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Transnationale Sorgekette

25.05.2023
Foto: Wikimedia CommonsDer Kampf um Anerkennung von Sorge-Arbeit ist kein neuer. Die Globale Entwicklung zeigt jedoch nur wenig Fortschritte.

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Wachstumsmarkt und fragwürdiges Allheilmittel gegen die Care-Krise

Seit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg steht die Fragilität globaler Lieferketten, die sich inzwischen über den gesamten Erdball ziehen, im Fokus der Diskussion. Man habe sich von ausländischen Zulieferern wie China oder Russland zu abhängig gemacht, heißt es. Deshalb werden Forderungen lauter, zumindest »sensible« Güter wie Medikamente, Chips und Batterien künftig wieder im Inland zu produzieren. In den USA und in vielen Ländern Europas wird deshalb in milliardenschwere Industrieförderprogramme investiert. Allerdings wird die Tendenz zur Globalisierung keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt. Denn es geht bei der Überwindung räumlicher Grenzen durch das Kapital bekanntlich nicht nur um die Erschließung neuer Rohstoff- und Absatzmärkte, sondern immer auch um die Rekrutierung von billigen Arbeitskräften.

Das trifft auch auf das Phänomen globalisierter Sorgeketten (»global care chains«) zu, die allerdings weit weniger im Blickpunkt öffentlicher Diskussionen stehen. Sorgeketten verbinden Privathaushalte und Menschen über Ländergrenzen und Kontinente hinweg und breiten sich immer weiter aus:

Es sind vorwiegend Frauen, die aus armen Ländern des Südens, aus Asien und aus Osteuropa kommen und weite Strecken zurücklegen, um in den wohlhabenden Aufnahmeländern Care-Arbeit zu übernehmen. Nicht nur in Großstädten wie Berlin, London, Paris, New York oder Dubai werden Arbeitsmigrantinnen in Wohnungen und Häuser vermittelt, wo sie für saubere Küchen, Schlafzimmer und Bäder sorgen, einkaufen, kochen, Kinder der Wohlhabenden als Nanny bei den Hausaufgaben unterstützen oder als 24-Stunden-Betreuungskräfte für das Wohlergehen von pflegebedürftigen alten Menschen verantwortlich sind. In den Herkunftsländern der Arbeitsmigrantinnen entstehen dadurch wiederum Sorgelücken, die meist von weiblichen Verwandten oder einer weiteren Sorge-Arbeiterin gefüllt werden (müssen), denn viele lassen dort ihre Kinder und hilfebedürftige Angehörige zurück. Wie passt das eigentlich zum kulturell verinnerlichten »tter-Mythos«, der hierzulande in bestimmten Milieus immer noch hochgehalten wird? Sorgeketten dieser Art sind beredter Ausdruck (neo)kolonialer Attitüden und Kontinuitäten. Darüber kann die in letzter Zeit medial aufwendig inszenierte Rückgabe von geraubten Kulturgütern aus ehemaligen Kolonien nicht hinwegtäuschen.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass bereits 2018 weltweit fast eine Viertelmilliarde (!) Frauen im häuslichen Care-Sektor gearbeitet haben. Es handelt sich bei der globalisierten Care-Arbeit in privaten Haushalten eindeutig um eine weiblich dominierte Branche. In Europa sind sogar drei Viertel dieser Sorge-Dienstleister:innen Frauen, ganz überwiegend Arbeitsmigrantinnen, darunter viele mit einem nicht dokumentierten Aufenthaltsstatus. Das macht sie besonders vulnerabel für ausbeuterische Arbeitsbedingungen.

Bei transnationalen Sorge-Arrangements verschränken sich Geschlechterunterschiede mit anderen Ungleichheitsdimensionen wie soziale Schicht, Nationalität, Ethnie, Religion, Migrations- oder Staatsbürgerschaftsstatus. Zunehmende globale Ungleichheiten und die wachsende Kluft zwischen wohlhabenden und ärmeren Nationen drängen Frauen in immer größerer Zahl in die Arbeitsmigration. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Sorge-Dienstleistungen in den Aufnahmeländern finden sie als Haushaltshilfen und Betreuungskräfte sehr schnell Arbeit, wenn auch unter ausbeuterischen Bedingungen.

Bereits 2011 waren hierzulande circa 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig, darunter 1,4 Millionen mit einer demenziellen Erkrankung. 2025 werden es bereits mehr als fünf Millionen Menschen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes sein. Bis 2030 kommt noch eine weitere Million hinzu, die dann einen Pflegebedarf aufweisen wird.

Kommunen in Deutschland haben über Jahrzehnte auf das sogenannte Töchterpflegepotenzial gesetzt, um die Versorgung von hilfe- und pflegebedürftigen älteren Menschen vor Ort zu gewährleisten. Diese Rechnung geht schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf: Kleiner werdende jüngere Alterskohorten stehen einer wachsenden Zahl von älteren Menschen gegenüber, so dass Versorgungsprobleme sowohl bei der privaten als auch bei der professionellen Pflege bereits heute erheblich sind und sich weiter zuspitzen werden. Bis 2050 wird sich allein schon aus demografischen Gründen die Zahl potenzieller Pflegepersonen in Deutschland um circa 30 Prozent verringern. Eine Abnahme des Pflegepotenzials ergibt sich zudem aus dem Anstieg von Ein-Personen-Haushalten oder daraus, dass die räumliche Entfernung zu den erwachsenen Kindern zu groß ist.

Doch noch ist die Bundesrepublik Deutschland eindeutig als Home-Care-Land zu charakterisieren: Lediglich 16 Prozent der zu Pflegenden werden stationär betreut. Darüber wird weit mehr berichtet als über die verborgene Arbeit der pflegenden Angehörigen in den eigenen vier Wänden, die 84 Prozent der anfallenden Betreuung und Versorgung pflegebedürftiger Menschen übernehmen oder eben einer 24-Stunden-Betreuungskraft übertragen. Dabei spielen Kostenerwägungen eine große Rolle. Für Frauen mit geringem Einkommen ist die Übernahme von Pflegeaufgaben oft ohne Alternative, was häufig zu gesundheitlicher Erschöpfung und Überforderung führt: »Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Die bisherige pflegerische Versorgung in unserem Land basiert im Kern auf den ›kostengünstigsten‹ Akteuren, den pflegenden Angehörigen. Ohne deren Beitrag würde die pflegerische Versorgung in Minuten kollabieren«, so Stefan Sell 2022 in »rger & Staat«.

Dagegen dominieren im akademischen Milieu stationäre Pflege-Arrangements oder eben die osteuropäische 24-Stunden-Rundumpflege als »Indoor«-Lösung. Bereits seit Jahren vollziehen sich ein »Brain Drain« und ein »Care Drain« von Kranken- und Pflegefachkräften aus Osteuropa oder aus anderen Weltregionen, die zum Teil in den Entsendeländern selbst dringend gebraucht werden. Inzwischen ist allein von bis zu 400.000 Osteuropäerinnen die Rede, die in deutschen Haushalten pflegen und betreuen. Dabei handelt es sich in hohem Maß um prekäre Beschäftigung im schwarz-grau melierten Arbeitsmarkt Privathaushalt.

Die österreichische Soziologin Brigitte Aulenbacher hat einige Besonderheiten der europäischen Situation im Sorge-Bereich identifiziert: Zum einen kristallisiert sich in Europa eine Konzentration auf die Betreuung und Pflege von Seniorinnen und Senioren heraus, zum anderen gibt es das Spezifikum einer zirkulären Migration. Das heißt, Frauen arbeiten für zwei bis vier Wochen im Ausland und kehren dann temporär in ihr Heimatland zurück. Dabei fällt auf, dass die entstandenen Sorgelücken im eigenen Haushalt in aller Regel nicht durch fremde Hilfe überbrückt werden. Vielmehr steht am Ende der Kette oft dieselbe Person, die auch die bezahlte Sorge-Arbeit im Ausland leistet: Die betroffenen Frauen bereiten alles für die Zeit nach ihrer Abreise vor und arbeiten, wenn sie wieder zu Hause sind, alles auf, was während ihrer Abwesenheit liegen geblieben ist. Das führt allerdings zu einer enorm hohen Arbeitslast, die auch erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen – physisch und mental – nach sich zieht. Hier liegt sicherlich eine der Ursachen dafür, dass osteuropäische Frauen im Schnitt deutlich weniger gesunde Lebensjahre ab 65 aufweisen als Westeuropäerinnen.

Häusliche Sorge-Arrangements dieser Art werden im Internet von grenzüberschreitend agierenden Agenturen oder auch über private Netzwerke als »preisgünstige und gute Lösung« für die Versorgungslücke in der Altenpflege angepriesen und als Baustein der in der EU vorangetriebenen Deregulierung des Pflege- und Gesundheitssektors gebilligt. Frauen gewännen durch die Anstellung einer Haushaltshilfe oder 24-Stunden-Betreuungskraft aus dem Ausland die erforderlichen zeitlichen Freiräume, um ihre eigenen Karriereziele zu verfolgen, und pflegebedürftige Senior:innen könnten gut versorgt in der eigenen Wohnung verbleiben. Care-Arbeiterinnen wiederum würden profitieren, weil sie doch Einkommen generieren, die sie in ihren Heimatländern niemals erzielen könnten.

Solche Narrative verschweigen nicht nur die erheblichen Ungleichheiten zwischen den Arbeitsmigrantinnen und den Senior:innen. Sie verdecken ebenso, dass derartige transnationale Ketten vermeintlich »natürliche« Geschlechterunterschiede zwischen Männern und Frauen fortschreiben: Indem der Fokus auf transnationalen Arrangements zwischen Frauen in Deutschland und Arbeitsmigrantinnen liegt, bleiben Care-Aufgaben – wie gehabt – in weiblicher Zuständigkeit. Weder in den Entsendeländern noch in den Aufnahmeländern gibt es Debatten darüber, dass auch Männer von diesen Sorgeketten profitieren – sei es als gut bezahlte Geschäftsführer von Vermittlungsagenturen oder als Finanzinvestoren im Hintergrund, die beträchtliche Profite abschöpfen. Auch auf der Ebene der Paarbeziehungen muss die Aufteilung der unbezahlten Care-Arbeit im Haushalt gar nicht erst in Frage gestellt und neu ausgehandelt werden. Es liegt einmal mehr eine Art Schweigespirale über der Tatsache, dass Männer ihren bezahlten Jobs und ihren Karrieren zu Lasten von Frauen nachgehen – und zwar auf Kosten ihrer Partner:innen wie auch auf Kosten der Arbeitsmigrantinnen.

Deutschland hat zwar bereits 2013 das ILO-Übereinkommen 189 zum Schutz von Hausangestellten ratifiziert, allerdings bei den Arbeits- und Bereitschaftszeiten eine Ausnahmevorschrift erwirkt. Migrantische Betreuungskräfte arbeiten nicht zuletzt deshalb oft viel zu lange; ihre Nachtruhe wird häufig mehrfach unterbrochen. Politischer Handlungsdruck wurde erst durch das Grundsatzurteil des Erfurter Bundesarbeitsgerichts vom 24. Juni 2021 aufgebaut, in dem die Richter den ausländischen Betreuungskräften den vollen Mindestlohn (auch für Bereitschaftsdienstzeiten) zugesprochen haben. Dennoch ist es noch ein weiter Weg, um zwischen Entsende- und Aufnahmeländern zu tragfähigen Kooperationsabkommen für faire Arbeits-, Mitwirkungs- und Lebensbedingungen zu kommen.

Eine zukunftsfähige Lösung der Sorge-und Pflege-Krise muss aber weit darüber hinausgehen. Notwendig ist die massive Aufwertung und deutlich bessere finanzielle Anerkennung häuslicher Pflege, möglicherweise nach dem Vorbild einer Anstellung pflegender Angehöriger wie im österreichischen Burgenland oder durch die Erprobung innovativer Wohnformen. Ebenso dringlich ist es aber auch, ein öffentlich finanziertes und geschlechtergerechtes System ambulanter und stationärer Einrichtungen aufzubauen. Dabei wäre es eine vordringliche Aufgabe der Bundesregierung, den Einfluss renditeorientierter Akteure im Bereich der stationären Altenpflege zurückzudrängen und nach einer Übergangsfrist nur noch gemeinwohlorientierten Trägern öffentliche Gelder zuzuweisen.

Neben der Kommunalisierung von Altenpflegeeinrichtungen braucht es die Einführung einer Bürgerversicherung anstelle der derzeitigen Pflegeversicherung nach dem Teilkasko-Modell, so dass jede:r das Recht hat, zu pflegen, oder eben auch, es nicht zu tun.

Erforderlich ist schließlich, dass mehr Druck von Seiten der alternden Zivilgesellschaft aufgebaut wird, damit sich Politik bewegt: Solange allerdings Warteschlangen von sonnenhungrigen, betagten Urlaubsreisenden an Flughäfen die Gemüter mehr erregen als die Care-Krise, auf die Deutschland im Pflegebereich zusteuert, wird sich kaum etwas ändern. In der PflegeStudie22 begreifen 84 Prozent der Befragten zwischen 54 und 68 Jahren Pflege als Schicksal, auf das man sich nicht vorbereiten könne. 85 Prozent wollen zwar nicht von ihren Angehörigen gepflegt werden, aber nur jede:r Fünfte kann sich Individualpflege überhaupt leisten. Die Boomer-Generation laufe »blind in die Pflegekatastrophe«, so die Autoren der Studie. Wissen ist zwar vorhanden, aber gehandelt wird erst, wenn es zu spät ist. Es gehe darum, unser Mindset fundamental umzustellen, »sonst fliegt uns die Zukunft um die Ohren«, so bilanziert einer der Studienleiter.

Geschrieben von:

Uta Meier-Gräwe

Soziologin und Haushaltsökonomin

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