Wirtschaft
anders denken.

Unser aller Lust, nichts wissen zu wollen

06.06.2017
Foto: igo.rs / flickr CC BY 2.0Zusammenbruch gehört nicht der Zukunft an. Er hat schon begonnen.

Was uns in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen und in Verlautbarungen der Politik, in Reden und Abkommen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Sachbüchern über Wirtschaft erzählt wird, verhandelt auch die Literatur. Manchmal, nein oft, ist es erhellender, einen Roman zu lesen, um sich darüber klar zu werden, wie sich die Dinge entwickelt haben, worauf wir zusteuern und in welchem Schlamassel wir stecken. Und ob es ernste oder Unterhaltungsliteratur ist, die uns erhellt, sei allen überlassen, die genug haben, von den ewig gleichen Wortstanzen. Allemal kann es ein Vergnügen sein. Wenn auch oft ein beängstigendes.

Peter Høeg, Jahrgang 1957, mag Naturwissenschaftlerinnen. Fräulein Smilla – in Dänemark lebend, zur Hälfte Grönländerin und aus einer Inuit-Familie stammend – lebt ihre Identitäten mit großer Melancholie in einer Gesellschaft, die klare Zuordnungen liebt und Mischwesen nicht sonderlich leiden kann. Smilla Jaspersen ist Mathematikerin und Geographin und hat ein Gespür für Schnee. Der ist weiß wie die Unschuld und hält frisch, was gestorben ist.

Peter Høeg: Der Susan Effekt. rororo, Reinbek 2017

Susan Svendsen ist Physikerin mit einer besonderen Begabung, der dieser Roman seinen Titel verdankt. Der Susan Effekt bewirkt, dass die körperliche Berührung mit der Protagonistin alle Hemmungen überwindet und Schleusen öffnet. Die Menschen offenbaren sich. »Als wären wir nicht mehr von den Konventionen gestützt, die gewöhnliche Unterhaltungen leiten.« Es ist nicht das gern benutzte Fiction-Sujet, bei dem jemand die Gabe des Gedankenlesens besitzt und daran zugrunde geht, weil in den Köpfen der anderen meist Unrat und Verderben haust. Susan kann, aber sie muss nicht wissen, was die anderen denken und fühlen.

Der Roman ist jenseits dieser spektakulären Grundidee eine Parabel auf unser aller Lust, nichts wissen zu wollen. Ein wissenschaftliches Gremium hatte in nicht lange zurückliegender Zeit die Gefahren erforscht, die in der Zukunft lauern. Die Zusammenstellung der Mitglieder dieser Zukunftskommission ermöglichte sozusagen das Entstehen eines Superhirns. Was geweissagt wurde, trat und tritt ein. Susan, ihre beiden Kinder und ihr Mann müssen, um ihr Leben zu retten (egal warum, aber es ist ein toller Plot), die geheimen Protokolle der Kommission beschaffen, während ein Mitglied derselben nach dem anderen umgebracht wird. Soviel dazu.

Peter Høeg hat – so kann man es sehen – einen spannenden Krimi geschrieben, dazu ein bisschen Science Fiction. So muss es auch im Klappentext stehen. Die Psychologie nennt das Priming-Effekt (Bahnungseffekt). Krimi funktioniert richtig gut, um uns in die Spur zu bringen und zum Kaufen anzuregen. Aber das ist zweitrangig. Viel besser ist die Beschreibung der Realität im Roman.

Die Politik kann und will mit den Erkenntnissen der Kommission (wir könnten sie synonym auch Club of Rome nennen – nur zum Beispiel) nichts anfangen. Mit den wissenschaftlichen Voraussagen ließe sich nie und nimmer ein Wahlkampf gewinnen. Die globale Wissensgesellschaft hat unsere Fähigkeit zur Erkenntnis eliminiert und an deren Stelle die Möglichkeit gesetzt, was essenziell ist, unter einer Fülle an Informationen zu begraben. Darauf kann die Politik bauen. Wenn sie nicht verrät, was ihr zugetragen wurde, kommen wir nicht drauf. Und was unterm Teppich liegt, ist vom Tisch.

Es gibt in dem Roman von Høeg einige großartige Monologe und Dialoge. Dazu noch brilliante innere Monologe. Alles in allem wird viel gedacht, und auch wenn die Hauptfigur dazu neigt, zu stark zu pointieren und manch kluge Sentenz allzu sehr einem Bonmot ähnelt, ist der eine oder andere Monolog geeignet, ihn zwei Mal zu lesen und danach die Suchmaschine mal kurz auszuschalten:

»Die Prognosen (der Zukunftskommission, Anm. Autorin) waren zu düster. Unser Ausgangspunkt waren Hunderte weltweiter Risiken, verteilt auf sechs Risikokategorien: Wirtschaft, Umwelt, Geopolitik, Gesellschaft, Technologie und globale Ressourcen. Wir benannten fünf Hauptprobleme: chronisches finanzielles Ungleichgewicht, Ausstoß von Treibhausgasen, unhaltbarer Bevölkerungszuwachs, extreme Ungleichheit der Einkommen. Und Ressourcenknappheit, die sich in extrem volatilen Energie- und Landwirtschaftspreisen manifestieren wird… Wir entwarfen das Bild der Erde, wo die zarten Versuche globaler Führung, die es gegeben hat, fehlgeschlagen sind. Wo das westliche Wohlfahrtsmodell als Folge staatlicher Schuldenlast teilweise zusammengebrochen ist. Wo junge Menschen bei extrem hoher Arbeitslosigkeit die älteste Erdbevölkerung der Geschichte versorgen müssen, anderthalb Milliarden Menschen über sechzig im Jahre 2020. Wo sich unkontrollierbare soziale Unruhen massiv ausbreiten. Wo sich das Unterrichtssystem durch Fehlbildung auszeichnet, weil die Menschen nach wie vor auf Jobs und Wirtschaftssysteme des 20. Jahrhunderts getrimmt werden, die es nicht mehr gibt. Wo der Alltag durch Metaunfälle geprägt ist wie die großen Öl- und Chemikalienlecks im 20. Jahrhundert, aber nun ergänzt durch das Austreten modifizierter Mikroorganismen und nanotechnologischen Materials. Das nicht in Container gepackt werden kann, weil die Aufnahmekapazitäten nicht reichen und veraltet sind. Wo die Ressourcenknappheit zu Neotribalismus und Krieg führt. Die Welt hat noch immer eine Atomkapazität von tausend Tonnen TNT pro Person auf Erden, Mann, Frau und Kind. Selbst der kleinste taktische Atomkrieg, zum Beispiel ein Grenzkrieg zwischen Indien und Pakistan, wird mindestens die tausendfache Sprengkraft von Hiroshima haben. Die Asche der brennenden Städte wird über der nördlichen Halbkugel eine kleine Eiszeit auslösen…

Europa ist eine Komfortzone. Wir leben in einem Kino, in dem auf allen vier Wänden Familienfilme gezeigt werden. Der Zusammenbruch gehört nicht der Zukunft an. Er hat schon begonnen…

Politiker, die sich positionieren. Interessengruppen, die sich um ihr Stück vom Kuchen balgen. Medien, die die Wahrheit kennen, sie aber nicht sagen können. Weil es kein Publikum dafür gibt. Weil das Problem nicht außerhalb von uns liegt. Das Problem sind wir selbst. Unser Überkonsum und unsere Verschuldung…

Es gibt keinen einzigen europäischen Politiker, der nicht von Wachstum faselt. Aber das Wachstum in seiner jetzigen Form ist seit Langem überholt. Es war nie ewig haltbar.«

Der Roman ist des Lesens wert. Sehr. Fröhlich stimmt er nicht. Auch wenn es nur darum geht, dass etwas faul im Staate Dänemark ist. Dänemark ist arg klein.

Für Deutschland und seine Politiker und -innen ließe sich vielleicht noch hinzufügen, dass im sonntäglichen Tatort gegenwärtig mehr gesellschaftliche Probleme verhandelt werden, als im höchsten Parlament. Unsere Zukunftskommission heißt Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Nun ja. Peter Høeg gelänge es vielleicht, daraus einen guten Roman zu machen.

Peter Høeg: Der Susan Effekt. rororo, Reinbek 2017, 2015 erschienen bei Hanser München

Weitere Buchempfehlungen von Kathrin Gerlof: Die Filmerzählerin und Der Coup.

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