Wirtschaft
anders denken.

Die Wege kreuzen sich

09.06.2023
Im Tourismusl-Hotspot Griechenland treffen Flüchtige auf Uraluber:innen.Foto: Jim Black

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Tourismus: In Urlaubsegionen treffen häufig Reisende und Migrant:innen aufeinander. Dies führt zu unerwarteten Begegnungen, aber auch zu Konflikten

Sie wurde gewerkschaftlich hart erkämpft: die vom Recht auf Urlaub gerahmte Auszeit von der Arbeit. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der Nachkriegszeit boomte bald auch die klassische Urlaubsreise. So fuhr etwa die Belegschaft deutscher Autohersteller seit den 1960er Jahren mit Kind und Kegel an die Riviera, bald als Teutonengrill benannt, und ließ dort Hotels und Campingplätze boomen. Bildungsbürgerliche Reiserouten kreuzen eher historische Stätten, Bauwerke und Kriegsdenkmäler oder verlaufen entlang der Pfade (vor-)kolonialer Entdeckungsreisender von Rom bis Bamako, von Madrid bis Mexiko, oft auf den Spuren versunkener Zivilisationen. Oder auf der Suche nach dem naturromantischen Leben in vermeintlich weniger zivilisierten Gesellschaften, die einen Gegenentwurf zum eigenen durchrationalisierten Tun darstellen, zum Streben nach Besitz. Das Reisemotiv wird genährt von einer unbestreitbaren Sehnsucht nach dem authentischen Anderen.

Von Hans Magnus Enzensberger auch als »Flucht aus dem Alltag« bezeichnet, hat die Reise zum Zwecke der entschleunigten Erholung oder erlebnisdichten Abwechslung vom verregelten Lohnarbeitsleben eine eigene Kulturgeschichte hervorgebracht. Dazu gehören die von den Backpackern fernab des touristischen Alltagsgeschäfts in Pionierarbeit erschlossenen »letzten Paradiese«, die für die Menschen vor Ort längst keine mehr sind, und eine durch den Tourismus erschaffene Infrastruktur, die dafür sorgt, dass europäische Reisende in der Ferne nicht auf den heimischen Luxus von Sicherheit, medizinischer Versorgung und kulinarischer Gewohnheit verzichten müssen. Hinzu kommt eine ganz eigene Architektur entlang der Reiserouten und Orte des Verweilens: Unterkünfte, Hotelburgen, Bahnhöfe, Luxuszüge, Kreuzfahrtschiffe, Erlebnisparks und Wellnesslandschaften. Aber auch die Grenzstationen entlang von Verkehrsrouten. Häfen und Flughäfen mit den vorgeblich zur Sicherheit aller Passagiere integrierten Kontrollposten sind vom Tourismus mitgeprägt. So wurde der Ausbau der Infrastruktur für die Passkontrollen in Kuba und Kenia gewissen Sicherheitsstandards der Herkunftsländer zahlungskräftiger Reisegruppen aus dem Globalen Norden angepasst. Nicht wenige wirtschaftlich schwächere Länder, die auf Ferntourismus als Devisenbringer setzen, mussten dafür teure Kredite aufnehmen, um die internationalen Reiseveranstalter weiterhin in ihre Destinationen ziehen zu können.

Zunehmend bewegen sich entlang all dieser Routen und Stationen auch Personen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen unterwegs sind: Geschäftsreisende, Wanderarbeiter:innen, Migrant:innen, Geflüchtete, Menschen auf der Rückkehr und solche auf Familienbesuch. Ihre Wege kreuzen sich entlang der Passagen und an Grenzposten mit denen der Urlaubsreisenden. Die Kontaktzonen sind prädestiniert für unerwartete Begegnungen, oft auch für Konflikte. Hier kann es leicht zu Irritationen oder gar Konfrontationen kommen. Etwa, wenn ehemals Vertriebene an Gedenkstätten ihrer verstorbenen Vorfahren trauern, während Backpacker für ihre »Ich war da«-Selfies posieren. Entsprechende Konflikte sind bekannt, ob von den Killing Fields des Pol-Pot-Regimes der Roten Khmer in Kambodscha oder den Stelen des Holocaust-Denkmals in Berlin. Besonders unschön ist es, wenn Flüchtende und Migrant:innen an touristischen Sehnsuchtsorten stranden – tot oder ausgezehrt – und die »Illusion vom Paradies stören« – oder gar die aus ihr erhofften finanziellen Gewinnerwartungen der Tourismusindustrie. Das war zum Beispiel der Fall, als die ersten Leichen afrikanischer Migrant:innen an den südspanischen Küsten von Gibraltar auftauchten, später auch in den Gewässern der Kanaren. Oder an den Stränden auf den Andamanen im Indischen Ozean, wo Boatpeople aus dem autoritären Myanmar angeschwemmt wurden. Oder als auf den griechischen Inseln Chios und Lesbos syrische, afghanische und pakistanische Kriegsflüchtlinge leerstehende Pensionen als vorübergehende Bleibe nutzten. Und auch, als einzelne Hotels in Deutschland im sogenannten Flüchtlingssommer 2015 zu Unterkünften für Geflüchtete umfunktioniert wurden. Kurzfristig wurde dann die nicht geplante Begegnung von Urlaubsreisenden, Geflüchteten und Migrant:innen zum Stoff für mediale Aufmerksamkeit. Bis dahin dachte kaum jemand Tourismus, Flucht und Migration zusammen. Dabei werden diese gesellschaftlichen Phänomene durchaus auch von einer gemeinsamen Kraft getrieben: dem Kapitalismus. Ob das ausgeübte Recht auf Freizeit und Urlaub vom Arbeitsleben oder der Aufbruch aus untragbaren Armutsverhältnissen und die Wanderungsbewegungen Richtung USA oder Europa, die ursächlichen strukturellen Beweggründe von Migration und Tourismus sind an kapitalistische Triebfaktoren geknüpft.

Zahlreiche Migrant:innen reisen als (billige) Arbeitskräfte in Urlaubsorte, vielerorts sorgen sie im Backstage-Bereich der Hotelburgen als Küchen- oder Reinigungskräfte für einen reibungslosen Ablauf. Offensichtlich wird das privilegierte Reisen, das fast immer unter dem Freizeit-statt-Arbeit-Nexus steht, vielerorts durch Formen migrantischer Arbeit ermöglicht, die unsicher, prekär, informell und manchmal nicht legal abgesichert sind. In Dubai und Macao wäre der Tourismus als wesentlicher Devisenbringer ohne migrantische Arbeitskräfte gar nicht aufrechtzuerhalten.

Sobald die migrantischen Kräfte aus dem unsichtbaren Bereich heraus in die sichtbare Komfortzone der Tourist:innen dringen, reiben sich daran Dritte: informelle Stand- und Straßenhändler, die Badetücher, Taschen und Souvenirs verkaufen, werden vielerorts durch Sicherheitskräfte davon abgehalten, ihre Ware nahe der Hotelstrände anzubieten. Das Argument der Belästigung gereicht der Küstenpolizei zu Razzien gegen migrantische Straßenverkäufer:innen, die schlimmstenfalls eines nicht legalen Status überführt werden. Sicherheitskräfte vertreiben »Beach Boys«, die sich als lokale Guides ein wenig Taschengeld verdienen wollen. Konflikthafte Kontakte reproduzieren leicht auch rassistische Blicke auf die Anderen und bedienen postkoloniale Bilderwelten. Wenn Folkloretänzerinnen, Masseurinnen und Souvenirhändler in tropischen Hotelsettings abgelichtet werden, wenn die einen bedienen, in teils lächerlichen oder folkloristischen Uniformen, und die anderen den Luxus einer daheim kaum zugänglichen Klassengesellschaft genießen, reproduzieren sich postkoloniale Settings im Gedächtnis aller Beteiligten.

Die oft schrägen Begegnungen, die sich in der Kontaktzone zwischen Urlaubsreisenden und Geflüchteten ereignen, sind primär Ausdruck der Ungleichheit an Chancen, an der unterschiedlichen Handhabung des Rechtes auf Freizügigkeit, die Menschen in Bewegung je nach Herkunft einschränkt oder privilegiert. Schon deshalb haben Urlaubsreisen mit der Bewegung von Menschen auf der Flucht oder der Suche nach einer neuen Existenzgrundlage auf den ersten Blick nichts gemein. Wenngleich auch sie – bei aller Unterschiedlichkeit der Gründe des Aufbrechens – meist auf der Suche nach einem besseren Leben sind und durchaus touristische Momente erleben. Die einen wollen der Routine entkommen, die anderen suchen darin Sicherheit. Das Betreten der Sehnsuchtsräume bleibt jedoch an diverse Eintrittsbedingungen geknüpft. Dabei sind die Deutschen 2023 nach dem Passport-Index im Besitz eines der »mächtigsten Reisepässe der Welt«. Der garantiert die visafreie Einreise in 131 Länder, weitere 42 erteilen ein Visum direkt am Flughafen, für nur 25 Länder ist ein Vorab-Visum erforderlich. Das Schlusslicht hingegen, ein afghanischer Reisepass, erlaubt eine visafreie Grenzpassage für nur 5 Länder, für 160 Länder benötigen Afghan:innen ein Visum.

Die Privilegien der Freizügigkeit sind ungleich verteilt. Während europäische Tourist:innen mit einem Visum nahezu jede Grenze überqueren können, sind für afrikanische Migrant:innen die Hightech-Grenzzäune in Melilla und Ceuta oft tödlich. Für sie liegt zwischen dem Diesseits und Jenseits der Grenze ein Abenteuer der anderen Art, oft ein entwürdigendes, Jahre dauerndes und möglicherweise erfolgloses Ringen um einen legalen Aufenthalt. Der 2015 in Athen und Barcelona auf Hauswände gesprayte Tag »Tourists go home – Refugees welcome« bringt das Konfliktpotenzial zum Ausdruck. Über die missliche Lage migrantischer Arbeitskräfte (meist Frauen) aus Myanmar in thailändischen Hotels, erfuhr die Öffentlichkeit erstmals nach dem Tsunami, als klar wurde, ohne Visum und ohne Aufenthaltsgenehmigung war ihnen der Heimweg versperrt und sie fristeten ein Leben in einer humanitären Katastrophe, die sich durch ihren prekären Status nochmals verschärfte. Wem im Falle einer Katastrophe als Erstes geholfen wird, zeigte sich ebenso nach den Terroranschlägen auf Hotels in Tunesien oder Sri Lanka. Lokale Arbeitskräfte, und erst recht migrantische, genießen nicht den Schutz und die Hilfe, die den werten Reisegästen zukommt.

Das Konfliktpotenzial des zeitlichen und räumlichen Nebeneinanders der Urlaubs- und Freizeitwelten auf der einen und der provisorischen Existenzbedingungen der Geflüchteten auf der anderen Seite äußert sich im Flüchtlingssommer 2015 in kaum haltbaren Prognosen über mögliche Verluste. So befürchtete 2015 CNN, die Berichte über »Flüchtlingsströme« in Europa könnten US-amerikanische Tourist:innen vom Buchen einer Europareise abhalten. Tatsächlich brach der Tourismus in Sri Lanka, der dort als zweitwichtigster Devisenbringer gilt, nach einem Anschlag auf ein Hotel 2020 komplett ein. Internationale Urlaubsreisende sind flexibel, denn Sonne, Sand und See haben viele Länder zu bieten. Touristische Destinationen hingegen können mit einem plötzlichen »Zu viel« oder »Zu wenig« an Reisegästen nicht so unbedarft umgehen.

Die Zahl der Studien zu den Verflechtungen hat seit 2015 weltweit zugenommen. Dennoch muss man von einem Nischenbewusstsein sprechen. Kaum ein touristischer Anbieter setzt sich mit dem Beziehungsgeflecht zwischen Tourismus und Migration auseinander. Dabei befinden sich die Parallelwelten derer, die auf der Flucht sind und derer, die Urlaub machen, vielerorts in großer räumlicher Nähe, nicht nur auf Lampedusa oder Lesbos. Auch auf Mayotte oder den Malediven sind finanziell gut ausgestattete Reisende mit Rückflugticket und Reiseversicherung in kaum vermeidbarem Kontakt mit Migrant:innen, die aufgrund ihrer Armut festsitzen. Ob in einem All-inclusive-Hotel, etwa an der Küste Thailands, oder bei einer geführten Gipfelbesteigung im Himalaya, fast überall reichen arbeitende Migrant:innen und Urlaubsreisende sich die Hand: Die einen bereiten das Essen und die Betten, tragen Gepäck und Proviant, die anderen dinieren und posieren für ihre Instagram-Stories.

Längst hat auch die Welttourismusorganisation UNWTO – ein von Tourismusministerien und der wirtschaftlichen Branche dominierter Verband – ihr Interesse an dem Verhältnis von Tourismus und Migration bekundet und sich diesem statistisch genähert, nicht zuletzt, um im Zuge der Ausrichtung der politischen Leitlinien an Nachhaltigkeitskriterien gut dazustehen. So soll laut UNWTO die Armut der einen durch das Reisen der anderen gelindert werden. Und in der Tat sind viele Staaten und Regionen wirtschaftlich so abgehängt oder international desintegriert, dass die touristische Vermarktung ihrer Natur und Kultur eine zwar riskante, aber oft hoffnungsvolle Option bleibt.

Mit dem Hashtag #BCNAgainstTourism, plakatiert auf Hauswände und Zugstationen, machte eine tourismuskritische Initiative in Katalonien dieses Frühjahr auf die fortschreitende Gentrifizierung durch den Tourismus in Barcelona aufmerksam. Mit Blick auf die dortige Wohnungsnot und steigende Mieten bei gleichzeitig florierenden Hotelimmobiliengeschäften und Airbnb-Vermietungen ist es nachvollziehbar, dass nicht jede Form von Tourismus bei allen willkommen ist. Wenngleich in dem Aufruf herrschende Ungerechtigkeiten in platter Weise auf die Figur des Touristen projiziert werden, ist der Einfluss des Tourismus als Wirtschaftssektor auf das Leben in der Stadt nicht zu leugnen.

Eine andere Frage ist doch, welches solidarische Potenzial sich durch das Privileg derjenigen ergibt, die Menschen ohne Freizügigkeitsprivileg auf ihren Reisen begegnen. Ob Geflüchtete, die in privaten Segelbooten mitreisen, Hotelbesitzer, die in einer Flüchtlingskrise ihre Räume für die Nothilfe zur Verfügung stellen, Taxifahrerinnen und Frachtschiffe, die blinde Passagiere mitnehmen, oder Grenzgänger, die auf alten Fluchtrouten mit Migrant:innen über innereuropäische Grenzen spazieren gehen, ohne dafür Geld zu wollen. Es gibt durchaus singuläre Momente und Wegabschnitte, in denen solidarisches Handeln möglich ist. Wenngleich der legale Rahmen eng ist, scheint das Potenzial dafür doch groß. Das sagen schon die Zahlen: Derzeit sind mit 100 Millionen Personen weltweit so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht. Demgegenüber wurden laut Tourismusausschuss der OECD im Jahr 2019 allerdings auch satte 1,5 Milliarden grenzüberschreitende Reisen getätigt.

Geschrieben von:

Martina Backes

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