Wirtschaft
anders denken.

»Unkundig oder bösartig«: Was Herr Schröder über die Tafeln zu sagen hat. Eine Entgegnung

28.02.2018
Huhu Uet, Lizenz: CC BY-SA 3.0Tafel in Uetersen

Müssen im reichen Deutschland Menschen hungern? Alles bösartige Unterstellungen, die zur Diktatur führen können, polemisiert der Theologe Richard Schröder und weist Kritik an der Tafelbewegung zurück. Entgegnung auf einen Text, in dem Verachtung der Armen, Ethnisierung und Unverständnis zusammenfinden.

Gerade wenn man denkt, zur Debatte um die Essener Tafel sei eigentlich schon alles gesagt, meldet sich noch jemand zu Wort – in diesem Fall der Theologe Richard Schröder (hinter der Paywall). Darüber, was der ostdeutsche Sozialdemokrat in der »Welt« zum bereits vielfach bespielten Thema herkunftsabhängige Exklusion, also über den zeitweisen Ausschluss von Migranten und Geflüchteten von der Registrierung einer Tafel sowie zur Frage anzumerken hat, wer hier eigentlich wen und warum in Konkurrenz um Essensunterstützung in einem reichen Land bringt, darüber könnte man sogar ein eigenes Seminar machen.

Schröder nennt die wachsende Zahl auch nichtdeutscher Hilfsbedürftiger »einen darwinistischen Verdrängungsprozess«, was, wenn der Begriff nicht versehentlich aus dem Kopf gepurzelt ist, die sozialen Probleme von Menschen, die im Essener Tafelfall zutage treten, zu einem Selektionsprozess von »denen« und »unseren« zuspitzt, was man in Anlehnung an Forschungen am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung einen Fall von »ethnozentristischen Ethnisierung« nennen könnte.

Der Debattenbeitrag des Theologe versucht gleich mehrfach, quasinatürliche Eigenschaften und kulturelle Eigenarten auf »die andern« zu projizieren. Die »durchweg jungen, kräftigen und … nicht selten recht resolut auftretenden Migranten« geraten dabei zu »Überrepräsentation … zulasten alter Frauen und alleinstehender Mütter«, die »Opfer« sind für den SPD-Mann nur »einheimische« Personen. Aber wie gesagt, das wäre ein anderes Seminar.

Was Stalin mit der Kritik an Armut zu tun haben soll

An dieser Stelle soll es um etwas anderes gehen: das Verständnis der so genannten Tafeln und der Menschen, die dort Essensunterstützung bekommen, die Verhältnisse in einem Sozialstaat nach dem teilweisen Rückzug und um die Frage, ob in der Bundesrepublik irgendjemand hungern müsse.

Erstens: »In Deutschland muss doch niemand hungern«, ist Schröders Text überschrieben. Der Theologe knüpft hieran eine ganze Argumentationskette, die in Kurzform vielleicht so zu beschrieben ist: Wer anlässlich des Essener Falls auf die Idee kommt, die Frage zu stellen, warum hierzulande Menschen überhaupt »um ein Stück Brot betteln müssen«, macht sich einer »Pauschalkritik am deutschen Sozialstaat« schuldig, die »unzutreffend, skandalös und ahnungslos« ist. Solche »Schwarzmalerei« sei »Verachtung des bestehenden Guten« und führe »schnell auf die schiefe Ebene, die den Himmel auf Erden verspricht und die Hölle auf Erden installiert«. Und Schröder bringt es doch tatsächlich fertig, von der Kritik an den Tafeln auf »Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot« zu kommen. Und das im Namen der »Gesellschaftskritik«.

Was genau ist »Hunger«?

Zweitens: Schröder behauptet, »soweit Gesetze das regeln können, muss niemand in Deutschland hungern oder um ein Stück Brot betteln«. Wer anderes sagt, sei »unkundig oder bösartig«. Was aber genau ist »Hunger«? In der Regel wird man das Wort benutzen, wenn von einem Mangel an Nahrung die Rede ist, wenn es um die Nichtbefriedigung des Gefühls geht, das durch das Bedürfnis zu essen hervorgerufen wird. Es gibt ganz verschiedene Formen des Hungers, den einen kann man in Kalorien messen (bzw. daran, wie viele fehlen), den anderen in der Art und Weise, in der Ernährung beschränkt wird.

Schröder hat an andere Stelle in seiner Polemik dazu geraten, doch das Telefon zur Erkundigung zu benutzen, bevor man irgendwelche Dinge herausposaunt. Nun gut: Der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung kennt das soziale Problem der »materiellen Deprivation«, das wird auch europaweit durch statistische Behörden gemessen und beschreibt, »inwieweit sich Personen als üblich geltende Güter und Aktivitäten nicht leisten können«. Als ein Merkmal (drei müssen »erfüllt« sein) gelten auch finanzielle Probleme, »jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische Mahlzeit essen zu können«. Die Quote der materiellen Deprivation lag 2015 in der Bundesrepublik bei 4 Prozent, unter Alleinerziehenden bei über 11 Prozent, unter Erwerbslosen bei über 30 Prozent.

Nun wird man vielleicht nicht den Begriff »Hunger« dafür verwenden, auch deshalb nicht, weil es einen gravierenden Unterschied zu den tödlichen Hungerbedrohungen weltweit gibt. Es gibt aber Begriffe wie »verborgener Hunger« oder »Ernährungsarmut«, die auf Mangelernährung verweisen, die wiederum auf zu geringe Einkommen zurückgeführt wird. Es werden dazu in diesem Land schon länger Tagungen veranstaltet, es gibt dicke Bücher darüber.

Ernähungsarmut, Hartz und die »Vernunft«

In einem heißt es unter anderem, und es ist kritisch gemeint: »Tafeln sind eine Antwort auf die wachsende Ernährungsarmut in unserer Gesellschaft.« Der Hohenheimer Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski hat vor ein paar Jahren darauf hingewiesen, dass besonders Kinder in armen Familien, die von Hartz IV leben müssen, betroffen sind; es fehlten häufig wichtige Nährstoffe. Biesalski sagt auch, das liege weniger an einem Mangel an Lebensmitteln als an ökonomisch erklärbaren Ernähungsengpässen – etwa durch Einseitigkeit, durch schlechte (meist billigere) Lebensmittel, dadurch, das Geld für ein Mittagessen in der Schule fehlt und so fort. In einem Land wie der Bundesrepublik kann es aber nicht um Sattwerden gehen, sondern um gesellschaftlich begründbare Mindestbedingungen wie die, gesund zu bleiben. Wie sieht es in Wirklichkeit aus: Der Ernährungsexperte hat einmal formuliert, »der Tagessatz von Hartz IV für Ernährung reicht nicht aus, um ein Kind zu ernähren«. Man könnte hier von Hunger sprechen. Aber es geht ja nicht um Emotionalisierung per Wörter. Sondern um die tatsächliche Lage.

Man könnte hier viele weitere Belege, Zahlen, Überlegungen anknüpfen. Es wurde auch im Fernsehen schon berichtet, große NGOs haben sich des Themas angenommen. Man könnte dabei jedenfalls zu einem Punkt gelangen, an dem sich Behauptungen wie »Wer bedürftig ist, hat nicht viel Geld. Aber hungern muss er nicht, wenn er sein Geld vernünftig einsetzt« verbieten. Oder man es jedenfalls vorsichtiger formulieren würde, zugestehend, dass man »Hunger« erst definieren muss; und auch akzeptierend, dass Formulierungen wie »wenn er sein Geld vernünftig einsetzt«, auf einen Vernunftbegriff zulaufen, dem hier ein konkreter Inhalt fehlt, und der also vor allem dazu benutzt wird, die Entscheidungen der Armen mit Skepsis zu belegen und die Kritik an den Gründen der Armut als unvernünftig.

Herrn Schröders Bild von Gesellschaft

(Auf eine eklatante Weise inakzeptabel ist der in SchröderS Polemik dann folgende Satz, der mögliche Einschränkungen der »Vernunft« beim Haushalten mit 145 Regelsatz-Euro für Nahrung und 10 Euro für Gaststättendienstleistungen zum individuellen Problem erklärt und damit ent-sozialisiert: Es sei dann eben des Armen »seine Sache und kein berechtigter Anlass, ›uns‹ oder ›der Gesellschaft‹ Vorwürfe zu machen«. Und das angesichts einer doch recht umfangreichen, faktengesättigten Beschreibung der realen Lage im »gesellschaftlichen Unten«. Zu dem Herr Schröder nicht gehört, über das er aber gern in der Pose des Pädagogen schreibt: »Wenn ein Bedürftiger Lebensmittel verbilligt kaufen kann, spart er Geld, das er für andere nützliche oder auch schöne Zwecke verwenden kann. Das wollen wir ihm ja gern gönnen, wenn er aber bitte davon absieht, uns weiszumachen, dass ihm sonst der Hungertod droht.« Schröder hat ein Bild von Gesellschaft, in dem es soziale oder ökonomische Ursachen für Lebensläufe nicht gibt, sondern nur individuelles Schicksal.)

Drittens: Der Theologe betätigt sich auch als Tafel-Theoretiker. Diese seien »nicht eingerichtet worden, um den Hunger zu bekämpfen«, sondern, »um den Frevel der Vernichtung von Lebensmitteln zu begrenzen«. Für wirklich hungernde, Schröder spricht von Drogenabhängigen und »verkrachten Existenzen«, seien stattdessen die Suppenküchen da.

Die Tafeln sieht Schröder daher als »sehr begrüßenswerte Einrichtung, weil sie den bei uns eingerissenen leichtfertigen Umgang mit Lebensmitteln, die andernorts in der Welt fehlen, an einer markanten Stelle stoppen«. Eine ganze Literatur sieht das ein wenig anders, jedenfalls skeptischer. Schröder hätte nur einmal bei Sachkundigen anrufen müssen.

Denn mit der Vermeidung von Lebensmittelvernichtung allein oder auch nur vordergründig hat diese inzwischen riesige Subsistenzökonomie der Tafeln nicht mehr viel zu tun. Und selbst zu diesem Motiv müsste man mindestens anmerken, dass Lebensmittelproduzenten und Händler durchaus beträchtliche Vorteile haben, wenn die Tafeln nicht verkäufliche Lebensmittel abholen: die Geber ersparen sich erhebliche Kosten für Abtransport und Entsorgung.

Der Punkt ist aber ein anderer: Die Tafeln sind zu einem selbstständigen Bereich nichtstaatlicher Armenfürsorge geworden, auf den staatliche Behörden inzwischen wie selbstverständlich verweisen: Wenn ihr Transfereinkommen nicht reicht, gehen Sie halt zur Tafel.

Subsistenzökonomie ersetzt staatliche Aufgaben

Der Sozialexperte Stefan Sell hat es so formuliert: »Ein Problem entsteht erst, wenn sich diese Institution verselbständigt und vor allem ihr Grundcharakter eines freiwilligen, zusätzlichen, den Alltag der Bedürftigen möglichst niedrigschwellig erleichternden Angebots faktisch sukzessive im Sinne einer ›Normalisierung‹ zerstört wird – und die Tafeln auf einmal für die Existenzsicherung zuständig sind, die doch eigentlich eine staatliche Aufgabe ist.«

Bundesweit gibt es aktuell über 930 Tafeln mit mehr als 2.100 Läden und Ausgabestellen, viele in der Trägerschaft von gemeinnützigen Institutionen. Dass die Tafelbewegung derart professionell geworden ist, lässt sich schwerlich in einem Vorwurf gegen sie umkehren. Das Problem ist, dass hier freiwillig, aber eben auch ohne Rechtsanspruch und abhängig von der Gutwilligkeit anderer, etwa dem Lebensmittelhandel, Ernährungshilfe geboten wird, die auch gebraucht wird. Die Tafeln wurden so zu Institutionen, die das Existenzminimum sichern, »für das doch eigentlich das Grundsicherungssystem zuständig sein sollte«. Wenn der Bedarf steigt, kommen nicht mehr alle auf die Liste. Das führt dazu, dass es zur Glückssache wird, ob man in den »Genuss« der Tafelernährung kommt – oder eben nicht. Sell bringt es auf den Punkt: Das darf, das kann »kein Maßstab für die sozialpolitische Gestaltung der Existenzsicherung von Millionen Menschen sein«.

Schröder schreibt, »es wäre schon ganz schön, wenn sich Politiker, ehe sie sich alarmistisch äußern, kundig machen. Es gibt doch Telefone.« Das gilt auch für Ex-Politiker, die den angeblichen Alarmismus kritisieren wollen. Wo der Theologe aus dem Osten andere »unkundig oder bösartig« schimpft, fällt das nur auf ihn zurück.

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