Wirtschaft
anders denken.

»Ungleichheit hat mit der Produktivität der Leute zu tun.« Wie bitte? Mythen und Fakten zur sozialen Lage in Deutschland, Teil V

23.11.2018
Illustration: Marie Geissler

Sind die »Armen« in Deutschland gar nicht arm? Ist Ungleichheit »leistungsgerecht«? Fehlt es Deutschland bloß an Chancengleichheit? Dass Einkommen und Vermögen hierzulande krass ungleich verteilt sind, ist allgemein bekannt. Aber wie läuft die Debatte? Wir haben uns einige der gängigen Rechtfertigungen für die bestehende Ungleichheit und Lösungsargumente angesehen. Eine »Oxi«-Serie.


»Vergesst nicht, welcher Gaul den karren zieht.« (Jürgen Thumann, Ex-Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, als Reaktion auf die Kritik an hohen Managergehältern)

Was wird gesagt? 

Einkommen sind ungleich – einige verdienen mehr, andere weniger. Doch das ist an sich nicht ungerecht. Denn wer produktiver ist, der verdient auch mehr. »Vom Standpunkt der Meritokratie, welche Entlohnung und Leistung als Äquivalenzverhältnis (Entsprechungsverhältnis) betrachtet, ist nichts daran auszusetzen, dass Bildungs- und Produktivitätsdifferenzen sich im Einkommen spiegeln.« (siehe hier in der FAZ)

Was ist dran? 

Entscheidend ist hier, was mit »Produktivität« gemeint wird. Wie misst man die? Ein Vorstand eines Konzerns aus dem Deutschen Aktienindex verdient etwa 107-mal so viel wie ein Durchschnitts-Beschäftigter – weil er 107-mal produktiver ist? Eine Industriearbeiterin verdient doppelt so viel wie ein Altenpfleger – weil sie doppelt so produktiv ist? Wie vergleicht man die Produktivität eines Arztes mit der der Reinigungskraft, die seine Praxis putzt? 

Möglich wäre noch der Vergleich der Produktion pro Zeiteinheit bei gleichen Tätigkeiten und halbwegs ähnlichen Produkten. Zum Beispiel könnte sich zeigen, dass der VW-Arbeiter in Wolfsburg mehr Autos pro Tag produziert als der Fiat-Arbeiter in Sizilien. Aber man kann nicht belegen, dass der VW-Manager in Wolfsburg produktiver ist als der VW-Arbeiter und der VW-Arbeiter produktiver als die Reinigungskraft im Werk. Denn die Tätigkeiten lassen sich nicht vergleichen. Und schon gar nicht lässt sich die Produktion des VW-Arbeiters mit der des Altenpflegers vergleichen. 

Ökonom_innen greifen daher zu einem Trick: Sie berechnen zum Beispiel die Produktivität der Mitarbeiter_innen eines Betriebs, indem sie den Umsatz oder den Gewinn durch die Zahl der Mitarbeiter_innen teilen. Der Umsatz oder Gewinn je Mitarbeiter_in entspricht dann ihrer bzw. seiner Produktivität. Aber auch so lassen sich Verdienstunterschiede zwischen dem VW-Arbeiter und der VW-Reinigungskraft nicht rechtfertigen – die Produktion des Betriebs ist ihr Gemeinschaftswerk. Also müssten beide das Gleiche verdienen. 

Vertreter_innen der Produktivitätsthese lösen das Problem einfach mit der Antwort: Natürlich seien Industriearbeiter_innen produktiver als Reinigungskräfte, das zeige ja ihr höheres Einkommen. Doch dieses Argument ist ein Zirkelschluss: Das höhere Einkommen der Arbeiter_innen soll ihre höhere Produktivität belegen, und diese höhere Produktivität soll wiederum ihre höheren Einkommen rechtfertigen. 

Tatsache ist: Was Beschäftigte verdienen, hängt von vielen Dingen ab. Vor allem von den Machtverhältnissen am Arbeitsmarkt: Sind bestimmte Beschäftigte gerade gefragt oder gibt es sie im Überangebot? Sind die Gewerkschaften stark oder schwach? Ist die Arbeitslosigkeit hoch oder niedrig? Gibt es einen wirtschaftlichen Boom oder eine Krise? Auch die Höhe der Lebenshaltungskosten in einem Land spielt eine Rolle. 

Eine kurze Anmerkung zur »Bildung«: Sie engt den Kreis der Bewerber_innen auf einen Job ein – daher gilt tendenziell: Je mehr Bildung, umso höher das Einkommen. Gleichzeitig weiß aber jeder taxifahrende Doktor der Philosophie und jede prekäre Web-Designer, dass Bildung kein hohes Einkommen garantiert. 

Diese Serie behandelt Mythen und Fakten zur Ungleichheit in Deutschland. Sie basiert auf der Publikation »luxemburg argumente«, die 2016 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegeben wurde. Wo es möglich war, wurden Daten aktualisiert. Illustration Marie Geißler, www.mariegeissler.de. Die Broschüre ist derzeit nur online bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erhältlich.

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