Tempolimit als Gängelung? Die Freiheit, die sie meinen
Wenn in Deutschland über ein generelles Tempolimit auf Autobahnen diskutiert wird, steht das große Ganze auf dem Spiel. Mindestens. Die Argumente der Befürworter vernünftiger Regeln werden mit dem Hinweis auf eine »höhere Instanz« abgetan: die Freiheit.
Der Verkehrsminister fordert das Ende »ständiger Gängelung« und sagt: »Das Prinzip der Freiheit hat sich bewährt.« Die CDU-Vorsitzende sieht bloß eine »Phantomdebatte« und meint, diese würde befeuert von Leuten, die Bürger »quälen und bestrafen« wollten. Der Chefredakteur verteidigt die »Freiheit auch auf deutschen Autobahnen« gegen »die Liebe zum Verbot« mit einem Rundumschlag gegen die »auserwählte Moral«.
Wenn Deutschland über ein generelles Tempolimit auf Autobahnen diskutiert, steht das große Ganze auf dem Spiel. Mindestens. Eine deutsche »Lebensart« wird als bedroht hingestellt, die ziemlich viele Tote produziert. Und die nach allgemeiner Erkenntnis nicht gut für die Umwelt und also klimaschädlich ist. Beides ist im Grunde unbestritten, wo die Minderung der Emissionen als »nur gering« und die Reduzierung der Verkehrsopfer als nebensächlich behauptet wird, weil woanders auch Leute durch Automobilismus sterben, wird empirische Evidenz einer »höheren Instanz« untergeordnet: der Freiheit.
Aber was ist das für eine Begriff der »Freiheit«, zu deren Verteidigung da schwere Geschütze aufgefahren werden? Das bleibt in aller Regel offen und vage, aber Mutmaßungen dürfen erlaubt sein. Wenn Andreas Scheuer sagt, »wer 120 fahren will, kann 120 fahren. Wer schneller fahren möchte, darf das auch«, lässt sich eine Idee unbegrenzter, undeterminierter Freiheit erahnen, die von keinerlei Bindung begrenzt, von keinerlei Verpflichtung eingehegt ist – sondern nur dann »Freiheit« sieht, wenn jeder selbst wählen kann, wie es ihm beliebt.
Willkürfreiheit gegen aufgeklärte Freiheit
Man kann auch von einer Freiheit des laisser faire, von einer Willkürfreiheit (Kant) sprechen, die vor allem »durch sinnliche Antriebe« motiviert ist. Rasen, Rausch der Geschwindigkeit und so weiter. (Um schnelleres Ankommen am Zielort geht es offenbar nicht, das zeigt der regelmäßige Hinweis darauf, dass wegen Baustellen und bereits bestehenden Streckenabschnitten mit Tempolimit die durchschnittliche Geschwindigkeit ohnehin schon »begrenzt« sei.)
Eine solche Freiheit erkennt offenbar nicht, dass aufgeklärte Freiheit eine Selbstbegrenzung der Freiheit aus Freiheit und um der Freiheit aller willen braucht. Zu letzterer gehört zum Beispiel die Freiheit, nicht von einem Raser getötet zu werden. Man könnte auch von einer bindungswilligen Freiheit sprechen, einer also, die deshalb nach ihrer eigenen Begrenzung durch Vorschriften und sogar Verbote verlangt, weil nur so die Bedingungen aufrechterhalten werden können, unter denen Freiheit möglich wird.
Zu diesen Bedingungen gehört die »Ökologie der Existenz«, also die Erhaltung aller Voraussetzung von Gesellschaftlichkeit überhaupt. (Früher hieß das auch Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, der Gedanke wurde leider von Kräften zuschanden geritten, die mit Freiheit in der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht viel im Sinn hatten.)
Wenn sich gegen den – ebenfalls im Grunde unbestrittenen – Zusammenhang zwischen Raserei und klimaschädlichen Emissionen durch ein Tempolimit auch nur ein Bruchteil der ökologischen Folgen des Autofahrens mindern lassen, wäre eine solche Einschränkung der Freiheit des Fahrers ein Akt der Freiheit, da das Tempolimit die Voraussetzungen des Menschseins erhält, und damit die Voraussetzungen von Freiheit. Bernd Ulrich hat die Gegenargumente schön als »das Reklamieren von ökologischen Sonderverschmutzungsrechten« bezeichnet, das nicht liberal sondern feudal sei.
Materielle Voraussetzungen von Freiheit
Statt einer anarchistisch anmutenden Idee von Autonomie, die sich im Ruf gegen das Tempolimit äußert, orientiert sich solcherart verstandene Freiheit an der vernünftigen Überzeugung, dass die Einschränkungen eigener Freiheit notwendig für Freiheit ist – die der anderen etwa, indem nur Handlungen als »frei« erachtet werden, die mit deren Freiheit verträglich sind; und solche der Freiheit generell, weil jeder das Recht auf die gleiche Freiheit hat. Einschränkungen der Freiheit sind also keineswegs per se Akte gegen die Freiheit.
Soweit eine, wenn man so will: liberale Betrachtung der Freiheit in Zeiten aufgeregter Tempolimit-Debatten. Es kommt eine zweite Dimension dazu, eine die stärker mit den materiellen Voraussetzungen von Freiheit zu tun hat. Niemand wird leichtfertig behaupten, dass Raserei auf der Autobahn eine Angelegenheit höherer Einkommensklassen ist. Und doch wird es jetzt »sozial«: Die Tatsache, dass es ökonomische Voraussetzungen für das Schnellfahren auf Autobahnen gibt, die wiederum mit den ökonomischen Voraussetzungen der Freiheit anderer zu tun haben, lässt sich schwerlich bestreiten.
Die sich breit durchs Land ziehenden Asphaltpisten müssen gebaut werden, dies wirkt sich auf die Ressourcen aus, die für andere Mobilitätsarten zur Verfügung stehen. Eine Wirtschaftspolitik, die eher der Modellstrategie deutscher Autokonzerne folgt als einem gesellschaftlichen Interesse an Mobilität, trägt hier zur Asymmetrie bei. Dahinter steht eine Idee ökonomischer Steuerung, die ihrerseits noch an anderer Stelle in der Lage ist, Freiheit einzuschränken – etwa die der Beschäftigten in anderen europäischen, weniger auf Export und Standortkonkurrenz zurecht getrimmten Ländern.
Negative Freiheit, positive Freiheit
Wer aus ökologischen oder humanistischen Gründen für ein Tempolimit plädiert, dem wird man also schlechterdings vorwerfen können, ein Ächter der Freiheit zu sein – eher scheint dies doch bei denen der Fall, die nun ganz hektisch die Freiheitsfahne schwenken. Selbstverständlich gehört zur Freiheit auch, das Recht des Einzelnen vor der Einmischung in sein Leben durch andere und den Staat zu verteidigen. Dies findet seine Grenze aber dort, wo es die Freiheit und die Freiheit anderer einschränkt.
Eine negative Freiheit zu verteidigen, also die Freiheit vor autoritärer Zumutung, Gängelei, staatlichem Übergriff und so fort, ist das eine. Eine positive Freiheit anzustreben, etwas nächstes, damit Zusammenhängendes: für materielle Verhältnisse zu sorgen, in denen alle unter den gleichen Voraussetzungen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven entscheiden. Die Demokratie ist dafür eine großartige Sache, die politische Freiheit auf die soziale Freiheit angewiesen.
Könnte es sein, dass jene, die hier nun »Gängelung« rufen und gegen die »Liebe zum Verbot« ziehen, genau das zu blockieren trachten? Ist die Frage der Raser-Freiheit eine, die deshalb so engagiert verteidigt wird, weil dahinter ein individualistischer Freiheitsbegriff steht, einer, der von den gesellschaftlichen und ökologischen Bedingungen von Freiheit absieht, die nur dann ist, wenn sie Freiheit aller sein kann? Oder anders gesprochen: Ist die Freiheit, die sie meinen, womöglich gar keine?
(Der Autor teilt sich mit anderen ein Auto, fährt mitunter Autobahn, ist aber das, was man einen Angsthasen nennen könnte, weshalb er meist rechts und ohnedies unter 120 fährt.)
Foto: Bahnfrend / CC BY-SA 4.0
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