Wirtschaft
anders denken.

Verfahrene Situation, notwendige Utopie: Die Krise in Europa und die Chance solidarischer Alternativen

12.10.2018

Wie hat sich Europa in den Jahren seit der Krise ökonomisch, politisch und sozial entwickelt? Wohin treibt die EU? Und wie könnte eine radikale Euro-Reform aussehen? Zwei neue Broschüren antworten mit unterschiedlichen Akzenten.

Zehn Jahre Krise in Europa – und es stellen sich ein paar grundlegende Fragen. Kritische Antworten schlagen nun zwei Broschüren aus linken Kreisen vor – eine von Felix Syrovatka, Etienne Schneider und Thomas Sablowski für die Luxemburg-Stiftung und die andere aus der Feder von Klaus Busch, Joachim Bischoff und Axel Troost als Sonderheft von »Sozialismus«. Während die eine Autorengruppe den »Kapitalismus in der Europäischen Union nach zehn Jahren Krise« beleuchtet und die Union in einem Zustand »zwischen stiller Revolution und Zerfall« sieht, legt die andere den Schwerpunkt etwas stärker optimistisch an: Es geht hier ausführlich auch darum, einen Weg »aus der existenziellen Krise« hin »zur solidarischen Europäischen Union« zu finden. 

Syrovatka, Schneider und Sablowski vertreten die These, »dass die Eurokrise durch die autoritäre Bearbeitung vor allem auf Kosten der Lohnabhängigen in Südeuropa zwar vorläufig überwunden wurde, die ihr zugrunde liegenden Ursachen durch die einseitige Konzentration auf die Lohnentwicklung jedoch nicht beseitigt wurden: Die Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten der EU sind nicht verschwunden, sondern teilweise sogar noch größer geworden«. Grundlegende Widersprüche »vor allem der Wirtschafts- und Währungsunion« würden nun »an anderen Stellen« aufbrechen, die Autoren verweisen insbesondere auf Italien und nehmen die »sich abzeichnenden Krise der neomerkantilistischen Exportstrategie Deutschlands« in den Blick. 

Vor allem beleuchten Syrovatka, Schneider und Sablowski die Frage der Lohnpolitik. »Obwohl die ungleiche Entwicklung in der EU nicht in erster Linie ein Resultat zu hoher und zu niedriger Löhne ist, zeigt sich zunächst, dass das Lohnverhältnis als zentraler Ansatzpunkt der europäischen Krisenbearbeitung stärker europäisiert wurde. Es ist unter neoliberal-autoritärem Vorzeichen zu einer deutlichen Verlagerung von arbeitsmarkt- und lohnpolitischen Kompetenzen auf die europäische Ebene gekommen.« Dieser »Vertiefung der Integration im Bereich der Regulation des Lohnverhältnisses« steht widersprüchlich eine Verschärfung der ungleichen Entwicklung der EU-Staaten gegenüber, »womit eine Tendenz der Desintegration verbunden ist«.

Die eigentliche Ursache der Misere ist national

Busch, Bischoff und Troost legen ihren Blick auf den Zustand der EU als »kurze Bilanz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019« an, was sich eingangs in einem recht großen Bogen  niederschlägt – da ist von Jean-Claude Junckers Beschwörung einer »neuen europäischen Souveränität« über sich verschiebende globale Machtverhältnisse und Europakritik von rechts bis hin zur Bewegung »Aufstehen« die Rede. 

Als »bittere Ironie« der gegenwärtigen Debatte, die einerseits von einer Anti-Europa-Schlagseite gekennzeichnet ist, zu der andererseits  im Widerspruch steht, dass die Zustimmung zur Europäischen Union im letzten Eurobarometer auf ein Rekordhoch kletterte, bezeichnen die Autoren, »dass die eigentliche Ursache der Misere keineswegs direkt bei den EU-Institutionen liegt, sondern bei den nationalen Regierungen. Denn es sind die nationalen Regierungsapparate und politischen Eliten, die seit Jahrzehnten die Logik der Austeritätspolitik proklamieren und damit verhindern, dass der so geschaffene Binnenmarkt auch sozial und demokratisch regiert und gestaltet wird«. 

Eine Schlussfolgerung daraus heißt: »Die EU ist nicht per se ein neoliberales Projekt, auch wenn ihre Verträge in den letzten Jahrzehnten neoliberal geprägt wurden. Der Grund für die in vielerlei Hinsicht falsche Politik der EU sind in erster Linie der Europäische Rat bzw. die ihn dominierenden Regierungen und nur in zweiter Linie eine Brüsseler Zentraladministration. Im Europäischen Rat wird die neoliberale Politik der EU geformt und beschlossen. Wer dies ändern will, der muss sich entsprechend mit der hegemonialen und jüngst auch aggressiv-dominanten Rolle einzelner neoliberal ausgerichteter Regierungen – allen voran der deutschen Bundesregierung – auseinandersetzen. Wer ein anderes Europa will, darf sich daher nicht zuerst gegen die politische Elite und Bürokraten in Brüssel wenden, sondern muss primär gegen die politischen Akteure in Berlin vorgehen.«

»Sechs Säulen einer radikalen Euro-Reform«

Als alternatives Angebot skizzieren Busch, Bischoff und Troost »sechs Säulen einer radikalen Euro-Reform«, bei der ein Stopp der Austerität, das Umschwenken auf eine expansive Fiskalpolitik und Europäische Investitionsprogramme die erste bilden. Zweitens soll »eine europäische Ausgleichsunion« geschaffen werden, mit der »die dramatischen Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen« reduziert werden sollen, wozu unter anderem »die EU-weite Einführung verbindlicher Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte« vorgeschlagen wird, bei der die Überschüsse und Defizite jährlich nicht über 3 Prozent des BIP wachsen dürfen. Eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahmepolitik und Schritte zu einer europäischen Sozialunion ergänzen die Vorschläge, hinzu kommen schärfere Finanzmarkt-Regeln und eine schlagkräftigere Steuerpolitik. 

»Alles das wären Aufgaben einer demokratisch gewählten supranationalen Wirtschaftsregierung in der Eurozone«, schreiben die Autoren weiter. »Dies setzt eine weitere Demokratisierung der Europäischen Union bzw. der Eurozone voraus. Da die Europäische Union auf kurze Sicht nicht über eine demokratisch gewählte Regierung verfügt, wäre zunächst nach einer Übergangslösung zu suchen«, so Busch, Bischoff und Troost. Eine solche »provisorische Ausgestaltung« sei auch im »Rahmen der gegebenen institutionellen Strukturen« möglich – genauso, wie die Autoren es für möglich halten, innerhalb »des bestehenden EU-Regelwerks« auch ein »kurzfristiges Umsteuern« durchzusetzen.

Verfahrene Lage, hohe Hürden

Und dennoch: »Die beschriebenen Vorschläge für ein solidarisches Europa sind eine Utopie«, schreiben Busch, Bischoff und Troost, was Syrovatka, Schneider und Sablowski wohl ähnlich sehen würden. Da die Hürden für Vertragsänderungen in der EU durch Einstimmigkeitserfordernis und die mancherorts obligatorischen Referenden bei einem solchen Schritt »sehr hoch« liegen, gilt das aber auch für alle anderen Veränderungsoptionen. Und nun?

»Die Situation ist verfahren«, liest man bei  Busch, Bischoff und Troost, gleichermaßen wachse aber der Handlungsdruck enorm – und das betrifft ja nicht nur europapolitische Grundsatzfragen oder die soziale und ökonomische Richtung der Integration, sondern auch weltgesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimapolitik, die globalen Ungerechtigkeiten und letzten Endes auch die Frage, wie weit politische Veränderungen gegen den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« durchsetzbar sind. 

»Mangelnde Realisierbarkeit« von alternativen Überlegungen ist freilich immer erst einmal nur eine skeptische Zeitdiagnose, in ihnen selbst liegt etwas, das die Chance der Veränderung erhöht: »Eine Utopie ist immer auch handlungsleitend«, zudem geben sie »Orientierung und erleichtern es, für Einzelmaßnahmen Mehrheiten zu finden und falsche Kompromisse zu vermeiden.«

Geschrieben von:

Vincent Körner

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