Wirtschaft
anders denken.

Wiederaufbau oder Dystopie

28.08.2022
Hinter einem Sonnenblumenfeld (Symbol der Ukraine) geht die Sonne aufFoto: todd kent Sonnenaufgang über dem Sonnenblumenfeld: Behindern neoliberale Reformen das Aufblühen der Ukraine nach dem Krieg?

Das Kriegsrecht hat in der Ukraine neoliberale Reformen ermöglicht, die für die Zukunft nach dem Krieg unbrauchbar sind. Eine Übersetzung.

Anfang Juli trafen sich hochrangige westliche und ukrainische Amtsträger:innen in der Schweiz. Ziel der Wiederaufbau-Konferenz in Lugano war, dass Vertreter:innen der Wirtschaft und der Regierungen über Investitionen und die dafür nötigen politischen Reformen verhandeln sollten.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat nicht nur tausende Tote und Vertriebene verursacht, er ist auch eine extreme Herausforderung für die ukrainische Wirtschaft. Auch wenn sich Unternehmer mit der Zerstörung von Eigentum und Infrastruktur auseinandersetzen müssen: Den höchsten Preis zahlen die Arbeiterinnen und Arbeiter. 80 Prozent der seit dem 24. Februar gemeldeten Todesfälle am Arbeitsplatz gehen auf das Konto des russischen Militärs. Laut offiziellen Angaben stirbt in der Ukraine täglich ein Mensch bei der Arbeit – Beschäftigte der Bahn, des Gesundheitssektors und anderer öffentlicher Einrichtungen eingeschlossen.

Das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem Jahr aufgrund der russischen Invasion vermutlich um 50 Prozent zurückgehen. Hunderte Unternehmen wurden zerstört und in der Folge gingen 30 Prozent der Arbeitsplätze verloren. Laut einem Bericht der Financial Times wird die Arbeitslosenquote in der Ukraine zum Jahresende bei 25% liegen, ein europäischer Rekord.

Bis jetzt bleibt es den ukrainischen Unternehmen selbst überlassen, wie sie mit diesen durch die russische Invasion verursachten Herausforderungen umgehen. Staatliche Stellen haben in ihrer Überwachung des Arbeitsmarktes nachgelassen. Währenddessen arbeiten Kräfte im Parlament und der Regierung an der Durchsetzung radikaler Reformen, die Arbeiter:innen ihrer Rechte berauben würden.

Während Millionen Menschen noch damit beschäftigt sind, die wirtschaftliche Talfahrt der Ukraine irgendwie zu überleben, zieht am Horizont die Frage auf, was geschieht, wenn der Krieg zu Ende geht. Die zukünftigen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse und der Wohlstand des Landes werden geprägt sein von jetzt gefällten Beschlüssen.

Kommende demographische Veränderungen

Wie zu erwarten hat der Krieg die Arbeitskosten in der Ukraine gesenkt. Verglichen mit der Vorkriegszeit sind die Löhne im Mai um durchschnittlich zehn Prozent gefallen. In Branchen wie dem Sicherheitsgewerbe, der Rohstoffgewinnung oder anderen schweren körperlichen Tätigkeiten hat sich das Lohnangebot bei neu ausgeschriebenen Stellen beinahe halbiert.

Es verstärkt sich der Eindruck, dass die arbeitende Bevölkerung die negativen Auswirkungen der Krise auf dem Arbeitsmarkt stärker zu spüren bekommt als die Unternehmer. Unmittelbar nach der russischen Invasion waren die Ukrainer:innen bereit, alle erdenklichen Schwierigkeiten auf sich zu nehmen. Doch seit sich das Blatt im Krieg zu Gunsten Russlands gewendet hat, sehen längst nicht mehr alle die gegenwärtige Bevorzugung der Unternehmensseite zu Lasten der Arbeitenden als fair an.

Diese Bevorzugung zeigt sich am Parlamentsbeschluss mit dem im März wesentliche Teile des Arbeitsrechts für ukrainische Unternehmer:innen außer Kraft gesetzt wurden. Vor allem ermöglich er der Unternehmensführung Arbeitsverträge auszusetzen: In diesem Fall erhalten die Beschäftigten keinen Lohn, gelten aber weiterhin als angestellt. Tausende Angestellte privater Firmen sind so ohne offizielle Begründung oder Registrierung arbeitslos geworden. Zum 1. April 2022 hatten ungefähr fünf Millionen Menschen Einmalzahlungen wegen Einkommensverlust beantragt – doch Ende Mai lag die Zahl der registrierten Arbeitslosen nur bei 308.000, ungefähr einem Sechzehntel.

Damit ist die Ukraine noch mehr zu einem Paradies für zweifelhafte Unternehmer:innen geworden, die Leute ohne Vertrag beschäftigen. Seit der russischen Invasion hat der Staat alle Arbeitsinspektionen gestoppt und kontrolliert auch nicht länger, ob Löhne tatsächlich gezahlt werden. Derartige Lohnschulden sind für ukrainische Arbeiter:innen ein altbekanntes Problem. Tausende Beschäftigte privater Unternehmen sind faktisch seit Monaten arbeitslos – ohne formale Begründung.

Gleichzeitig muss die Ukraine damit fertig werden, dass rund sechs Millionen Menschen, überwiegend Frauen, das Land verlassen haben. Einige, wenn auch längst nicht alle, sind in europäischen Ländern angekommen, wo höhere Löhne gezahlt und die Gesetze eingehalten werden, wo es bezahlbare Wohnungen und Kinderbetreuung gibt. Dass junge Mütter von dort zurückkehren werden, selbst in halbwegs friedliche Städte, ist unwahrscheinlich.

Gegenwärtig verbietet das Kriegsrecht Männern unter 60, das Land zu verlassen. Doch wenn es endet, so die Prognose von Soziologen, könnte der Ukraine eine neue Auswanderungswelle bevorstehen. Dieses Mal von Männern, die im Ausland arbeiten oder bei ihren Familien sein möchten –oder sich einfach vor dem andauernden Konflikt in Sicherheit bringen. Um zu verhindern, dass diese massiven demographischen Veränderungen zum Dauerzustand werden, wird die Ukraine auch ihre Sozial- und Wirtschaftspolitik so umgestalten müssen, dass sie Menschen ermutigt, im Land zu bleiben.

Wiederaufbau oder Dystopie?

Die Wiederherstellung der Infrastruktur, das Ankurbeln der industriellen Produktion und die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse sind Aufgaben, die im größeren sozialen und humanitären Kontext des Wiederaufbaus angegangen werden können. Für eine solches Vorgehen gibt es internationale best-practice-Beispiele, unter anderem von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Wiederaufbau der Ukraine den Wünschen und langfristigen Interessen der Bevölkerung Rechnung tragen wird.

Bis jetzt folgen die Wiederaufbaupläne vorrangig neoliberalen Traditionen. Ein solcher Plan, der von Ukrainischen Regierungsvertretern, führenden Experten und Wirtschaftsverbänden formuliert wurde, stützt sich maßgeblich auf Deregulierung und Liberalisierung. Diese Prinzipien bilden zweifelsohne auch die Grundlage des »Marshall Plan«-Vorschlags für die europäischen Partner.

Unterdessen hat die ukrainische Regierung selbst schon mit der Umsetzung einzelner Maßnahmen begonnen. So will man beispielsweise – nach der russischen Zerstörung der Großindustrie – die Wirtschaft durch die Förderung des Kleinunternehmertums wieder ankurbeln. Letztlich laufen die Regierungsvorschläge für den Wiederaufbau auf Kredite für Kleinunternehmer:innen und IT-Schulungen hinaus. Maßnahmen, die möglicherweise in Friedenszeiten ihre Berechtigung hatte. Aber heutzutage verhindern eine zerstörte Infrastruktur, niedrige Kaufkraft und die generelle Instabilität einen weiteren Ausbau des Kleinunternehmertums.

Der im Juli in Lugano präsentierte Plan folgt in großen Teilen dem bereits im April von einer Gruppe internationaler Ökonomen unter dem Namen »Blaupause für den Wiederaufbau der Ukraine« präsentierten Vorschlag. Darin sind vorgesehen:

1) Die Einführung flexiblerer Arbeitsverträge und der Abbau von arbeitsrechtlichen Regelungen, die einer liberalen Wirtschaftspolitik im Wege stehen.
2) Die Bereitstellung staatlicher Subventionen, um ausländische Unternehmen anzulocken.
3) Eine großangelegte Privatisierung, einschließlich der größten Banken der Ukraine.
4) Eine Bevorzugung des Exportsektors bei der Kreditvergabe.
5) Die Reparatur der Infrastruktur durch niedrig qualifizierte und personalintensive öffentliche Baumaßnahmen.
6) Die Gründung einer technokratischen Behörde zur Verteilung internationaler Hilfsgelder.

Das größte Risiko hierbei besteht darin, dass durch die Privatisierung und den Personalabbau im öffentlichen Dienst sichere Arbeitsplätze verloren gehen und stattdessen vermehrt prekäre Beschäftigungsverhältnisse entstehen. Außerdem drohen Infrastrukturprojekte vorrangig die Kassen ausländischer Unternehmen zu füllen, die ukrainische Wirtschaft bleibt in ihrer vorwiegend extraktivistischen Rolle verhaftet, anstatt neue innovative Industrien zu entwickeln. Arbeiter:innen-Organisationen beim Wiederaufbauprozess zu ignorieren, bedeutet, die bestehenden Probleme von irregulärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Ungleichheit nur weiter zu verschärfen.

Alternative Ansätze

Letztlich sollte es darum gehen, nicht den peripheren Kapitalismus in unserem Land wiederherzustellen, sondern stattdessen Elemente des sozialen und solidarischen Wirtschaftens zu verankern. Dazu gehören:

1) Eine nachhaltige wirtschaftliche Basis. Der Aufbau von Infrastruktur und Produktionsanlagen, die im großen Maßstab sichere Arbeitsplätze schaffen, sollte ebenso Priorität haben wie die Verbesserung des technologischen Niveaus der Wirtschaft und eine Konzentration auf Inlandsnachfrage anstatt auf Exporte. Der Staat, der in der Lage ist, die dafür nötigen Ressourcen bereitzustellen, sollte dabei der Hauptinvestor sein.

2) Gestärktes Vertrauen der Bevölkerung. Damit Gelder richtig eingesetzt werden, sollte in die Entscheidungsprozesse die gesamte ukrainische Gesellschaft einbezogen werden. Infrastrukturprojekte und Investitionen sind auf die Unterstützung der Gewerkschaften angewiesen.

3) Abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse. Das Kriegsgesetz, dass es ukrainischen Unternehmern erlaubt, sich ihren individuellen wie kollektiven vertraglichen Pflichten zu entziehen, gehört abgeschafft. Arbeitsinspektor:innen müssen mit den nötigen Ressourcen und Befugnissen ausgestattet werden, um die Arbeitsbedingungen zu kontrollieren. Große öffentliche Baumaßnahmen sollten von Weiterbildungsmaßnahmen begleitet werden, die die Karriereaussichten der Arbeitenden verbessern. Es sollte Subventionen für ukrainische Unternehmen geben, die besonders vulnerable Personen beschäftigen, überdurchschnittliche Löhne zahlen oder die Gewerkschaften in ihre Entscheidungsprozesse einbeziehen.

Privatunternehmen haben sich während der Krise als extrem unverantwortlich erwiesen. Die Nachkriegs-Ukraine braucht eine integrative Gesellschaft. Die wird gewährleistet durch die Entwicklung von Unternehmen – entweder im Staatsbesitz oder in den Händen von Kooperativen – die ihre Profite nicht zu Lasten der Gesellschaft und der Umwelt machen.

Mit der riesigen Zerstörung fertig zu werden und die Industrie wieder aufzubauen stellt die Ukraine vor eine kolossale Aufgabe, für die neoliberale Politik ungeeignet ist. Stattdessen bedarf es einer Strategie, die auf staatliche Interventionen und Arbeitsbeschaffungsprogramme setzt. Dafür wiederum ist eine Umverteilungspolitik durch Steuern und die Beschlagnahmung von Über-Vermögen bei den Superreichen der Ukraine nötig. Das wäre die praktische Umsetzung der lange versprochenen De-Oligarchisierung, die seit Kriegsbeginn offenbar von der politischen Agenda verschwunden ist.

Kurzfristig wurde die Macht der Arbeitenden in der Ukraine durch den russischen Angriffskrieg geschwächt. Doch langfristig könnten die Arbeiter:innenbewegung gestärkt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Denn allem Pessimismus zum Trotz gibt es in der Gesellschaft den Glauben an einen gerechteren Wiederaufbau.

Vitaliy Dudin ist Mitbegründer und Vorsitzender der ukrainischen Graswurzel-Bewegung »Soziale Bewegung«, die sich 2015 nach den Euromaidan-Protesten gebildet hat. Sie versteht sich als Sammelbewegung Anti-Stalinistischer Linker.  Sein Text erschien zuerst bei Open Democracy, die Übersetzung aus dem Englischen übernahm Sigrun Matthiesen.

Am 17. September erscheint die neue Maldekstra mit dem Thema »Wirtschaft im Krieg«.

Geschrieben von:

Vitaliy Dudin

Vorsitzender »Soziale Bewegung«

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