsicherungsniveaus »bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung hinweg« derzeit »rechnerisch ein Stundenlohn von 12,63 Euro erforderlich« wäre, lässt man andere Optionen der zusätzlichen Altersvorsorge außen vor, die sich im Niedriglohnbereich ohnehin nicht viele leisten können.

Damit wird ein Indikator für die »Angemessenheit« ins Spiel gebracht; es gibt aber noch andere. Unlängst hat Günter Schmid auf die gerechtigkeitspolitische Dimension des Mindestlohns hingewiesen, »die Beurteilung, ob ein Mindestlohn ›gerecht‹ ist«, müsse »neben der Beschäftigungswirkung auch nichtökonomische Dimensionen des Lohnes wie politische Teilhabe und Vertrauen einbeziehen«. Diese soziale Dimension der Entlohnung sei »wiederum eine der Ursachen dafür, dass die Höhe des Mindestlohns selbst seine Voraussetzung schaffen kann, nämlich eine nachhaltige Erhöhung der Produktivität durch die Bereitschaft zur Kooperation«. Schmid spricht von einem »Ruck solidarischer Leistungsbereitschaft, die ein anonymer Marktlohn nie und nimmer vermitteln kann«.

Auch eine Frage der »Verfahrensgerechtigkeit«

Da mag aus anderer Perspektive kritischer gesehen werden, man kann hier als Beispiel zu Karl Marx und der Frage des »gerechten Lohns« zurückgehen. »Die Antworten auf diese ›Frage‹ liefen darauf hinaus, die Arbeiter durch soziale Sicherungen ins kapitalistische System einzubinden oder alle sozialen Probleme durch die Beseitigung des Kapitalismus zu lösen«, so formulierten es Gilles Campagnolo und Thomas Marxhausen im entsprechenden Stichwort des Historisch-Kritischen Wörterbuches des Marxismus. Der Alte aus Trier habe »Alltagsvorstellungen von kapitalistischer Verteilungs- und Lohngerechtigkeit« ebenso zurückgewiesen »wie die Verneinung von partiellen und temporären Verbesserungen der sozialen Lage des Proletariats«.

Schmid knüpft seine Überlegungen über einen »gerechten Mindestlohn« eher an gerechtigkeitstheoretische und ökonomisch-philosophische Schulen von John Rawls, Ronald Dworkin und Amartya Sen an. Ein wichtiger Punkt bei der ganzen Sache sei die »Verfahrensgerechtigkeit«, so der frühere Professor der Freien Universität Berlin und emeritierte Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin. Man solle »den Tunnelblick auf die Beschäftigungswirkung hinter sich« lassen und »die gesellschaftspolitischen Dimensionen der Entlohnung stärker« einbeziehen. Schmid breitet dazu einige Überlegungen zum Konzept eines »Lebenslohns« aus. Entscheidend für das hier angesprochene Thema ist aber seine Forderung, »die demokratische Beteiligung bei der Festlegung des Mindestlohns zu erweitern. Nur so kann die gesetzliche Auflage einer ›Gesamtabwägung‹ und der ›Angemessenheit‹ eines Mindestschutzes« gewährleistet werden.

Womit wir wieder bei der Debatte um die Evaluierung des Mindestlohngesetzes und das Verfahren zur Festsetzung der Lohnuntergrenze wären. Schon vor ein paar Monaten hat Reinhard Bispinck, der langjährige frühere Leiter des WSI-Tarifarchivs, dazu geraten, »die kommenden zwei Jahre sollten genutzt werden, um die Mindestlohndebatte in diesem Sinne voranzutreiben«. Die Verteilungsfrage sei »zurück auf der politischen Agenda. Der nach wie vor große Niedriglohnsektor, die anhaltende soziale Spaltung und die um sich greifende soziale Unsicherheit haben in der Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen. Die Bereitschaft, neue und weiterreichende Lösungen zur Bewältigung der sozialen Probleme in Betracht zu ziehen, ist zweifellos gewachsen.«

Zu viel Politik? Im Gegenteil

Eine Reform der Verfahrensregeln für die Mindestlohnfindung wären hier nicht nur ein Beitrag, sondern sind auch eine Messlatte, an der die Bereitschaft der SPD geprüft werden wird, bei dem Thema ernst zu machen. Die Warnungen vor »zu viel Politik« bei der Festsetzung der Lohnuntergrenze sollten die Sozialdemokraten nicht scheuen – es gibt bessere Argumente. Die Findung in der Kommission dürfe nicht »zu einem bloßen rechnerischen Algorithmus verkommen, in dem öffentliches Räsonieren, über die dominierenden Tarifparteien (führende Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) hinausgehende Interessen oder wissenschaftliche Erkenntnisse etwa zur Verteilungswirkung keine Rolle mehr spielen«.

Auch wäre es wohl sinnvoll, das Parlament in die Debatte stärker einzubeziehen, »nur so kann die ebenfalls im Mindestlohngesetz erwähnte Formel einer ›Gesamtabwägung‹ gewährleistet werden«, die über den Tellerrand der Tarifentwicklung blicken müsste. Entscheidend sei, »dass sowohl die ›Angemessenheit‹ eines Mindestschutzes als auch die ›Fairness‹ im Wettbewerb im Sinne der Verfahrensgerechtigkeit nur durch eine laufende und umfassende demokratische Debatte zu legitimieren sind«. Die SPD scheint nun bereit, diese Debatte anzustoßen. Wird sie auch geführt?

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