Wirtschaft
anders denken.

Transformationskonflikte und neue Bündnisse

17.10.2020
Transformationskonflikte

Klima retten oder Industrie-Arbeitsplätze in der Kohle-und Autoindustrie erhalten? Mit dieser Frage stehen sich junge Aktivist*innen von „Fridays for Future“ und Gewerkschaften häufig unversöhnlich gegenüber. Ein jetzt im Campus-Verlag erscheinendes Buch analysiert die Verwandlung des alten industriellen Klassenkonflikts in sozial-ökologische Transformationskonflikte. Wie es gelingen kann, die Kräfte von Arbeits- und Klimabewegung neu zu bündeln, ist Thema der Schlussbetrachtung, aus der hier vorab ein Auszug zu lesen ist.

Für die konkreten Verläufe von sozial-ökologischen Transformationskonflikten ist ausschlaggebend, welche Akteure sich mit ihren strategischen Fähigkeiten in die Lage versetzen, verfügbare Machtquellen zu erschließen, um kollektive Ziele durchzusetzen. In der Regel genügt es nicht, nur eine der verfügbaren Machtressourcen zu nutzen, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Strategiefähigkeit bedeutet, die verfügbaren Machtressourcen für den jeweiligen Handlungskorridor optimal zu kombinieren und sie zielgenau einzusetzen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass ein optimierter Ressourceneinsatz zwangsläufig zum Erfolg führt. In der Regel ist die Kapitalmacht – gegebenenfalls im Bündnis mit dem Staat – hegemonial, zumindest aber in den Auseinandersetzungen strukturell dominant. Sowohl auf der Klassen- als auch auf der Naturachse ist es daher höchst unwahrscheinlich, dass die subdominanten Akteure ständig als Sieger aus den Konflikten hervorgehen; Niederlagen oder bestenfalls Teilerfolge sind an der Tagesordnung. In sozial-ökologischen Transformationskonflikten gilt dies vor allem dann, wenn sich die Akteure auf der Klassen- und der Naturachse konkurrierend oder gar feindlich gegenüberstehen.

Entsprechende Konstellationen finden sich in allen Fallstudien. Sie legen offen, worum es den Beschäftigten vor allem geht. Weder in der Braunkohle- und Energiewirtschaft noch in der Auto- und Zulieferindustrie sehen sich die Stammbelegschaften unmittelbar mit Arbeitslosigkeit konfrontiert; ein solches Schicksal erleiden hauptsächlich die flexibel und prekär Beschäftigten. Festangestellte fürchten in erster Linie Statusverlust. Verlieren sie ihre Jobs in der Exportwirtschaft oder anderen geschützten Bereichen, müssen sie damit rechnen, gleichwertige Arbeit zu einigermaßen akzeptablen Löhnen nicht mehr zu finden. Diese Aussage gilt in erster Linie für die Industrie- und Produktionsarbeiter*innen, die in der Klassenheuristik als Fraktion der konventionellen Arbeiterklasse bezeichnet werden. Sie bezieht sich auf Arbeitergruppen, die nicht nur bei Löhnen und Arbeitsbedingungen etwas zu verlieren haben. […] Die Arbeiterschaft, noch immer Teil einer – nach unserer Heuristik konventionellen – Mehrheitsklasse, tendiert, bei sinkender Arbeitslosigkeit, aber wachsender Ungleichheit und Prekarität, zu einer konservierenden Politik mit den Grenzen, die »ungebetene Gäste« abwehren will. In Teilen verweigert sie sich einem raschen sozial-ökologischen Wandel. Sie reagiert so, weil die fetten Jahre vorbei sind oder der antizipierte Wandel ihr wenig Gutes verheißt. Da sie etwas zu verlieren haben, tendieren Arbeiter*innen zum Schulterschluss mit dem Management und anderen Repräsentationen von Kapitalmacht. Im Falle der LEAG-Belegschaft ist dieser Schulterschluss so eng, dass wir von einer Wagenburgmentalität sprechen, die Unternehmensführung und Belegschaften zusammenschweißt. In der klein- und mittelbetrieblich geprägten Zulieferbranche Thüringens suchen klassenübergreifende betriebliche Allianzen den Druck abzufedern, der von den Endherstellern ausgeht. Hier teilt der Hauptkonflikt Gruppen innerhalb von Kapital und Arbeit. Selbst für diese Variante enger Blockbildung gilt indes, dass bei Löhnen, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen noch immer gegensätzliche Interessen verhandelt werden. Solche Konflikte, die sich selbstverständlich auch im Wertschöpfungssystem Automobil finden, bestimmen den Alltag organisierter Arbeitsbeziehungen; sie werden jedoch vom Kampf um den Erhalt von sozialem Status und Beschäftigung überlagert, der die Gegensätze zwar nicht stillstellt, aber klassenübergreifende Allianzen doch befördert.

Klassenübergreifende Allianzen werden wahrscheinlicher, sobald der Einsatz metabolischer Macht auf der Naturachse von Arbeiter*innen als Bedrohung des eigenen Sozialbürgerstatus wahrgenommen wird. Eben dies ist der Fall, wenn Umweltverbände organisierte metabolische Macht einsetzen, um eine Kaufprämie für Verbrenner-Pkw zu verhindern, ohne sich über die Perspektiven der betroffenen Belegschaften überhaupt Gedanken zu machen. Wechselseitige Abschottungen werden auch verstärkt, sofern militante Teile der ökologischen Bewegungen dazu auffordern, die Wirtschaft nach der Corona-Krise nicht mehr hochzufahren. Würde dieser Vorschlag in der Kohlebranche oder der Autoindustrie befolgt, käme das einer unbeabsichtigten Hilfestellung für die dominante Kapitalseite gleich. Alle wichtigen Endproduzenten planen oder realisieren großvolumige Stellenstreichungen; würde die Produktion nicht wieder angekurbelt oder stockte sie dauerhaft, wären Produktionsverlagerungen ins kostengünstigere Ausland eine von den Konzernen erwünschte und deshalb naheliegende Folge.

Die Konfliktlage im Lausitzer Braunkohlerevier veranschaulicht, welche Dynamiken solchen Auseinandersetzungen innewohnen. So hat der Einsatz struktureller metabolischer Macht durch überregionale Bewegungen wie Ende Gelände den Protesten gegen Tagebaue und Braunkohleverstromung in der Region überhaupt erst zu einer öffentlichen Stimme und damit zu Diskursmacht verholfen. Eine gravierende Wirkung war der Eigentümerwechsel auf der Unternehmensseite. Vattenfall, längst auch in den Märkten für erneuerbare Energien aktiv, zog sich zurück und ein tschechischer Oligarch wurde zum Eigentümer der LEAG. Der neue Investor kann seinen Gewinn nur steigern, sofern Kosten eingespart werden, sprich: wenn die Belegschaft schrumpft und weniger Beschäftigte die unverändert anfallende Arbeit verrichten. Militante Aktionen, die sich hauptsächlich gegen den LEAG-Vorstand richten, verfehlen diese Problematik, denn Unsicherheit, die zum Aderlass in den Belegschaften führt, steigert, solange die Produktion weitergeht, erst einmal den Gewinn des Investors, der außerhalb des Aktionsradius der militanten Braunkohlegegner*innen agiert. Es handelt sich um einen Fall von Akteursversagen auf der Naturachse, die wiederum aus einer Fehlbeobachtung des strategischen Handelns von Akteuren auf der Kapital-Arbeit-Achse hervorgeht.

Auf der Seite der Braunkohlebeschäftigen und ihrer Repräsentationen finden sich hingegen Fehlbeobachtungen auf der Naturachse, die dazu führen, dass alle Akteure, die sich den Protesten anschließen, tendenziell als heimatlose Gesell*innen gebrandmarkt werden. In der Folge gerät der Einsatz von metabolischer und Lohnabhängigenmacht zu einem Nullsummenspiel. Die Machtressourcen der Akteure beider Konfliktachsen werden so eingesetzt, dass wechselseitige Verständigung nicht mehr möglich erscheint. Es ist die radikale Rechte, die als Trittbrettfahrer von dieser Konstellation profitiert. Man ahnt, was in der Auto- und Zulieferindustrie geschehen könnte, würde das Nicht-wieder-Hochfahren dort zu einer realpolitischen Option.

Derartige Nullsummenspiele lassen sich nur vermeiden, wenn […] metabolische und Lohnabhängigenmacht gemeinsam zugunsten von Transformationszielen eingesetzt werden, die ökologische mit sozialer Nachhaltigkeit kombinieren. Doch […] Gemeinsamkeiten müssen seitens der beteiligten Akteure in mühevollen Aushandlungen politisch hergestellt werden. Dabei darf nicht übersehen werden, dass eine – ökologisch notwendige – Schrumpfung der Karbonbranchen für die zuständigen Gewerkschaften unweigerlich einen erheblichen Verlust an Organisationsmacht bedeuten wird. Stirbt die LEAG, verliert die IG BCE ihre wichtigste Bastion in der Region; sie hätte sich dann vornehmlich auf Pensionäre zu stützen. Bei einem Niedergang des gesamten Automobilsektors wären die gewerkschaftlichen Machtverluste noch ungleich größer. Nahezu die Hälfte der IG-Metall-Mitgliedschaft dürfte sich im Wertschöpfungssystem Automobil befinden. In der Arbeiterschaft der Endhersteller sind die Organisationsgrade besonders hoch. Ein rascher Abwärtstrend der gesamten Branche würde die zuständige Gewerkschaft machtpolitisch dramatisch schwächen. Das lässt erahnen, weshalb sich immer wieder Tendenzen zu konservierender Interessenpolitik Bahn brechen. Die starken Mitgliederverluste während der Corona-Krise könnten diese Tendenz zusätzlich verstärken.[…] Dabei ist zu beachten, dass ein fortgesetzter Verlust an gewerkschaftlicher Organisationsmacht die Durchsetzung ökologischer Nachhaltigkeitsziele schwerlich befördern dürfte, denn der metabolischen Macht steht noch immer die dominante Kapitalmacht gegenüber. Ohne gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen, das zeigt die Strategiedebatte in der Klimabewegung, kann die Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen nicht gelingen. Mehrheiten für einen sozial-ökologischen Nachhaltigkeitsblock sind in Staaten wie der Bundespublik aber nur unter Einschluss der von Lohnarbeit abhängigen Klassen(-fraktionen) zu mobilisieren. Diesbezüglich gibt es, das zeigen die Fallstudien, wenig Anlass für übertriebenen Optimismus. Aus einer analytischen Perspektive heraus lassen sich immerhin einige Anknüpfungspunkte für achsenübergreifende Nachhaltigkeitskoalitionen benennen, die metabolische und Lohnabhängigenmacht zusammenführen könnten.

Ökologische Präferenzen und nachhaltige Produktion

Ein erster Ansatzpunkt ergibt sich aus den widersprüchlichen Interessenlagen der verschiedenen lohnabhängigen Klassen. Gesellschafts-, Kapitalismus- und selbst Wachstumskritik sind im Alltagsbewusstsein der Industriearbeiterschaft durchaus verbreitet. […] Es gibt genügend Beispiele, die belegen, dass Lohnabhängige und ihre Gewerkschaften im Kampf für Klimagerechtigkeit sogar eine Führungsrolle einnehmen können. So setzt sich Jane McAlevey in ihren Veröffentlichungen pointiert mit dem Vorurteil auseinander, Gewerkschaften seien strukturell »Anti-Environment« . Sie schildert die Praxis eines »political organizing«, das Lohnabhängige befähigt, gezielt in Auseinandersetzungen um Klimagerechtigkeit zu intervenieren. […] Entsprechende Ansätze in den USA verdanken sich auch der Tatsache, dass die Gewerkschaften dort über keinerlei betriebliche Verankerung verfügen, weshalb sie auf mobilisierungsfähige Themen setzen müssen. Doch mit der Erosion der organisierten Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Europa relativieren sich auch die Unterschiede zum US-amerikanischen Modell. Außerdem finden sich – etwa im Bereich der europäischen Food-Gewerkschaften (EFFAT, in Deutschland ist die Gewerkschaft NGG zuständig) – eindrucksvolle Beispiele, die zeigen, dass selbst länderübergreifende Allianzen zugunsten ökologischer und sozialer Nachhaltigkeitsziele möglich sind. […]

Weichenstellungen zugunsten langlebiger, ökologisch nachhaltig hergestellter Güter und Dienstleistungen erfordern allerdings das genaue Gegenteil dessen, was in der wachstumskritischen Literatur teilweise gefordert wird. Eine Realisierung ökologischer Nachhaltigkeitsziele dürfte die Preise nicht nur für Agrarprodukte und Lebensmittel, sondern auch für viele andere Güter in die Höhe treiben. Schon deshalb sind Verzichtsappelle, die Gewerkschaften zur Mäßigung bei Löhnen und Einkommen mahnen, schlicht kontraproduktiv. Unter kapitalistischen Bedingungen würden sie allenfalls eine Steigerung der Unternehmensgewinne bewirken, Abflüsse in die hochspekulativen Finanzmarktsegmente fördern, das Ungerechtigkeitsempfinden bei großen Teilen der Lohnabhängigen steigern und noch mehr Beschäftigte in die Hände einer radikalen Rechten treiben, die den menschengemachten Klimawandel leugnet.

Sozial und ökologisch nachhaltig ist das genaue Gegenteil. Löhne und Einkommen eines Großteils der abhängig Beschäftigten müssen steigen, damit faire Preise für Ressourcen oder Lebensmittel aus ökologischem Anbau für große Mehrheiten überhaupt erschwinglich sind oder erschwinglich werden. Gute, ökologisch nachhaltige Arbeitsbedingungen entlang von Wertschöpfungsketten und in den Ländern des Südens sind leichter durchzusetzen, wenn Schmutzkonkurrenz aus dem Norden unterbunden wird. Anzuvisieren wären deshalb – national wie international – Löhne beziehungsweise Einkommen zum Leben, die deutlich oberhalb der jeweiligen Niedriglohngrenzen liegen. Living Wages ist eine Zielsetzung, die es künftig entlang transnationaler Wertschöpfungsketten durchzusetzen gilt. In Lohnabhängigengruppen, in denen die Einkommen hoch genug sind, könnte Arbeitszeitverkürzung, so nötig, auch ohne vollen Lohnausgleich zu einem optionalen Einkommensäquivalent werden. Da fraglich ist, ob die Gewerkschaften noch genügend Kraft besitzen, um halbwegs gerechte Verteilungsverhältnisse durchzusetzen, benötigt Nachhaltigkeit auch auf diesem Feld Unterstützung aus Politik, demokratischer Zivilgesellschaft und den ökologischen Bewegungen. Hauptziel möglicher Allianzen wäre der Bruch mit dem Tönnies-Prinzip, also die Abkehr von Produktionsweisen, die nicht mehr über Löhne und Einkommen, sondern bevorzugt über Tiefstpreise integrieren. Im Ergebnis würde deutlich weniger konsumiert. Doch wegen der höherwertigen Güter und Dienstleitungen könnte die Lebensqualität für alle und auch für künftige Generationen beträchtlich gesteigert werden.

Sicherheitsgarantien für Beschäftigte in den Karbonbranchen

Sollen die Beschäftigten in den Karbonbranchen für einen sozial-ökologischen Umbau gewonnen werden, benötigen sie Sicherheitsgarantien. Demokrat*innen wie Alexandria Ocasio-Cortez und ihre Verbündeten fordern deshalb eine rasche, radikale Dekarbonisierung der US-Wirtschaft, verbunden mit Job-, Status- und Sicherheitsgarantien für Beschäftigte aus den Karbon-Branchen. Die deutschen Gewerkschaften scheuen vor solchen Forderungen mehrheitlich noch zurück, weil, so ein Argument, entsprechende Garantien im Kapitalismus nicht zu realisieren seien. Man könnte allerdings auch argumentieren, dass der Reiz solcher Forderungen gerade darin besteht, kapitalistische Produktionsweisen an ihren systemischen Grenzen auf die Probe zu stellen.

Beschäftigungs- und Statusgarantien für die Industriearbeiterschaft lassen sich mit Forderungen nach einer sozialen, öffentlich finanzierten Infrastruktur verbinden, die Gesundheit, Pflege, Erziehung, Bildung und Mobilität zu öffentlichen Gütern erklärt. Der Post-Corona-Diskurs hat entdeckt, was feministische Debatten um die Krise sozialer Reproduktion seit Jahren thematisieren. Pflegende, sorgende, erziehende und bildende Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide weit unten platziert. 1.500 Euro Prämie für die Beschäftigten in der Altenpflege, wie sie der deutsche Arbeitsminister Heil ausgelobt hat, sind ein klein wenig mehr als nichts; sie bleiben jedoch hinter dem dringend nötigen Systemwechsel in einer Sozialwirtschaft zurück, in der gemeinnützige Einrichtungen über Löhne konkurrieren müssen.

Gesellschaftlich erforderlich ist sehr viel mehr: eine Care-Revolution, die als unabdingbarer Bestandteil einer Nachhaltigkeitsrevolution ebenfalls schon lange überfällig ist. Dergleichen ist derzeit nicht einmal ansatzweise in Sicht. Selbst dafür, dass der Anerkennungszuwachs für Sorgetätigkeiten nach der Corona-Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten auch materiell niederschlägt, gibt es keine Gewähr. Im Grunde müsste man den Pflegerinnen, Krankenschwestern, Bäckern, Arzthelferinnen und nicht zuletzt den Landwirten deshalb raten, etwas äußerst Provokantes zu tun. Sie müssten noch während der Pandemie streiken, denn nur der Mangel an lebensnotwendigen Dienstleistungen und Produkten verhilft ihnen zu wirklicher (Gegen-)Macht. Auch wenn dergleichen nicht geschieht, gilt: Gesellschaften funktionieren am besten mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur. Diese Infrastruktur sollte zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und, wie es die Gründungsurkunde der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, in der ganzen Welt. Für eine soziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, zu streiten, wäre eine wichtige Weichenstellung, um trotz der verheerenden Katastrophe, die Covid-19 für Milliarden von Menschen darstellt, den Weg zu besseren, auch sozial nachhaltigen Gesellschaften zu öffnen. Nimmt man die Sustainable Development Goals als Maßstab, drängt sich dieses Politikfeld als Kooperationsschwerpunkt von Arbeits- und Klimabewegungen geradezu auf.

Räumliche Entwicklung und Demokratisierung von Entscheidungsmacht

Die strukturellen Probleme sozialer Reproduktion vor Augen, lässt sich ein weiteres Feld benennen, in welchem eine Bündelung von metabolischer und Lohnarbeitsmacht möglich wäre – die Zusammenarbeit in regionalen Entwicklungskoalitionen. Solche Koalitionen könnten bearbeiten, was im Lausitzer Kohlerevier als paradoxe Konstellation offen zutage tritt. Befürworter*innen und Gegner*innen von Braunkohleverstromung und Tagebauen stehen sich teilweise unversöhnlich gegenüber, doch alle Ansässigen lieben die Lausitz und sorgen sich um die Zukunft der Region.

Wie eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung belegt, findet sich diese Konstellation auch in anderen Regionen, die einen radikalen Strukturwandel durchlaufen. Die Verbundenheit mit der eigenen Stadt oder Gemeinde und der Wunsch, in der Region bleiben zu können, sind in allen untersuchten Gebieten (Lausitz, Saarland, Ruhrgebiet, Chemnitz) stark ausgeprägt. Mehrheitlich möchte man die Region nicht einmal für einen attraktiven Arbeitsplatz verlassen. Dazu passt, dass 60 Prozent der Befragten in einer Region wohnen, die sie als Einwohner*innen niemals verlassen haben. Heimatverbundenheit ist elementarer Bestandteil der Mehrheitsvorstellung vom guten Leben. […] Allerdings, auch das bestätigt die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, haben die verschiedenen Lager und Gruppierungen untereinander kaum Kontakt. Es gibt wenig lebensweltliche Berührungspunkte; man meidet die unbekannten Milieus. […]

Eine Brücke, die Lagergrenzen überspannt, findet sich auf einer anderen Ebene. Auf allen Seiten gibt es Akteure, die sich von Entscheidungen, die die Zukunft ihrer Region berühren, ausgeschlossen fühlen. In den Lausitz-Studien tritt dies besonders deutlich zutage. Die zugesagten Fördermillionen ändern nichts daran, dass man sich lagerübergreifend bei Zukunftsentscheidungen als übergangen empfindet. Implizit offenbart dies einen Konflikt um Entscheidungsmacht über das Was, das Wozu und das Wie der Produktion im regionalen Verbund. Ohnmachtsgefühlen, die ähnlich auch bei Akteuren im Wertschöpfungssystem Automobil verbreitet sind, kann nur entgegengewirkt werden, sofern alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen an Projekt- und Produktionsentscheidungen beteiligt werden. Dazu reichen die traditionellen Mitbestimmungsstrukturen in Betrieb und Unternehmen offenkundig nicht aus, zumal sie flächendeckend ohnehin auf dem Rückzug sind.

Der Ökonom Anthony Atkinson hat deshalb die Einrichtung von regionalen Wirtschafts- und Sozialräten vorgeschlagen, die eine Umverteilung von Entscheidungsmacht organisieren könnten. Besser wären, das jedenfalls ist unser Vorschlag, Transformations- und Nachhaltigkeitsräte. Eine solche soziale Innovation könnte das Engagement auch jener Bürger*innen erleichtern, die ansonsten keinen Zugang zum offiziellen politischen System finden. Die Räte dürfen sich keinesfalls allein aus den Repräsentationen von Arbeit, Kapital und Staat zusammensetzen. Um korporative Verkrustungen zu durchbrechen, wäre es ihre Aufgabe, Graswurzelbewegungen, Umweltverbände, Frauenorganisationen, Stadtteilinitiativen, Menschenrechtsgruppen, NGOs und ähnliche zivilgesellschaftliche Gruppen an grundlegenden politischen Weichenstellungen zu beteiligen. Die Räte würden dazu beizutragen, Transparenz bei den regionalen Lebensbedingungen herzustellen und Investitionsentscheidungen anhand von Nachhaltigkeitskriterien zu überprüfen.

Zu den Aufgaben von Transformationsräten könnte es gehören, die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen zu überwachen, die Produktion langlebiger Güter einzufordern und neue Formen eines kollektiven Selbsteigentums in Genossenschaften und Sozialunternehmen zu erproben. Vom Gewinnmotiv als Hauptzweck abgekoppelt, würden kollektive Eigentumsformen die individuelle Verantwortung für öffentliche Güter beibehalten. Eine Herstellung von Transparenz bei Einkommen und Arbeitsbedingungen, mit deren Hilfe Druck in Richtung fairer Löhne und guter Arbeitsbedingungen erzeugt werden könnte, wäre eine weitere Aufgabe. Die Räte könnten zur Hälfte aus allgemeinen, freien, gleichen Wahlen hervorgehen, zur anderen Hälfte hätten sie sich aus Expert*innen zusammenzusetzen, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren benannt werden.

Der Gründungsprozess einer neuen Rätebewegung lässt sich jederzeit einleiten – durch Initiative von unten und im besten Falle mit Unterstützung der regionalen Gliederungen von Gewerkschaften, Klimabewegungen, Umweltverbänden und anderen Akteuren der demokratischen Zivilgesellschaft. Nachhaltigkeitsräte träten nicht in Konkurrenz zur parlamentarischen Demokratie, würden diese aber erweitern und wahrscheinlich beleben. Die politischen Mehrheitsentscheidungen könnten auf allen Ebenen mit Rätebeschlüssen kontrastiert werden, die sich an sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitszielen auszurichten hätten. Eine unmittelbare Aufgabe solche Räte wäre es, die Verteilung der Gelder zu überwachen, die im Zuge der Corona-Krise für den wirtschaftlichen Wiederaufbau eingesetzt werden. […]

Anerkennung und ökologische Klassenpolitik

Nachhaltigkeitsräte stellten eine soziale Innovation dar, die es erlauben würde, die Spannungen zwischen den Akteuren von Natur- und Klassenachse in demokratischer Weise auszutragen. Es entstünde ein Raum für wechselseitige Kommunikation, ein Forum auch für Anhänger*innen einer Klassenpolitik, die an einem ökologischen Produzentenwissen ansetzt, das in der Arbeiterschaft durchaus vorhanden ist. Ökologische Klassenpolitik kann im besten Fall die Abwertungsspirale durchbrechen, der sich Arbeiter*innen in sogenannten strukturschwachen Regionen insbesondere im Osten der Republik ausgesetzt sehen. Anerkennung bedeutet jedoch ungleich mehr, als lediglich Verständnis für die jeweilige Lage zu signalisieren. […]

Nehmen wir als Beispiel die überwiegend weiblichen Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten, die 2015 in einem sechswöchigen Streik einen exemplarischen Kampf für die Aufwertung professioneller Reproduktionsarbeit führten. In diesem Bereich konstituierte professionelle Sorgearbeit, die auf Zuwendung, Emotionalität und Engagement beruht, ein neues Facharbeiterinnen-Bewusstsein. Ausgerechnet eine berufliche Identität, die lange als Organisierungshemmnis galt, verwandelte sich in eine Quelle von Reproduktions- und gewerkschaftlicher Organisationsmacht. Angesichts geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrade und einer zerklüfteten Tariflandschaft stellen berufliche Identitäten von Sorgearbeiter*innen trotz ihrer Partikularität eine mögliche Sinnressource dar, die durchaus in Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit überführt werden kann. Statt sich auf eine bestimmte Klassenfraktion wie die Industriearbeiterschaft zu fixieren, muss es daher zu einem Anliegen ökologischer Klassenpolitik werden, das kollektive Selbstbewusstsein aller Lohnabhängigen zu stärken. Das ist nur möglich, wenn der Intersektionalität von Klassenverhältnissen, ihrer Verschränkung mit den Konfliktachsen Natur, Ethnie/Nationalität und Geschlecht angemessen Rechnung getragen wird. Sowohl metabolische als auch Lohnabhängigenmacht könnten von entsprechenden Bündelungen profitieren.

[…] Deshalb werden die Klimabewegungen kaum daran vorbeikommen, sich kritisch mit den expansiven Mechanismen der kapitalistischen Produktionsweise auseinanderzusetzen. Den Gewerkschaften werden sie Gleiches abverlangen müssen, wenn in nicht allzu ferner Zukunft Realität werden soll, was vielen Klimabewegten als Vision vorschwebt – die Nutzung der Waffe des politischen Streiks, um, so nicht anders möglich, die Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen mithilfe kollektiven Handelns zu erzwingen. Käme es zu Klimastreiks in den Betrieben – eine Form der Ausübung von Lohnabhängigenmacht, die auch im engen rechtlichen Rahmen des bundesdeutschen Streikrechts durchsetzbar wäre –, müsste geklärt werden, wofür und mit welchen Forderungen gestreikt werden soll. Hier liegt das inhaltliche Kernproblem sowohl von Arbeits- als auch von ökologischen Bewegungen. Die Konturen einer Alternative zum Wachstumskapitalismus sind alles andere als klar gezeichnet. […]

Metabolische Macht

Als metabolische Macht bezeichnet der Autor eine »heterodoxe Machtform, die aus der Stellung bewusster Interessengruppen in der Reproduktion von Naturverhältnissen hervorgeht. Ihre Quellen beruhen auf Arbeit als lebensspendendem Prozess, somit nicht primär auf Lohn- oder Erwerbsarbeit.[…] Strukturelle metabolische Macht gründet sich auf die besondere Stellung von Individuen oder Interessengruppen in Naturverhältnissen (Hausbesitz in einer Gemeinde, die einem Tagebau weichen soll) oder auf die Fähigkeit, wirtschaftliche Eingriffe in Naturverhältnisse über symbolische Aktionen und zivilen Ungehorsam zu skandalisieren (Castor-Blockaden, Besetzung von Förderbrücken im Braunkohlerevier, Proteste während der Internationalen Automobilausstellung (IAA)).«

Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische Transformationskonflikte um Energie und Mobilität von Klaus Dörre (Hg.), Madeleine Holzschuh (Hg.), Jakob Köster (Hg.), Sittel Johanna (Hg.). Campus Verlag 2020.

Geschrieben von:

Klaus Dörre

Professor für Soziologie

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