Wirtschaft
anders denken.

Träume, Erfolge, Niederlagen: Was man aus der Geschichte der Berliner »Mieterkämpfe« lernen kann

30.08.2018

Von den Blumenstraßenkrawallen 1872 über die Westberliner Besetzungen bis zum Schwarzwohnen in der DDR: Ein Sammelband gräbt die Erfahrungen vergangener Auseinandersetzungen um Wohnraum für die Mieterkämpfe von heute aus. 

Ferdinand Hartstock hatte seit seiner Kindheit in der Blumenstraße 51c in Berlin gewohnt. Dann kam der 25. Juli 1872 und der Tischler wurde aus seiner Wohnung nahe dem heutigen Strausberger Platz in Friedrichshain zwangsgeräumt. Der Vermieter schob die Aufnahme eines Untermieters als Begründung vor, »allerdings dürfte das nur ein Vorwand gewesen sein«, schreibt Axel Weipert über den Fall – »vielmehr sah er wohl eine günstige Gelegenheit, die Wohnung zu einem höheren Preis neu vermieten zu können«.

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Der Rauswurf des Ferdinand Hartstock liegt viele Jahre zurück und doch klingt der Fall überaus aktuell. Angespannte Wohnsituation, steigende Mieten, Zwangsräumungen – das ist nicht nur im Berlin des Jahres 2018 Alltag. Immer mehr Menschen können sich einen innerstädtische Lebensort kaum noch leisten. Die »neue Wohnungsfrage« ist eigentlich eine ziemlich alte. Und wie schon vor 146 Jahren wächst der Widerstand gegen Verdrängung, Mietenwahnsinn und die soziale Spaltung der Städte.

Schon kurz nach Hartstocks Exmittierung hatten sich 2.000 Bewohner des Viertels versammelt und gegen die Behandlung des Tischlers protestiert, bis zum Abend hatte sich die Menge verdoppelt, Polizei zog auf, es kam zu den so genannten Blumenstraßenkrawallen. Weil ausgerechnet einen Tag nach Hartstocks Rauswurf auch noch der Abriss provisorischer Armenbehausungen vor der Stadt begann, wurde der Aufschrei im Viertel östlich des Alexanderplatzes immer lauter. Arbeiter strömten dazu, die Polizei schlug auf die Menge ein, es flogen Steine. 

102 verwundete Beamte, 159 durch Polizeisäbel verletzte Demonstranten, Dutzende Verhaftungen, ein Großprozess wegen Landfriedensbruchs – Weiperts Rückschau findet sich in einem aktuellen Band über Mieterkämpfe in Berlin. Die von Philipp Mattern herausgegebene und im Berliner Verlag Bertz + Fischer erschienene Textsammlung überblickt eine historisch recht weite Zeit vom Kaiserreich bis heute.

Diese Stadt wurde niemals nur passiv bewohnt

Es soll dabei aber nicht bloß um Rückblick gehen, schon gar nicht um Historisierung oder Mythenbildung. Sondern darum, »die Erfahrungen vergangener Auseinandersetzungen um Wohnraum« für die politischen Debatten von heute nutzbar zu machen. Die Geschichte von Mieterkämpfen, das ist der Ausgangsgedanke des Bandes, finde viel zu wenig aktuelle Beachtung. »Zu Unrecht«, so Mattern, »die MieterInnen Berlins haben diese Stadt niemals nur passiv bewohnt, sondern sie traten stets als Subjekte in Erscheinung«. Das Buch beansprucht gewissermaßen »Grabungscharakter«, um die verschüttete Erinnerung »an die Politisierung der Wohnungsfrage von unten« ans Licht zurückzuholen.

Der Sammelband setzt dabei eine publizistische Arbeit fort, die in der Zeitung der Berliner Mieter-Gemeinschaft in den vergangenen Jahren in loser Beitragsfolge schon begonnen wurde. Texte über die Mietstreiks der Weimarer Republik, den Widerstand gegen die Sanierungspolitik West-Berlins, die Stadtteilorganisierung im Märkischen Viertel, die Instandbesetzungsbewegung der 1980er und 1990er Jahre oder Kämpfe migrantischer MieterInnen versuchen Fragen zu beantworten, die nicht bloß für den Rückspiegel interessant sind: »Was waren die konkreten Anlässe und Hintergründe? Wer die Akteure und was ihre Motive? Und was lässt sich aus den Kämpfen vergangener Jahrzehnte lernen?«

Und wenn es um Berlin geht, darf auch die Ostgeschichte nicht fehlen – der Sammelband greift hier drei Beispiele aus der DDR und der Wendezeit heraus, was in linker Geschichtsbetrachtung oft heute immer noch eine Leerstelle ist. Den Slogan »Wir Bleiben Alle!« werden viele noch erinnern, »viele wissen aber gar nicht mehr, dass es sich dabei um ein Erbe der DDR handelt«, so Peter Nowak in seinem Beitrag über Mieterselbstorganisierung in Ost-Berlin. Dietmar Wolfs Text nimmt sich das Schwarzwohnen und die Hausbesetzungen in der DDR vor – Beispiele von Häusern, die in den 1980er Jahren Zug um Zug besetzt wurden, in denen sich Oppositionelle und Künstler niederließen, die dann teils wieder entmietet wurden. 

Inspiration für die Gegenwart und Zukunft

»Da sich das Schwarzwohnen naturgemäß im Verdeckten abspielte, ist das Ausmaß dieser Praxis auch heute nicht genau bekannt. Jedoch nahm es mancherorts beinahe die Form eines sozialistischen Volkssports an«, so Wolf. »Und das nicht nur in Berlin.« Dort jedoch vor allem bildete die bunte Mischung aus politischer Besetzungsaktion, Suche nach Freiraum und Nische, das Fundament für die Besetzungswelle der Wendezeit: »Allein zwischen Januar und März 1990 wurden rund 50 Häuser besetzt, überwiegend von Ost-BerlinerInnen und überwiegend in Prenzlauer Berg«, so Wolf. »Es folgten weitere, vor allem in Mitte, Friedrichshain und Lichtenberg, bei denen vor allem Zugezogene aus West-Berlin und der BRD aktiv waren. Im Spätsommer 1990 waren in Ost-Berlin etwa 200 Häuser besetzt – eine Zahl, die alle überraschte.« Wolf schildert auch die Konflikte in der seit Ende 1989 wieder zusammenwachsenden Stadt – die zwischen Ost-Besetzern und denen im Westen. 

Eine geraffte Chronik der Wohnungspolitik und des Aufbegehrens gegen steigende Mieten und Verdrängung ergänzt die einzelnen Beiträge des Bandes. »Mieterkämpfe« gibt es auch heute wieder und sogar mehr davon als in manchen zurückliegenden Perioden. Sie »entwickeln sich allerdings durchaus widersprüchlich und diffus, sie bewegen sich zwischen nachbarschaftlicher Eigeninitiative, subkulturellem und systemoppositionellem Radikalismus, der Eingemeindung in das zivilgesellschaftliche Vorfeld eines inzwischen rot-rot-grünen Senats und dem puren Mut der Verzweiflung«, schreibt Herausgeber Mattern.

Was sich aus der Geschichte lernen lässt? »Mit ihren Träumen und Niederlagen, Grenzen, aber auch Erfolgen kann sie Inspiration für die Gegenwart und Zukunft bieten, um Veränderungen der herrschenden Verhältnisse durchzusetzen.« 

Philipp Mattern (Hg.): Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin, Reihe »Realität der Utopie«, Bertz + Fischer 2018, 212 Seiten. Erscheint im September. Weitere Infos und Bezugsmöglichkeiten gibt es hier.

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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