Wirtschaft
anders denken.

Unerfüllte Rechtsansprüche – Gefahr für Demokratie und Wirtschaftsstandort

12.02.2024
UnterhaltsreformFoto: Myléne auf Pixabay

Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt mit ihrem Fachkräfteradar 2023, die KiTa-Betreuungszeit für Kinder zu kürzen. Und schlägt damit erneut eine Privatisierung der Care-Arbeit vor. 

Im Vorweihnachtstrubel waren die brisanten Empfehlungen der Bertelsmann Stiftung (BMS) zum Fachkräfteradar für KiTa und Grundschule 2023 irgendwie untergegangen. Ende Januar 2024 legt die Wochenzeitung DIE ZEIT nach und stellt sich in einem Beitrag uneingeschränkt hinter die Forderung der Stiftung: »Weniger Stunden für alle!« Damit ist nicht etwa eine generelle Verkürzung der wöchentlichen Erwerbsarbeitszeit auf 30 Stunden in diesem systemrelevanten Berufsfeld gemeint. Auch Forderungen nach besserer Bezahlung, wie sie derzeit landauf, landab von Bauern, Lokführern, dem Sicherheitspersonal oder von Busfahrern gefordert werden, fehlen.

Stattdessen ist zu lesen, man habe den Familien mit dem Rechtsanspruch auf 7-8 Stunden Kinderbetreuung einfach zu viel versprochen. Jetzt helfe angesichts von bundesweit fehlenden Kita-Plätzen und einem empfindlichen Personalmangel – neben der Einführung von »Quereinsteiger«-Programmen und einer Entlastung pädagogischer Fachkräfte von hauswirtschaftlichen Tätigkeiten und Verwaltungsaufgaben – nur noch ein radikaler Schnitt: Mehr als sechs Stunden Betreuung täglich pro Kind sei einfach nicht drin. Ganz abgesehen davon, dass selbst sechs Stunden Betreuung im ländlichen Raum und zunehmend selbst in Universitätsstädten wie zum Beispiel in Tübingen nicht oder längst nicht mehr überall angeboten werden, fehlen den Kitas bundesweit derzeit etwa 100.000 Fachkräfte. Zudem werden hauswirtschaftliche oder pädagogische Ausbildungsgänge aufgrund von drastisch sinkenden Anmeldezahlen gerade vielerorts zurückgefahren oder ganz eingestellt, so dass diese Empfehlungen vollkommen ins Leere laufen.

Allein in Baden-Württemberg hat sich zuletzt die Zahl der fehlenden Betreuungsplätze nochmal um 1.800 auf 59.400 Plätze erhöht. Zugleich fehlen dort mehr als 18.000 Erzieherinnen und Erzieher, um die Kinder betreuen zu können, deren Eltern dies wünschen. Anstatt aufgrund dieser dramatischen Entwicklungen den Dienstleistungssektor »Sorge- und Versorgungswirtschaft« prioritär anzukurbeln, gerade dort die Arbeitsbedingungen entschieden zu verbessern und endlich für alle Azubis in diesem Berufsfeld eine Ausbildungsvergütung zu zahlen und mit der Zumutung Schluss zu machen, ihnen monatlich 300 Euro Schulgeld abzuverlangen, wird das Problem in Deutschland wieder einmal privatisiert. Eltern müssten untereinander einfach solidarischer sein, so stellt Bock-Famulla, eine der Autorinnen der Studie lapidar fest. Sechs Stunden KiTa-Betreuung sei doch schließlich besser als gar keine Betreuung.

Ist das allen Ernstes die Empfehlung einer politisch einflussreichen Stiftung zum Thema frühkindliche Bildung, Ganztagsbetreuung und Gleichstellung? Und wo bleibt der Aufschrei von führenden Wirtschaftsinstituten, CEOs oder den Wirtschaftsweisen, die in der Hebung des inländischen weiblichen Qualifikationspotentials doch einen Weg aus dem allseits beklagten, sich weiter verschärfenden Fachkräftemangel in der alternden deutschen Gesellschaft sehen müssten?

Fakt ist: Care-Aufgaben werden hierzulande nach wie vor nicht als systemrelevant, sondern als ein ärgerlicher Kostenfaktor betrachtet, den man am besten dadurch minimiert, diese Aufgaben verstärkt und unbezahlt wieder in den »heiligen Schoß« der Familie, genauer: an die Mütter, zurück zu delegieren. Diese hätten mit ihrem Anspruchsverhalten inzwischen einfach einen zu großen »Kita-Fußabdruck«. Gleichzeitig sollen Frauen aber ihre Wochenarbeitszeit erhöhen. Der deutsche Beamtenbund und Tarifunion (DBB) zum Beispiel hält mit Blick auf die gestiegenen Anforderungen im öffentlichen Dienst unumwunden an der 41- Stundenwoche fest. Wundert sich im Angesicht dieser Misere eigentlich ernsthaft jemand über die zunehmende Politikverdrossenheit, die gerade unter Müttern mit Kindern überdurchschnittlich hoch ist? Ganz zu schweigen von dem Dilemma, das diese Tendenz für Alleinerziehende zwischen Sorgeverantwortung und Existenzsicherung für sich und ihre Kinder bedeutet.

Die Empfehlung der BMS macht fassungslos. Das ist kein strukturell zielführender Masterplan, sondern ein Weiterwursteln wie gehabt, mehr noch: ein Rückfall, den es in den meisten anderen europäischen Ländern so einfach nicht gibt. Und das Trauerspiel endet ja nicht, wenn der Nachwuchs das KiTa-Alter hinter sich hat: 2022 haben bundesweit fast 530.000 Plätze in der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder gefehlt. Sind diese Lebensphasen dann irgendwie überstanden, für Mütter bestenfalls mit einer kleinen Teilzeit, kündigt sich die nächste Care-Krise an: der Betreuungs- und Pflegebedarf älterer Familienangehöriger. Bis 2030 werden 6 Millionen Menschen 80 Jahre und älter sein, 2050 dann 10 Millionen (15. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes 2023).

Doch hat diese sich sehenden Auges zuspitzende Care-Katastrophe von der Wiege bis zur Bahre in den Verhandlungen um den Bundeshaushalt 2024 auch nur in einem einzigen Redebeitrag im Deutschen Bundestag eine Rolle gespielt? Nein. Gibt es eine Task Force im Bundeskanzleramt, die sich diesem Drama annimmt? Nein.

Soviel allerdings steht fest: Personalengpässe in der Kinderbetreuung, in Krankenhäusern und in der ambulanten und stationären Pflege werden den Arbeitskräftemangel an anderen Stellen nochmals erheblich verschärfen, weil dann viele weibliche Erwerbspersonen ihre Kinder selbst betreuen oder ihre Angehörige selbst pflegen müssen. Damit droht dem alternden Deutschland  ein sich selbst verstärkender Abwärtsstrudel und der Arbeitskräftemangel wird die Funktionsfähigkeit Deutschlands noch stärker einschränken als bisher schon und zwar mit ganz erheblichen Folgen für den Wirtschaftsstandort. Das hat Politik in Deutschland allerdings immer noch nicht verstanden. So argumentiert Finanzminister Lindner unverdrossen, dass soziale (und ökologische) Vorhaben nur umgesetzt werden könnten, wenn das wirtschaftliche Fundament stimmt, also die Rendite getriebene Güterproduktion oder HighTech-Industrie (Handelsblatt 6.02.24). Care-Dienstleistungen für Mensch und Natur werden selbstredend gar nicht als Bestandteil des Wirtschaftssystems begriffen, sondern ins Außen verlegt, um Kosten zu sparen. Für Menschen mit Care-Verpflichtungen bedeutet das: geringe Lebenserwerbseinkommen, Überforderung und die immer größer werdende Gefahr von Altersarmut, vor allem für Frauen – trotz ihrer guten Bildungs- und Qualifikationsabschlüsse.

Geschrieben von:

Uta Meier-Gräwe

Soziologin und Haushaltsökonomin

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