Nichts zu verlieren außer ihre Mitglieder
Wer wissen will, was Gewerkschaften mit fallenden Mitgliederzahlen verlieren können, sollte schauen, was sie mit steigenden Zahlen gewonnen haben: Macht. Das zeigen die US-Gewerkschaften um die Jahrhundertwende.
Für die Gewerkschaften wird es bedrohlich: Weltweit wurde bereits über den Rückgang der Mitgliedschaften seit 1970 – in der Bundesrepublik vor allem seit 1990 – diskutiert. Forscher:innen sehen einen Verfall der Arbeiter:innen-Vertretungen und ihres Einflusses auf den Arbeitsmarkt. Sogar in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern wird die Theorie der Gewerkschaften mit dieser Aussage über die Entwicklung und die Macht der Arbeitsorganisationen eingeführt. Andererseits lässt sich mit der institutionellen Implementierung von Gewerkschaften im modernen Kapitalismus argumentieren. Gewerkschaften sind mit der Zeit zu relevanten Institutionen geworden und spielen so immer noch eine große Rolle auf dem Arbeitsmarkt, auch wenn die Mitgliederzahlen zurückgehen.
Um zu zeigen, was die Organisationen selbst, Arbeiter:innen und generell die Wirtschaft mit fallenden Mitgliederzahlen der Gewerkschaften verlieren könnten, lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, was sie mit dem Zugewinn von Gewerkschafter:innen gewonnen haben. Ein Blick in die Geschichte lohnt immer: Das Beispiel der US-Gewerkschaften um die Jahrhundertwende zeigt eindrücklich, was mit mehr Mitgliedern möglich ist. Damals befand sich ihr organisatorischer Apparat erst im Aufbau. Gleichzeitig stieg die Mitgliederzahl massiv in der Zeit um 1900, was Ökonom:innen mit dem damaligen Wirtschaftsboom in Verbindung bringen.
Mit einem absoluten Anstieg von 447.000 Mitgliedern im Jahr 1897 auf 1.913.900 Gewerkschafter:innen im Jahr 1903 haben sich die Mitgliederzahlen in den Vereinigten Staaten vervierfacht. Die tatsächliche Mitgliedschaft – also das Verhältnis von Gewerkschaftsmitgliedern zu allen Beschäftigten – verdoppelt sich im gleichen Zeitraum. Der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der zivilen Erwerbsbevölkerung stieg von drei auf sechs Prozent. Nach 1904 stagnieren die Zahlen um dieses Niveau von rund zwei Millionen Mitgliedern. Die meisten davon – in manchen Jahren fast 60 Prozent – sind im produzierenden Gewerbe tätig.
Damit kann man die Jahrhundertwende als eine von vier Perioden in der Geschichte der Vereinigten Staaten bezeichnen, die einen rapiden Anstieg der Gewerkschaftsmitgliedschaft aufweisen. Nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg und während des New Deals steigen die Zahlen ähnlich schnell. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass die Jahrhundertwende das schnellste Wachstum in der Geschichte der US-Gewerkschaften aufweist.
Logisch gesehen, sollte das einen wirtschaftlichen Effekt haben. Ökonom:innen argumentieren, dass die Größe der Gewerkschaften ihre Durchsetzungskraft im Arbeitskampf vergrößert und sie somit einen höheren Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben – sie haben mehr Macht. Das lässt sich am einzigen Indikator erkennen, den Volkswirte anscheinend kennen: dem Lohn.
Von 1890 bis 1914 ist in den USA ein kontinuierlicher Anstieg der Stunden- und Tageslöhne im produzierenden Gewerbe zu beobachten. Nur gelegentlich stagnieren die Löhne oder gehen für ein oder zwei Jahre leicht zurück. Die Stundenlöhne steigen inflationsbereinigt von 0,158 Dollar im Jahr 1890 auf 0,22 Dollar im Jahr 1914 und die Tageslöhne von 1,58 Dollar auf 2,04 Dollar. Der größte Teil dieses Anstiegs findet um die Jahrhundertwende statt.
Abbildung 1 stellt diese Entwicklung in Kontext des Anstiegs der Mitgliederzahlen dar. Generell zeigt die Abbildung einen positiven Zusammenhang zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und den Löhnen in der Produktion. Doch es gibt auch Abweichungen: Zwischen 1902 und 1906 sinkt der Stundenlohn, obwohl die Mitgliedschaft massiv ansteigt. Beim Tageslohn kann man dies nicht so drastisch beobachten, was auf eine längere Arbeitszeit schließen lässt. Zusammenfassend zeigt dies jedoch, dass der allgemeine Trend bei den Mitgliedern und den Löhnen ähnlich verhält, auch wenn die Entwicklung nicht immer genau das gleiche Bild wiedergibt.
Das Ergebnis klingt banal: Mit mehr Mitgliedern haben Gewerkschaften mehr Macht. Und sie können bessere Löhne für alle Arbeiter:innen durchsetzen. Das überrascht kaum, kann allerdings als Argument gegen gewerkschaftsfeindliche Ökonom:innen verwendet werden. Insbesondere weil die generelle Beschäftigung um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten nicht abnahm – Beschäftigungsverluste werden häufig den Gewerkschaften angelastet.
Für die Gewerkschaften selbst macht diese Erkenntnis die aktuelle Entwicklung ihrer Mitglieder jedoch kaum besser. Sie geht mit einem Machtverlust einher, der in Deutschland bereits durch den Mindestlohn oder der Forderung nach mehr allgemeinverbindlichen Tarifverträgen kompensiert werden soll. Letztere Maßnahmen resultieren aus der institutionellen Stärke der deutschen Gewerkschaften, nicht ihrer Macht im Arbeitskampf. Die Gewerkschaft als Institution ist der letzte Strohhalm, an den sich die Arbeit:innen-Vertretungen klammern können. Besser wäre es für sie wieder Stärke auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen – über mehr Mitglieder. Dies ist die entscheidende Herausforderung der Gewerkschaften zurzeit, warum der Mitgliederschwund trotz immer offentlicherer prekärer Arbeitsverhältnisse anhält, die entscheidende Frage.
Literatur:
Rees, Albert (2015): Real Wages in Manufacturing, 1890-1914. Princeton University Press, Princeton.
U.S. Bureau of the Census (1975): Historical Statistics of the United States, Colonial Times to 1970. Bicentennial Edition, Washington D.C.
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