Wirtschaft
anders denken.

»Die Leute passen sich an«

Militärische Konflikte, Korruption und Russland behinderten die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine.

20.05.2022
Olga Pindyuk arbeitet als Ökonomin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Außenhandel und die Finanzmärkte. Sie ist Expertin des Instituts für die Ukraine und hat dort für verschiedene Organisationen gearbeitet. Mit ihr sprach am 12. Mai Philip Blees. Das Interview wurde in Englisch geführt und von OXI übersetzt.

Frau Pindyuk, Sie haben Anfang der 2000er in Kiew Volkswirtschaftslehre studiert und für verschiedene Institutionen, unter anderem die Weltbank, gearbeitet. Welches Thema prägte zu dieser Zeit die ökonomische Diskussion in der Ukraine?

Transition! Der Übergang von der typischen sowjetischen Wirtschaft zu einer modernen Marktwirtschaft war die Priorität. In den 2000ern war das schon zehn Jahre im Gange und jeder konnte sehen, dass es nicht so schnell und so gut läuft, wie man hoffte.

Was war das Problem?

Privatisierungen waren ein großes Thema. Die wurden bereits in den Neunzigern durchgeführt, meist aber nicht voll durchdacht. Mit den sehr intransparenten Maßnahmen und deren Folgen hat die Ukraine seitdem zu kämpfen. Die Privatisierungen haben die Oligarchen hervorgebracht. Sie haben sich Ressourcen geschnappt und machtvolle Firmengruppen gebildet, die den Transitionsprozess zu ihrem Vorteil beeinflusst haben.

Aber auch Russland war immer ein Teil des Problems. Dort gab es beispielsweise Verbote, ukrainische Süßigkeiten zu importieren. Solche Handelskriege, wie sie damals schon genannt wurden, waren ein Werkzeug, mit dem der Kreml versucht hat, seine Nachbarn klein zu halten.

Was hat die Weltbank während Ihrer Zeit dort gemacht?

Beim Thema Energie, Umwelt, Ungleichheit und Bildung war man besonders aktiv. Das übliche Mittel dafür ist die Bereitstellung von Investitionsgeldern.

Gab es wirtschaftliche Erfolge zu dieser Zeit?

Vergleichen wir es mit einer Achterbahn: Mal geht es hoch, mal runter. Manche Maßnahmen sind erfolgreich, manche nicht. Die makro-finanzielle Stabilität war zum Beispiel gegeben. Das ist einer der größten Erfolge.  Die sehr professionelle ukrainische Zentralbank hat es wirklich geschafft, die Inflation unter Kontrolle zu bringen, die Wechselkurse schwankten nur minimal und selbst während der Pandemie hat sich die ukrainische Währung nicht schlecht gehalten.

Welche Reformen gab es noch?

Die Regionen haben mehr Autonomie bekommen. Durch Veränderungen in der Budgetierung erhalten sie mehr finanzielle Mittel und dürfen nun auch eigene Steuern erheben. Das führt zu mehr Effizienz. Eine zentralistische Regierung kann manche Probleme nicht so zielgenau angehen wie lokale Akteure.

Es gab auch Landreformen.

Ja, die waren sehr schmerzhaft. 30 Jahre lang waren sie ein Thema, am Ende gab es eine verwässerte Version davon. Ausländer haben immer noch keinen Zugriff auf ukrainisches Land, aber das ist für die Zukunft vorgesehen. Trotzdem stellte die Reform einen großen Schritt zur Öffnung des Landmarktes dar, der besonders kleinen Produzenten helfen wird. Sie haben nun besseren Zugriff auf Finanzierungsmöglichkeiten von Banken, da sie Land als Sicherheit hinterlegen können.

Was sind die Baustellen?

Definitiv die Korruption. Das ist das größte Problem, was viele andere überschattet. Der IWF hat diesbezügliche Reformen priorisiert. Gegen sie gab es natürlich viel Gegenwehr von Beteiligten, die den Wandel ablehnen. Da braucht es noch weitere schrittweise Maßnahmen, durch die die Ukraine durchmuss.

Seit 2007 arbeiten sie am WIIW. Hat der Blick von außen Ihre Wahrnehmung von der Ukraine verändert?

Mittlerweile bin ich österreichische Staatsbürgerin. Ich reise nicht mehr so oft in die Ukraine. Wenn ich doch nochmal da bin, fällt mir auf, dass sich einige Dinge nicht verändern, andere aber sehr schnell. In Kiew sagt man beispielsweise, dass die Restaurants alle drei Jahre den Besitzer wechseln. Es ist eine boomende, dynamische Stadt. Manche sich entwickelnde Länder entfalten eine besonders große wirtschaftliche Dynamik als »alte« Volkswirtschaften. Das sieht man an vielen Dingen: In der Ukraine wurde digitale Bezahlmöglichkeiten beispielsweise viel schneller adaptiert als in Österreich. Wenn noch keine festgefahrenen Strukturen vorhanden sind, können Systeme einfacherer verändert werden.

Das BIP hat sich in den letzten 30 Jahren trotzdem nicht besonders gut entwickelt.

Das hat interne und externe Gründe. Die Ukraine hat ihre Wirtschaft von der Sowjetunion geerbt. Und die hatte eine bestimmte Struktur. Sie war sehr abhängig von den anderen Sowjetrepubliken und nicht besonders effizient. Kohlebergbau und Schwerindustrie stellten den Kern der ukrainischen Industrie dar. Diese Strukturen aufzubrechen ist sehr schwer und ging mit Jobverlust einher. Hinzu kommen die Oligarchen und die Korruption, die ökonomische Entwicklung verhindern.

Aber, um das nochmal zu betonen, man sollte den Einfluss von Russland nicht unterschätzen. Es sind nicht nur die schon angesprochenen Handelskriege. Der Kreml hat in der Ukraine auch stark gegen eine wirtschaftliche Ausrichtung nach Europa lobbyiert. Der damalige Präsident Viktor Janukowitsch machte nach anfänglicher Annäherung eine Kehrtwende und unterzeichnete im Jahr 2013 das Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht. Russland machte damals unter anderem mit ausstehenden Darlehen Druck, mit wirtschaftlicher Erpressung.

Und die Annexion der Krim und die Kämpfe im Donbass brachten sicherlich auch kein Wirtschaftswachstum.

Ganz technisch gesehen wurden damit wichtige Teile der Wirtschaft von der Ukraine einfach abgeschnitten. Somit hatte sie dann weniger Industrie und damit weniger Jobs und Steuereinnahmen. Abgesehen davon hat dies dem Investitionsklima massiv geschadet. Für Investoren war die Ukraine kein sicheres Anlageobjekt, obwohl das Land so dringend Kapital benötigt. Der Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am BIP ist sehr niedrig.

Wie reagierte die Wirtschaft 2014?

Für zwei Jahre gab es eine tiefe Rezession. Doch dann kam tatsächlich eine kurze Periode, in der sich die ukrainische Wirtschaft ganz gut geschlagen hat. Sie regenerierte sich und Reformen wurden durchgesetzt. Die externen Kreditkosten für die Regierung sind zurückgegangen. Doch nicht alle ökonomischen Bedürfnisse können durchs Leihen befriedigt werden, es braucht auch Investitionen und den damit einhergehenden Technologientransfer. Der hat jedoch kaum stattgefunden.

Im IT-Sektor schien es allerdings bergauf zu gehen. Der deutsche Softwareentwickler SAP betont im Zuge des Krieges immer wieder, wie wichtig ihm sein Standort in Kiew ist.

Das ist einer der Erfolge. Der IT-Sektor braucht keine riesigen Investitionen. Mittlerweile ist die Ukraine ein relevanter globaler Exporteur in Bereich der IT-Dienstleistungen. Alles, was keine großen Investitionen benötigt, hat sich relativ gut entwickelt.

Zurzeit diskutiert man eher andere wichtige Exporte aus der Ukraine: Getreideexporte.

Die Ukraine ist weltweit ein wichtiger Getreideexporteur. Der Export von Grundlebensmitteln boomte bis zum Kriegsbeginn. Es stellt sich heraus: Auch in einer Pandemie müssen Menschen essen.

Wie steht es um die Arbeitskräfte?

In der Ukraine gab es seit über 20 Jahren keine Volkszählung mehr. Nicht voll repräsentative Umfragen weisen jedoch drauf hin, dass die Bevölkerung kleiner ist als gedacht – rund 38 Millionen, nicht 41 bis 42 Millionen. Die Zählungen fallen auch deswegen niedriger aus, da so viele Ukrainer im Ausland arbeiten. Diese schicken auch viel Geld zurück in die Heimat, was für die Ukraine wichtige Einnahmen sind.

Aber es fehlen auch Leute auf dem heimischen Arbeitsmarkt.

Das sind zwei Seiten einer Medaille. Der Verlust an Humankapital ist dramatisch und betrifft viele verschiedene Gruppen. Die Schlausten gehen fort – der sogenannte Braindrain –, aber auch Mittelqualifizierte und Arbeiter. Kurzfristig mag das nicht so weh tun, doch langfristig schadet es einer Volkswirtschaft, wenn der produktivste Teil der Arbeitskraft im Ausland arbeitet. Es mindert die Innovationskraft eines Landes.

Kommen wir nochmal zurück zu der Annexion der Krim. Sie schreiben in einem Artikel, dass dies auch einen positiven Effekt auf die ukrainische Wirtschaft hatte. Die Abhängigkeit von Russland wurde reduziert.

Es gibt von allem eine gute Seite. Die in den konfliktbelasteten Gebieten vorhandene Schwerindustrie bot zwar viele Jobs und generierte Profite, doch war auch ineffizient. So ein abruptes Ende dieser Industrie für die Ukraine war sicherlich hart, doch kreiert sie längerfristig möglicherweise Disruption, die fördernd ist für die Wirtschaft. Dieser Restrukturierungsprozess ist schmerzhaft, lässt sich aber gestalten. Es müssen neue Sektoren gefunden werden, die effizient sind.

Ist dahingehend schon was passiert?

Die Ukraine war flott, was die Erschließung neuer Märkte angeht. In der Vergangenheit wurde Russland als Zielland der Exporte gesehen. Das wurde als gegeben hingenommen und nicht hinterfragt. Doch im Zuge des Konflikts hat die Realität gezeigt, dass man Alternativen finden kann, wenn man muss. Heutzutage werden 40 Prozent der Waren in die EU exportiert. Und auch der Nahe und Mittlere Osten, Afrika und besonders China werden wichtiger.

Gibt es nennenswerte ausländische Investitionen?

Im kleineren Maßstab im Westen. Vielleicht kennen Sie Fischer, ein Produzent von Sportequipment. Die haben eine große Ski-Fabrik eröffnet. Oder auch deren Konkurrent Head baut ein Werk im Westen der Ukraine. Die Verträge mit der EU hatten da einen positiven Effekt. Fast 3000 zusätzliche Firmen wurden befähig in die europäischen Länder zu exportieren.

Wieso kommen diese Firmen in die Ukraine? Sind es die arbeitsintensiven Produkte, die billig in der Ukraine hergestellt werden können?

Genau. Die Arbeitskräfte sind immer noch gut ausgebildet und gleichzeitig sind die Löhne niedrig im Vergleich zu zentraleren ost-europäischen Staaten. Aus geopolitischen Gründen eingeschränkte Sicherheit ist das größte Problem für diese Firmen. Deshalb werden Investitionsprojekte meistens im kleinen Maßstab gehalten und geografisch im Westen angesiedelt – so weit weg wie möglich vom militärischen Konflikt. Um die Wirtschaft aber wirklich ins Laufen zu bringen, braucht es viel größere Investitionen. Die nationale Ambition war es immer ein zweites Polen zu werden.

Doch die Kämpfe im Donbass gingen immer weiter und verhinderten das. Wie funktioniert eine Wirtschaft im Kontext eines solchen Konflikts?

Die Leute passen sich an. Im Land gab es viel Bewegung. Eine signifikante Menge an Menschen im Osten wurden vertrieben und zogen in den Westen. Das war früher eine deprimierende Gegend, hat sich in den letzten Jahren jedoch gemausert. Und dort wo Menschen blieben und Waffenstillstände angekündigt, aber nie wirklich eingehalten wurden, hat sich die Bevölkerung mit der Militärpräsenz arrangiert. Die Wirtschaft muss weiterlaufen. Es ist wie eine Amputation: Man muss etwas abschneiden, das tut weh, aber irgendwann gewöhnt man sich dran und kann damit umgehen. Die Ökonomie ist auch so etwas wie ein lebender Organismus.

Und jetzt? Können Sie schon irgendwas Valides über die aktuelle wirtschaftliche Situation sagen?

Das ist natürlich eine ganz andere Situation. Wir können nicht mehr von der Amputation einer Gliedmaße reden. Der ganze Körper ist entzündet. Trotzdem überrascht es mich wie resilient Menschen generell sein können. Es gibt jetzt in der Ukraine eine neue Normalität. Im Westen herrscht eine relative Sicherheit. Bomben fallen, aber Menschen gewöhnen sich daran. Die Bevölkerung kann nicht fünf Stunden im Keller sitzen, wenn Arbeit erledigt werden muss. Es ist nicht sicher, aber man passt sich dem an.

Und was macht der Staat?

Es gibt Programme zur Umsiedlung von Unternehmen vom Osten in den Westen. Besonders kleine Firmen ohne große Produktionsanlagen nehmen das an. Sie ziehen um. Die ökonomische Aktivität nimmt wieder zu. Andere Firmen haben sich teilweise angepasst und Wege gefunden unter den gegebenen Umständen zu funktionieren.

Nichtsdestotrotz die Hälfte der ukrainischen Ökonomie funktioniert zurzeit nicht. Fabriken wurden zerstört, Märkte verloren und Lieferketten unterbrochen. Vielen Arbeitskräfte wurden gekündigt oder sie erhalten nicht ihren vollen Lohn.

Gibt es Zahlen?

Es gibt keine vollständigen Statistiken. Preise sind vorhanden und einige finanzielle Indikatoren, aber die meisten Anhaltspunkte basieren auf Umfragen. Trotz all der schon erwähnten positiven Dynamiken muss man mit einem ukrainischen BIP-Einbruch von rund 40 Prozent rechnen. Es könnte schlimmer werden. Das hängt davon ab, wie lange der Krieg noch andauert. Dass er schon sehr bald zu Ende ist, halte ich für unwahrscheinlich.

Zum Weiterlesen:
Olga Pindyuk (2021): 30 years of Ukrainian independence: Is there a cause for optimism?. wiiw News & Opinions. 

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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