Wirtschaft
anders denken.

»Der Staat ist Schutzengel des Finanzkapitals«

Fabio Vighi über die Rettung der Wirtschaft durch Covid und die damit einhergehenden sozialen Verwüstungen. Aus OXI 3/23.

14.03.2023
Bild von Fabio Vighi
Fabio Vighi ist Professor für Kritische Theorie und Italienisch an der Universität Cardiff, Großbritannien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Ideologiekritik, politische Ökonomie, theoretische Psychoanalyse, Hegel’sche Dialektik und Film. Lena Bollinger sprach mit ihm.

Während der Pandemie schien der Kapitalismus plötzlich ein menschliches Antlitz zu bekommen: Der Staat rettet Menschenleben, selbst wenn es der Wirtschaft schadet! Sie sagen: Es war genau umgekehrt. Die Lockdowns haben die Wirtschaft gerettet und menschlich eine Verwüstung angerichtet. Wie kommen Sie darauf?

Der Grund ist ganz einfach: Der eigentliche Patient in dieser Krise ist der Kapitalismus. Unmittelbar bevor Covid auftauchte, standen wir vor einer weiteren großen Finanzkrise, deren Ausmaß die Krise von 2008 zu übertreffen drohte. Im Sommer 2019 veröffentlichten die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Vermögensverwalter Blackrock mehrere Berichte und Arbeitspapiere, in denen sie vor einem Crash warnten. Sie forderten »beispiellose Maßnahmen« und eine »unkonventionelle Geldpolitik«. Die Idee war, den Finanzsektor mit ungeheuerlichen Mengen Geld zu fluten, um einen Kollaps zu verhindern, wenn die Blasen anfangen zu platzen. Blasen entstehen, wenn die Vermögenswerte, nichts mehr mit dem tatsächlichen Wert zu tun haben. Man wettet bloß die ganze Zeit mit billigen Krediten auf künftige Gewinne. Irgendwann fliegen diese leeren Wetten auf. Der folgende Dominoeffekt reißt dann alles in den Abgrund. Es genügt ein kleiner Vorfall, zum Beispiel eine kleine Erhöhung der Zinsen, also der Kreditkosten, um die Blasen zum Platzen zu bringen. Im September 2019 geschah genau das. Die Zinsen im Repo-Markt – einem wichtigen Markt für sehr kurzfristige Kredite – stiegen sprunghaft an. Der Patient lag sozusagen schon auf der Intensivstation. Die Zentralbanken begannen sofort, riesige Summen Geld in den Finanzsektor zu pumpen. Zentralbanken haben dieses Privileg, Geld zu erzeugen, indem sie einfach eine Zahl in einen Computer tippen. Es war klar, dass keine Summe zu hoch sein würde, um den Patienten zu retten.

Aber was hat das alles mit den Lockdowns zu tun, die der Staat verschrieben hat?

Wenn man so viel Geld per Mausklick aus dem Nichts in die Finanzökonomie pumpt, entsteht die Gefahr einer Hyperinflation in der Realökonomie mit unabschätzbaren Folgen. Diese Gefahr kann man kontrollieren, wenn man die Realökonomie drosselt. Je weniger produziert und konsumiert wird, desto weniger Geld ist im Umlauf und desto geringer die Inflation. Die Lockdowns hatten genau diesen Effekt. Sie zögerten die Inflation hinaus, die man durch die monetäre Flutung der Finanzmärkte verursacht hatte. Die Folgen der Geldschwemme ließen sich so besser kontrollieren. In dieser Hinsicht kam Covid mehr als gelegen. Man konnte die tickenden Bomben im Finanzsektor entschärfen und gleichzeitig den Inflationsschub hemmen.

Gleichzeitig hat der Staat aber auch viele Unterstützungsprogramme auf den Weg gebracht. Da ging es weder um die Rettung der Finanzindustrie, noch machte man sich allzu viele Sorgen um die Inflation.

In der Tat dachten viele Menschen, vor allem auch viele Linke, der Staat stehe in dieser Krise schützend an ihrer Seite. Diese Vorstellung impliziert aber, dass der Staat irgendwie unabhängig vom Kapital sei. Das ist eine falsche und sehr naive Einschätzung, geradezu eine Fetischisierung des Staates. Unter Linken ist das leider kein neues Phänomen. In Wirklichkeit ist der Staat schon seit langer Zeit eine Art Schutzengel des Kapitals, insbesondere des Finanzkapitals. Der Staat und das Finanzkapital sind heute lediglich zwei Seiten derselben Medaille. Wir nennen das dann euphemistisch Private-Public-Partnership. Das ist bereits eine ideologische Verdrehung. Ihren Höhepunkt hat diese ideologische Manipulation aber in dem Kunststück gefunden, die Leute davon zu überzeugen, dass die Pandemiepolitik ethisch gut und im Interesse der Bevölkerung gewesen sei.

Und die Rettungspakete?

Man darf nicht vergessen, dass parallel zu diesen Hilfen kleine und mittlere Unternehmen dauerhaft pleitegingen. Ich spreche auch von einer kontrollierten Zerstörung. Da wurde nichts gerettet. Die Hilfen für die Bevölkerung sind ein paar Krümelchen, wenn man sie mit den gigantischen Summen vergleicht, die in den Finanzsektor gepumpt wurden. Es war also ein großer Fehler, vor allem der Linken, eine solche Hoffnung in den Staat zu setzen.

Die Linken haben versagt, weil sie die Krise falsch interpretiert haben?

Nicht nur das. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass paradoxerweise die Finanzindustrie beziehungsweise die Politik, die ihr in Krisenzeiten zu Hilfe eilt, ideologisch auf ehemals linke Slogans und Forderungen zurückgreifen. Solidarität, Schutz der Schwachen, Opfer bringen für das Gute – all diese Selbstbeschränkungen, moralischen Erpressungen und die Erzeugung von Schuldgefühlen weisen eine große Schnittmenge zur zeitgenössischen Linken auf. Es braucht diese humanitäre, ethische Rhetorik, um solch drastische Maßnahmen wie einen Lockdown durchzusetzen. In diesem Sinne haben die Linken nicht einfach nur etwas falsch verstanden, sondern sie spielten das kapitalistische Spiel, und zwar oft noch besser als die Rechten. Die Linken sind zu Komplizen einer neuen Form des Kapitalismus geworden, die ich Notfall-Kapitalismus nenne. Dieser Notfall-Kapitalismus hangelt sich von Katastrophe zu Katastrophe. Das gegenwärtige System bekämpft diese allgegenwärtigen Katastrophen nicht, es braucht sie.

Katastrophen waren seit jeher eine lukrative Angelegenheit für den Kapitalismus. Auch Krisen sind so alt wie der Kapitalismus selbst. Was ist so neu an dem, was Sie »Notfall-Kapitalismus« nennen?

Dazu müssen wir uns anschauen, was seit den 1970er Jahren passiert ist. Hier wurde das Ende der Arbeitsgesellschaft und des Konsumkapitalismus eingeläutet. Aus zwei Gründen: Erstens waren die Grenzen der Profitsteigerung erreicht, die lukrative Kombination aus Massenproduktion, Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat rentierte sich nicht mehr, das Wachstum stagnierte. Zweitens begann zu diesem Zeitpunkt die Dritte industrielle Revolution. Die sogenannte Digitalisierung führte zu einer sukzessiven Ersetzung menschlicher Arbeitskraft. Diese Entwicklung trifft uns heute mit voller Wucht. Es stehen immer weniger Menschen am Fließband. Die Arbeit wird von Maschinen gemacht. Sie montieren Autos in Fabriken, führen Operationen in Krankenhäusern durch, sortieren Bücher in Bibliotheken oder kassieren in Supermärkten. Das ist ein Problem, nicht nur für die Leute, die ihre Jobs verlieren, sondern auch für das Kapital. Denn Profite im klassischen Sinne entstehen nur dort, wo menschliche Arbeitskraft verwertet wird und das Kapital Mehrwert abzwacken kann. Maschinen sparen zwar Lohnkosten, erzeugen aber keinen Mehrwert. Es findet keine Wertschöpfung statt. Das Kapital kann also in der Realökonomie keine Profite mehr machen und flüchtet sich in die Finanzspekulation.

Und dort entstehen dann die Notfälle?

Sozusagen. Der heutige Kapitalismus investiert nicht in Arbeit, sondern in Finanzprodukte. Aber die Spekulation erzeugt natürlich auch keinen »echten Wert«. Stattdessen bilden sich Blasen. Drohen sie zu platzen, intervenieren die Zentralbanken mit einer Geldschwemme. Aus der Geldschwemme folgt die Gefahr einer Hyperinflation, die sich nur mit irgendwelchen Notfallmaßnahmen oder Ausnahmezuständen bewältigen lässt. Es geht nicht darum, punktuell aus irgendwelchen Notständen Profit zu schlagen. Vielmehr muss der Notfall möglichst durch immer neue Katastrophen auf Dauer gestellt werden, um den Finanzmarktkapitalismus künstlich am Leben und die Inflation im Zaum zu halten. Das ist eine Verlängerung der Agonie, ein Kollaps in Zeitlupe. In einer solchen Situation sind Katastrophen, Ausnahmezustände und Lockdowns keine wirtschaftliche Gefahr, sondern nützlich für das Inflationsmanagement. In den 1960er Jahren, als der Konsumkapitalismus noch boomte, hätte man sich angesichts einer Gesundheitskrise niemals entschlossen, eine florierende Wirtschaft zu gefährden. Das Virus konnte eine solche Wirkung nur im Finanzmarktkapitalismus entfalten.

Manche sagen, Big Data biete einen Ausweg aus der leeren Finanzmarktspekulation. Die Digitalisierung, so das Argument, schaffe neue Branchen, die auch der Realökonomie zu einem Aufschwung verhelfen könnten.

Ich denke, die Bewirtschaftung von Daten hätte im Konsumkapitalismus sehr gut funktioniert. Die ganze Datenverwertung hängt von Konsumgewohnheiten und Werbung ab. Das heißt, man braucht eine Bevölkerung, die viel konsumiert. Genau das ist heute aber nicht mehr der Fall. Die Leute werden immer ärmer und können sich immer weniger Produkte leisten. Warum dann viel Geld für personalisierte, zielgenaue Werbung ausgeben? Aus meiner Sicht geht es bei der Digitalisierung nicht so sehr ums Geschäft, sondern eher um Überwachung. In einer digitalisierten Gesellschaft lässt sich die Bevölkerung sehr viel leichter kontrollieren – und das wird nötig sein, wenn sie immer weniger Jobs und Konsumgüter in Aussicht hat und immer mehr verelendet. Es kann allerdings auch sein, dass sich die Leute mit Freude ihre eigenen Fesseln anlegen, wenn sie das Gefühl haben, es diene einer guten Sache. Man sieht ja, wie begeistert sich viele in die Selbstisolation begeben haben, die Heizung runterdrehen oder die eigene Armut als nachhaltige Selbstgenügsamkeit gutheißen.

Das sind düstere Aussichten.

Ja, wir befinden uns in einer Sackgasse. Aus kapitalistischer Sicht gibt es keinen Ausweg. Wenn man noch mehr Geld in den Finanzsektor pumpt, hat man ein Problem mit der Inflation oder sogar Hyperinflation und muss irgendwie die Realökonomie runterfahren. Wenn man hingegen die Zinsen erhöht, also Geld teurer macht, wie es derzeit vorsichtig versucht wird, riskiert man einen Crash, denn das ganze System basiert auf billigen Krediten. Es ist also eine Lose-lose-Situation. Der Patient kann sich lediglich aussuchen, welchen Tod er sterben will. Falls man in einer solchen Lage überhaupt noch etwas tun kann, gilt es zu verstehen, was vor sich geht. Erst dann kann man sich der großen Frage widmen, wie das gesellschaftliche Leben anders organisiert werden könnte – jenseits der kapitalistischen Kategorien, die obsolet geworden sind.

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