Unglaublich, dieser Neoliberalismus
Seit Jahrzehnten dominiert diese Politik: Der Staat spart rigide, investiert notorisch zu wenig, fördert die Unternehmen und lässt den Markt machen. Wer das vertritt, wird auch noch von Mehrheiten gewählt. Hermann Adam über die fast unglaubliche Kraft einer neoliberalen Politik. Und der Abkehr der Ökonomenzunft von ihr! Teil 1 der OXI-Serie zu den großen Irrtümern des Neoliberalismus.
Es gab eine Schrecksekunde: In der Finanzmarktkrise 2008/09 und kurze Zeit danach gestanden sogar führende Manager, wie Josef Ackermann, damals Vorstandssprecher der Deutschen Bank, und konservative Politiker, sie seien überrascht von der Krise und ihrer Wucht, sie seien ratlos, und so gehe es nicht weiter, die Politik müsse jetzt das Ruder übernehmen. Die Politik des Neoliberalismus geriet für kurze Zeit in die Defensive. Das war schnell vorbei. In Deutschland dominiert spätestens seit 2010 wieder eine Politik, die »wachstumsorientierte Austeritätspolitik« genannt wird; der Staat spart rigide, fördert die Unternehmen, schützt die Reichen und will so das Wirtschaftswachstum fördern.
Ob Schröder oder Merkel – Keynes chancenlos
Das Gegenteil wäre eine Politik nach den Vorstellungen von John Maynard Keynes: Der Staat nimmt Geld auf, verschuldet sich also, investiert das Geld beispielsweise in die öffentliche Infrastruktur – ob Schulen, Straßen, Nahverkehr, Wohnungen, Bibliotheken, digitale Netze – und schafft so Wachstum und Arbeitsplätze.
Seit dem Sturz der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt im Herbst 1982 findet diese keynesianische Wirtschaftspolitik nur noch wenig Zustimmung. Während der langen Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl (von 1982 bis 1998) wurde zwar keine marktnahe Angebotspolitik nach Lehrbuch betrieben. Aber beispielsweise staatliche Beschäftigungsprogramme wurden von Kohl immer strikt abgelehnt, weil sie »Milliarden verschlungen haben, ohne die Lage am Arbeitsmarkt stabilisieren zu können«, so sein Urteil. Als es 1998 zu einem Wechsel der Regierung kam und unter Bundeskanzler Gerhard Schröder die SPD und die Grünen regierten, kam es wider Erwarten zu keinem Wechsel in der Wirtschafts- und Steuerpolitik. Denn auch die rot-grüne Koalition hatte Keynes nicht im Sinn. Im Gegenteil: Aufgrund der Steuerreform des Jahres 2000 sanken die Steuereinnahmen von 467 Milliarden Euro (2000) auf 452 Milliarden Euro (2005). Im gleichen Zeitraum kürzte der Staat drastisch seine Investitionen, so dass nicht einmal genügend Finanzmittel zur Verfügung standen, um die Substanz der öffentlichen Infrastruktur zu erhalten; also das genaue Gegenteil einer expansiven keynesianischen Wirtschaftspolitik. Im ersten Kabinett Angela Merkel (2005 bis 2009) erlebte der Keynesianismus mit zwei Konjunkturpaketen zwar notgedrungen eine kurze Renaissance – es ging darum, die unmittelbaren Folgen der Finanzmarktkrise abzumildern -, aber kurz danach herrschte wieder die von Finanzminister Wolfgang Schäuble strikt verfolgte Politik des Abbaus der Staatsschulden und des ausgeglichenen Haushaltsausgleichs (»Schwarze Null«).
Eine Quelle dieser Macht: die Zentralbank
Wir können also festhalten: Über Jahrzehnte und über Parteien hinweg dominiert diese Politik in Deutschland. Das heißt auch: Parteien, die diese Konzepte vertreten, gewinnen bei jeder Wahl die Mehrheit. Andere Parteien, die bewusst andere Konzepte vertreten, erreichen, wenn sie Glück haben, etwa zehn Prozent an Wählerstimmen. Und: Deutschland macht sich damit international zudem zum ungeliebten Außenseiter; in der EU und im westlichen Ausland verfolgen die meisten Regierungen einen anderen Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Woher rührt also die Macht dieser neoliberalen Konzepte?
Eine Antwort: Deren Anhängern ist es oft gelungen, ihre Politik über Institutionen abzusichern. So wurden die Deutsche Bundesbank wie später dann die Europäische Zentralbank (EZB) von der Politik verpflichtet, ihre jeweilige Unabhängigkeit vor allem zu nutzen, um die Preise stabil zu halten. Mit der Idee der Demokratie ist eine solche Festlegung nicht zu vereinbaren. Denn Demokratie geht so: Die gewählte Regierung legt fest, welche Ziele sie verfolgt. Die Zentralbank tut dann mit ihrer Geldpolitik alles, um diese Politik zu unterstützen. Beispiel: Das wichtigste Ziel der gewählten Regierung ist die Vollbeschäftigung beziehungsweise eine möglichst hohe Beschäftigungsquote. Dann müsste die Zentralbank eine expansive Geldpolitik betreiben: also beispielsweise die Zinsen niedrig halten, alles tun, damit Unternehmen günstig an Kredite kommen. Stünde für die Regierung das Ziel von stabilen Preisen an oberster Stelle, dann müsste die Zentralbank das Gegenteil tun, also eine restriktive Geldpolitik betreiben: beispielsweise die Zinsen hochhalten, um unternehmerische Aktivitäten eher zu bremsen. Deshalb dürfte in einer Demokratie die Zentralbank nicht wie bei uns von vornherein auf ein Ziel verpflichtet sein: die Preise stabil zu halten. In einer Demokratie müsste die Zentralbank auf einen breiteren Zielkatalog verpflichtet werden, so dass sie mit ihrer Geldpolitik den jeweiligen, sehr wohl wechselnden Zielen einer demokratisch legitimierten Regierung dienen könnte.
Mit Demokratie unvereinbar
Eine solche, der Demokratie angemessenen Lösung haben die neoliberalen Kräfte in Deutschland bereits bei der Bundesbank verhindert. Sie schafften es in den 1950iger Jahren, die Geldpolitik der deutschen Notenbank in einer Sphäre des scheinbar ›Unpolitischen‹, des ›sachlich Neutralen‹ und des ›Über-den-Interessen-stehenden‹ anzusiedeln. Die Folge: 1957 wurde die Deutsche Bundesbank als autonome Instanz geschaffen, die von Weisungen der Bundesregierung unabhängig und auf das alleinige Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist. Damit wurde ihr nicht nur im Kern ein neoliberales Korsett verpasst, das sie auf alle Zeit bindet. Damit wurde auch de-facto der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum aller Regierungen eingeschränkt. Der wirtschafts- und finanzpolitische Korridor, in dem sich eine Regierung bewegen kann, wenn ihr die Steuerung der Geldpolitik entzogen wird, ist sehr eng. Das betrifft auch den Handlungsspielraum in der Sozialpolitik. Egal wie die Wahlen ausgehen, jede Regierung im Eurogebiet muss mehr oder weniger eine neoliberale Wirtschaftspolitik betreiben. Griechenland und Frankreich mussten das in letzter Zeit schmerzlich erfahren. Die »politische Formel«, mit der die Herrschaft des neoliberalen Regimes legitimiert wird, findet in der weisungsunabhängigen und auf Preisstabilität ›vereidigten‹ EZB ihre institutionelle Ergänzung.
Dieses ›Modell Bundesbank‹ diente – auf massives Drängen der deutschen Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl – als Vorbild für die EZB. Sie hat laut EU-Vertrag ebenfalls vorrangig das Ziel der Preisstabilität zu verfolgen und muss die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union nur insoweit unterstützen, wie dies ohne Beeinträchtigung der Preisstabilität möglich ist. Die Finanzpolitik der einzelnen EU-Regierungen wurde ebenfalls mit Regeln aus der Welt des Neoliberalismus recht eng eingezäunt: der Staat darf ein bestimmtes Defizit, seine Schulden dürfen eine bestimmte Obergrenze nicht überschreiten.
Unter Ökonomen: Neoliberalismus ohne Mehrheit
Da genau diese Punkte im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung in Deutschland auf eine sehr hohe Zustimmung stoßen, sei angefügt: Selbstverständlich muss beispielsweise jede Regierung genau überlegen, wie viele Schulden sie macht, und sie muss sich dafür rechtfertigen. Nur: Das ist in einer Demokratie die Angelegenheit jeder gewählten Regierung. Und es ist auch wirtschaftspolitisch unsinnig, solche Regeln auf Dauer festzulegen, so dass sie immer anzuwenden sind, egal wie die Lage der Wirtschaft und der Finanzen einer Volkswirtschaft sind.
Erst die Bundesbank und dann die EZB: Die Macht des neoliberalen Denkens findet in diesen Institutionen ihren Ausdruck. Denn die eine Institution genoss Jahrzehnte und die andere genießt heute hohes Ansehen in der deutschen Bevölkerung. Das ist auch begründet: Denn in diesen Institutionen versammelt sich ein enormer ökonomischer Sachverstand. Die spannende Frage ist nur: Wird der für die richtigen Ziele eingesetzt? »Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Deutsche Bundesbank«, soll der frühere Präsident der EU, Jacques Delors, anlässlich ihres 50. Jubiläums geäußert haben.
Nun muss der folgende überraschende Befund genau analysiert und gewichtet werden: Unter den Ökonomen Deutschlands ist das Gedankengut des Neoliberalismus alles andere als unumstritten. Unter den Mitgliedern des ebenso renommierten wie in der Zunft einflussreichen Vereins für Socialpolitik – ein Zusammenschluss von etwa 4 000 deutschsprachigen Wirtschaftswissenschaftlern – wurde im Jahr 2015 eine Umfrage gemacht. Das Meinungsbild war alles andere als einheitlich, und die Konzepte des Neoliberalismus scheinen sehr umstritten zu sein. So erklärte immerhin ein gutes Drittel (36 Prozent): »Finanzpolitik kann ein effektives Instrument sein, den Konjunkturzyklus zu stabilisieren.« Aber genau das meidet der Neoliberalismus wie der Teufel das Weihwasser. Der Anteil derer, die die Finanzpolitik nur in besonderen Ausnahmefällen nutzen wollen, hat im Vergleich zu 2010 von 70 auf 53 Prozent abgenommen. Und: Nur 33 Prozent der befragten Ökonomen gaben an, sich dem Konzept der Neoklassik verpflichtet zu fühlen; Grundlage dieses Modells ist das Bild des ›homo oeconomicus‹, also des Menschen, der immer rational und nur nach seinen engen wirtschaftlichen Vorteilen entscheidet und handelt. Immerhin 15 Prozent erklären, Keynesianer zu sein. Nur eine Minderheit war gegen den Mindestlohn. Und mehr als 80 Prozent meinten, die gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen müsse künftig in der Wirtschaftspolitik eine bedeutendere Rolle spielen.
Bilanz: Der Neoliberalismus ist gar nicht der Mainstream der Ökonomen-Zunft. Viele Ökonomen denken (und lehren wahrscheinlich) undogmatisch und viel pluralistischer als angenommen. Wenn das so ist, warum erscheint dann der Neoliberalismus in der allgemeinen Öffentlichkeit als Mainstream?
Die Schweigespirale der Ökonomen
Eine Erklärung: Auch für Ökonomen gilt der Mechanismus der Schweigespirale. Wirtschaftswissenschaftler registrieren: wer wird in die Talkshows eingeladen? Wer wird von den Medien interviewt? Wer wird von Regierungen in Kommissionen berufen und wer nicht? Für welche wissenschaftlichen Projekte geben Regierungen und Wissenschaftsorganisationen Geld aus und für welche nicht? So denken Wissenschaftler, die nicht dem neoliberalen Denken anhängen, sie seien in der Minderheit – und schweigen lieber. Weil die einen schweigen, weil die Befürworter gefördert werden, deshalb dringt die neoliberale Sicht auf die Wirtschaft in der Öffentlichkeit durch – auch wegen ihrer simplen, eingängigen Aussagen.
So ist von den großen wirtschaftswissenschaftlichen Instituten (mit guter Medienpräsenz) nur eines keynesianisch ausgerichtet, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, ebenfalls so ausgerichtet, genießt zwar in der Wissenschaft einen guten Ruf, wird in den Medien aber stets mit dem Etikett »gewerkschaftsnah« versehen. Das ist zwar richtig, aber dann müssten fairerweise andere Institute auch als das ausgewiesen werden, was sie sind: unternehmensnah und Dienstleister der Arbeitgeberverbände. Hinzukommt ein Keynesianer im Sachverständigenrat, Peter Bofinger. Das reicht nicht, um in der Öffentlichkeit ein Gegengewicht zu bilden. Die Bedingungen einer deliberativen Demokratie, in der ein offener Austausch von Informationen und Argumenten auf Augenhöhe stattfindet, ist nicht gegeben. Vor allem wird der Bevölkerung in einem viel zu geringem Umfang vermittelt, welchen wirtschaftlichen Interessen die beiden großen ökonomischen Schulen des Neoliberalismus und des Keynesianismus jeweils dienen; die vielen anderen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätze wie der Institutionalismus, Postwachstumstheorie und viele andere sind zwar nicht gering zu schätzen, jedoch wird die zentrale öffentliche und politische Auseinandersetzung zwischen den beiden genannten Schulen geführt.
Der Text basiert auf dem Artikel »Von der Inflationsphobie bis zur »schwarzen Null« von Hermann Adam, der jüngst im wirtschaftsdienst, Ausgabe 7/2016 erschien.
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