Wirtschaft
anders denken.

»In den liberalen Marktwirtschaften ist die Lohnquote weniger stark gefallen«

Die Einkommensverteilung hängt mit den Spielarten des Kapitalismus zusammen.

15.01.2023
Porträt Till van TreeckFoto: UDE/Institut für Sozioökonomie
Till van Treeck ist Sozioökonom am Institut für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen. Zuvor hat er am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung gearbeitet. Das vergangene akademische Jahr verbrachte er als Theodor-Heuss-Professor an der New School for Social Research in New York.

Herr van Treeck, Sie haben den Zusammenhang zwischen verschiedenen Spielarten des Kapitalismus, der Einkommensverteilung und Lohnkoordination erforscht. Was zeichnet zunächst den Ansatz, auch Varieties of Capitalism (VoC) genannt, aus?

Der VoC-Ansatz wurde Anfang der 2000er entwickelt und kommt aus der Vergleichenden Politischen Ökonomie, einer interdisziplinären Mischung aus Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Der Ansatz unterscheidet zwei Kapitalismus-Typen: Die liberalen und die koordinierten Marktwirtschaften. Ein Prototyp für erstere wären die USA und für zweitere Deutschland.

In den liberalen Marktwirtschaften läuft die Koordinierung zwischen den wirtschaftlichen Subjekten vor allem über Märkte. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Arbeits- und Finanzmärkten und beide sind relativ wenig reguliert. Das heißt: Es gibt keinen starken Kündigungsschutz, keine hohe Arbeitslosenunterstützung, und die Gewerkschaften spielen keine große Rolle. Gleichzeitig herrscht auf den Finanzmärkten typischerweise die Shareholder Value-Orientierung, und die Unternehmen richten ihre Strategien stark an den Märkten aus.

Spiegelbildlich sind die koordinierten Marktwirtschaften, wie der Name schon sagt, eben koordinierter. Der Markt rückt in den Hintergrund und andere Institutionen sind wichtiger. Auf dem Arbeitsmarkt wird kollektiv über Löhne, Arbeitszeit etc. verhandelt und es gibt einen starken Kündigungsschutz. Auch Banken spielen eine größere Rolle, die Finanzmärkte sind weniger wichtig.

Daran wird kritisiert, dass mit der neoliberalen Globalisierung die Typen gar nicht mehr zu differenzieren sind und sich die koordinierten Marktwirtschaften den liberalen annähern.

Das ist eine interessante Debatte! Meine Co-Autor:innen und ich sind allerdings der Auffassung, dass es trotz Deregulierung und der Zunahme der Einkommensungleichheit persistente institutionelle Unterschiede gibt zwischen den Kapitalismus-Typen. Damit ist der VoC-Ansatz geeignet, um die unterschiedliche Entwicklung der Einkommensverteilung in verschiedenen Ländern zu erklären. Das hat zum Beispiel mit der Lohnkoordination zu tun.

Sie unterscheiden zwischen funktionaler und persönlicher Einkommensverteilung. Was heißt das?

Das sind zwei Maße, die häufig verwechselt werden. Die funktionale Einkommensverteilung beschreibt die Unterteilung des Bruttoinlandsprodukts in Löhne und Gewinne. Tendenziell würde man beispielsweise sagen, wenn die Löhne weniger stark steigen als die Gewinne, dann gibt es so eine Umverteilung zu Lasten der Arbeit und zugunsten des Kapitals.

Dann gibt es noch die Verteilung der Haushaltseinkommen. Wie sind Einkommen aus Lohneinkommen und Kapitaleinkommen zwischen den Haushalten verteilt? Das ist die personelle Einkommensverteilung, also die Verteilung nicht zwischen Arbeit und Kapital, sondern die der Einkommen zwischen allen Individuen.

Und wie hängt das nun mit den Kapitalismus-Typen zusammen?

In den liberalen Marktwirtschaften ist die Lohnquote – also der Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlichen Einkomme – während der neoliberalen Phase weniger stark gefallen als in den koordinierten Marktwirtschaften. Das überrascht zunächst. Oft ist das Argument, dass die liberalen Marktwirtschaften viel ungleicher sind. Das liegt vor allem an den Spitzeneinkommen, die oft Arbeitseinkommen sind. Zum Beispiel Managergehälter werden in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auch als Löhne erfasst. Die obersten ein bis fünf Prozent der Lohneinkommen sind in Ländern wie den USA stark gestiegen und haben dadurch die Lohnquote sozusagen stabilisiert. In den koordinierten Marktwirtschaften ist die Lohnquote dagegen stärker gefallen. Das liegt unter anderem daran, dass es zum Beispiel in Deutschland nach wie vor weniger Individuen gibt, die extrem hohe Lohneinkommen erzielen. Hier profitieren vor allem die Unternehmen. Diese – besonders viele Familienunternehmen – behalten die Gewinne im Unternehmen und zahlen sie nicht als Löhne aus. Dadurch wird deren familiäres Vermögen immer weiter gesteigert und die Vermögensungleichheit steigt.

Und die Lohnverhandlungen in Deutschland wurden von den Gewerkschaften nicht stark genug geführt, um dem entgegenzuwirken?

Es ist den Gewerkschaften nicht gelungen, in der Fläche so starke Lohnabschlüsse zu erzielen, dass der Rückgang der Lohnquote verhindert worden wäre. Das war vor allem so bis zur Finanzkrise, in den letzten Jahren sah das schon wieder deutlich besser aus. Dennoch haben das relativ koordinierte Lohnverhandlungssystem und die Mitbestimmung in Deutschland einen Anstieg der Lohnungleichheit am oberen Ende verhindert. In den USA gab es diesen Anstieg.

Damit sind wir auch schon mitten im Vergleich der Wirtschaftsmodelle. Welche Verbindungen kann man noch ziehen?

Wir argumentieren, dass es für die makroökonomische Entwicklung einen Unterschied macht, ob der Anstieg der Ungleichheit im oberen Bereich der Haushaltseinkommen stattfindet oder nicht. In den USA werden die hohen Managergehälter wieder in den Konsum gesteckt. Über höhere Ausgaben für US-spezifische Statusgüter wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität usw. werden die gesellschaftlichen Konsumnormen nach oben verschoben. Das hat dazu geführt, dass vor allem die obere Mittelschicht unter Druck geraten ist, mit den steigenden Konsumnormen der ganz oben in der Einkommensverteilung positionierten Haushalte mitzuhalten. Deswegen haben wir in den USA beobachtet, dass sich bei steigender Ungleichheit der private Konsum kräftig entwickelt hat.

In den liberalen Marktwirtschaften werden diese sogenannten Statusgüter über private Märkte bereitgestellt. In Deutschland jedoch ist der Staat in Bildung, Gesundheit, Wohnen usw. deutlich aktiver. Das führt zu weniger gesellschaftlichem Druck, mehr zu arbeiten, weniger zu sparen und sich im Zweifel sogar zu verschulden, um mitzuhalten zu können im Konsum. So erklären wir, dass die Arbeitszeiten in den USA nach wie vor länger sind als in Deutschland, dass weniger gespart wird und sich viele Haushalte verschulden. Deutschland hingegen hat zwar einerseits einen stärkeren Anstieg der personellen Ungleichheit am oberen Ende der Verteilung verhindert, andererseits hat es die Binnennachfrage, die Konsumnachfrage geschwächt: Die Gewinne verbleiben Großteils in den Unternehmen und fließen nicht zurück in den in den Kreislauf.

Wie passen Ihre Überlegungen zur keynesianischen Wirtschaftstheorie? Dort arbeitet man eher mit der Annahme, dass Arbeiter:innen eine höhere Konsumneigung haben als Spitzenverdiener:innen.

Der VoC-Ansatz ist eher mit der neu-keynesianischen Makroökonomik kompatibel, während wir von der post-keynesianischen Makroökonomik inspiriert sind. Dort – das haben Sie richtig gesagt – ist eine Grundüberlegung, dass eine Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen die Nachfrage schwächt, weil die Konsumneigung aus Löhnen höher ist als die Konsumneigung aus Gewinnen. Und dem würde ich, grob gesprochen, auch durchaus zustimmen.

Aber?

Erstens ist es wichtiger, die Verteilung zwischen Haushalten und Unternehmen anzuschauen als zwischen Löhnen und Gewinnen. In Deutschland beobachten wir, dass die einbehaltenden Gewinne sehr stark zugenommen haben in den letzten 20 Jahren. Das schwächt die Binnennachfrage. In den USA sehen wir hingegen, dass sich der Anteil der Haushaltseinkommen kräftiger entwickelt hat und unter anderem deswegen kam es auch nicht zur Schwächung der Binnennachfrage.

Ein zweiter Punkt ist die Auswirkung der Verteilung der Haushaltseinkommen auf die Gesamtnachfrage. Das ist, denke ich, in den traditionellen post-keynesianischen Modellen ein blinder Fleck. Daher ist es hilfreich, die post-keynesianische Theorie mit einer Statustheorie zu verknüpfen. Zum Beispiel nach Thorstein Veblen, der diesen Effekt des Nachahmungskonsums beschreibt. Eine ungleiche Verteilung zwischen den Haushaltseinkommen kann danach zu einer Senkung der Ersparnisse der unteren und mittleren Einkommensgruppen führen, da diese mit den Konsumnormen der Reichen mithalten wollen.

Zum Weiterlesen: 
Behringer, Jan & van Treeck, Till: Varieties of capitalism and growth regimes: The role of income distribution, IMK Working Paper, 2018.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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