Wirtschaft
anders denken.

Viktor Agartz – von den Linken vergessen

29.04.2016
Viktor AgartzFoto: FES / Archiv der sozialen DemokratieViktor Agartz (1897-1964) hatte für die Ideolgie der Sozialpartnerschaft nichts übrig.

Viktor Agartz – Mitarbeiter von Hans Böckler und Mitautor der »Neuordnung der Wirtschaft«, sozialdemokratischer Wirtschaftsminister und scharfer Kritiker des unternehmerfreundlichen Kurses der Gewerkschaften. Ein Beitrag zum 1. Mai.

Viktor Agartz (1897-1964) gehört zu den großen vergessenen Linken und obendrein zu den auch von vielen Linken Vergessenen. Nicht der Bezeichnung, aber der Funktion nach war er der erste sozialdemokratische Wirtschaftsminister: Er war Leiter des Bizonen-Wirtschaftsamtes in den Jahren 1946/47. Als er wegen Krankheit ausschied, wurde Ludwig Erhard sein Nachfolger.

Im Jahr 1997 gab es zu Agartz‘ 100. Geburtstag keine Gedenkveranstaltung. Erst zum 110. Geburtstag organisierte die Hans-Böckler-Stiftung eine Tagung zur Erinnerung an den Mann, der als wichtigster Mitarbeiter des ersten DGB-Vorsitzenden Hans Böckler maßgeblich am Grundsatzprogramm der Gewerkschaften von 1949 mitgearbeitet hatte; die Tagung ist dokumentiert im Band »Wirtschaftsdemokratie und expansive Lohnpolitik. Zur Aktualität von Viktor Agartz« im Verlag VSA, Hamburg 2008). 1998 rehabilitierten die Gewerkschaft HBV und 2004 die Gewerkschaft ver.di den 1958 wegen Ostkontakten aus der SPD und den DGB-Gewerkschaften ausgeschlossenen Wirtschaftsexperten Agartz.

Seinen wichtigsten und zugleich folgenreichsten Auftritt hatte Viktor Agartz vor etwas über 60 Jahren auf dem DGB Bundeskongress in Frankfurt am 4. Oktober 1954 mit einer Rede zum Aktionsprogramm der deutschen Gewerkschaften. Agartz reihte darin nicht einfach Beschlussvorlagen und tagespolitische Forderungen aneinander, sondern bot vor allem eine schonungslose Zeitdiagnose: Die Gewerkschaften und die Linken hatten den Kampf um den Neuaufbau von Wirtschaft und Gesellschaft schon fünf Jahre nach der Gründung der BRD verloren. Die kapitalistische Restauration hatte gesiegt. Von der Aufbruchsstimmung der späten 1940er Jahre, als selbst das Ahlener Programm der CDU eine Sozialisierung der Grundstoffindustrie forderte, war nichts mehr zu spüren. Agartz bilanzierte die Währungsreform von 1948 als »kapitalistische Expropriation«, mit der Geldwertbesitzer (Rentner, Sparer) zur Kasse gebeten und Sachwertbesitzer (Unternehmer, Immobilien- und Grundstücksbesitzer) unberührt gelassen wurden. Keine der Forderungen aus dem DGB-Grundsatzprogramm von 1949 zur »Neuordnung der deutschen Wirtschaft« wurde realisiert. Agartz: »Durch den Verlust und den vorläufigen Verzicht auf die gewollten grundsätzlichen Änderungen (…) verlagerten sich die Hoffnungen und Erwartungen auf die Mitbestimmung als den verbleibenden Teil einer gedachten größeren Gesamtreglung.« Im Gegensatz zur Mehrheit der führenden deutschen Gewerkschafter sah Agartz in der Mitbestimmung keine sakrosankte »Lehre« und in der »Sozialpartnerschaft von Kapital und Arbeit« kein erstrebenswertes Ziel. Mitbestimmung war für ihn lediglich »ein Bestandteil der Neuordnung«, mit dem »das Verhältnis von organisierter wirtschaftlicher Macht und solidarisch organisierter Arbeitskraft im Sinne demokratischer Kontrolle durch die Beauftragten der Gewerkschaften« auf eine neue Basis gestellt werden sollte.

Agartz warnte vor den Illusionen von »betrieblicher Sozialpolitik« und »Gewinnbeteiligung«, mit denen »Interessengegensätze« nur verschleiert, die »Solidarität« der Arbeitenden untergraben und der »Betriebsegoismus« gefördert würden. Besonders scharf attackierte er die Rolle des »Arbeitsdirektors«, den das Mitbestimmungsgesetz geschaffen hatte. Zwar muss dieser zwingend von der Gewerkschaftsseite kommen, aber er erfüllt eine ambivalente Funktion: zwischen der Loyalität zur Geschäftsführung, der er angehörte, und zur Gewerkschaft, der er Solidarität schuldete.

Auch mit der »Ideologie der Marktwirtschaft«, zu der sich viele Gewerkschafter bekannten, rechnete Agartz scharf ab. Diese Ideologie machte für ihn nur »Modellbegriffe der wissenschaftlichen Theorie zu Idealen der Politik« und »Hypothesen« der Markttheorie zu politischen Imperativen. Und dies obwohl zwischen 55 und 70 Prozent des Sozialprodukts in nicht-marktwirtschaftlichen Bereichen (beispielsweise Landwirtschaft, Energie, Verkehr, öffentliche Verwaltung) erarbeitet wurden. Agartz: »Was soll angesichts solcher Verhältnisse die Redensart von einer bestehenden Marktwirtschaft? (…) Marktwirtschaft ist wirtschaftlicher Liberalismus, ist die Wirtschaftsform des Bourgeois, nicht aber das Ideal des Staatsbürgers, des Citoyen.« Agartz verwahrte sich gegen »Belehrungen über Freiheit und Demokratie« von den neuen Priestern der sozialen Marktwirtschaft, die sich unter der nationalsozialistischen Herrschaft noch willig angepasst hatten – wie Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack.

Mit dieser radikalen Kritik machte sich Agartz gleich zwei Feinde: die Kapitalseite, für die seine Forderung nach Wirtschaftsdemokratie und expansiver Lohnpolitik bis heute rote Tücher sind, und die Mehrheit der Funktionärselite der Gewerkschaften. Im Gegensatz zu vielen verstand Agartz Gewerkschaften sehr entschieden als »eine Bewegung der um ihre Besserstellung ringenden Menschen« und nicht als bürokratischen Dienstleistungsapparat, der sich auch als Selbstzweck begriff.

Viktor Agartz, »der beste ökonomische Kopf«, so der sozialistische Politik- und Rechtswissenschaftler Wolfgang Abendroth, gehörte zu einer Gruppe von linken Gewerkschaftern und Sozialisten (Peter von Oertzen, Theo Pirker, Leo Kofler, Gerhard Gleissberg, Kurt Gottschalk, Fritz Lamm und anderen), die zunehmend an den Rand gedrängt wurden. Im Oktober 1955 wurde Agartz im DGB wegen Kontakten nach Ostberlin beurlaubt und später ebenso entlassen wie seine Mitarbeiter Theo Pirker und Walter Horn. Das Material dafür, darunter ein gefälschter Brief an Walter Ulbricht, fabrizierten wohl der amerikanische Geheimdienst in bewährter Kooperation mit dem Bundesverfassungsschutz. Präzise Belege sind nicht verfügbar, da die Akten verändert oder vernichtet wurden.

Auch die internationale Entwicklung schwächte die Linken im Westen: Streiks und Aufstände in Polen und Ungarn 1956, die Maßregelung von Linken in der DDR (beispielsweise Walter Janka, Wolfgang Harich, Ernst Bloch). Nach dem Verbot der KPD in Westdeutschland (1956) und dem Godesberger Programm der SPD (1959) näherte sich Viktor Agartz der kommunistischen Weltbewegung an, behielt aber immer Distanz zur DDR, der er vorwarf, nicht einmal ein Streikrecht zu garantieren. Als Agartz öffentlich »Erstarrungserscheinungen« in der DDR beklagte, stellte Ostberlin 1961 die Zahlungen für die »Internationale Gesellschaft für sozialistische Studien« und die »Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – WISO« ein.

Schon vorher kam es auf Grund von bis heute ungeklärten Denunziationen aus Gewerkschaftskreisen 1957 zu einem Prozess wegen Landesverrat gegen Agartz. Wolfgang Abendroth, Gustav Heinemann und Diether Posser verteidigten Agartz vor dem Bundesgerichtshof, der ihn am 13. Dezember 1957 von dem Vorwurf landesverräterischer Beziehungen zu SED und FDGB freisprach.

Wie viele, angesichts der Kräfteverhältnisse innerhalb der Gewerkschaften entmutigte Linke, zog sich Agartz danach aus der Politik und der Gewerkschaftsarbeit zurück. Er meldete sich nur noch sporadisch zu Wort – etwa zum »Mythos der nivellierten Mittelstandsgesellschaft« oder zum Kurs der SPD nach 1959: »In einer autoritären Demokratie verbleibt der Sozialdemokratie keine andere Chance, als allein als Verwaltungsgehilfe anerkannt zu bleiben.« Er folgte auch nicht dem gewerkschaftlichen Pragmatismus, der seine Lohnpolitik faktisch fast nur an der Entwicklung von Preisen und Produktivität orientierte. Er setze sein Konzept des »politischen Lohns« entgegen: »Wenn eine Gewerkschaft eine Lohnforderung stellt, benötigt sie keine Begründung. Sie muss nur dazu bereit sein, für diese Forderung zu kämpfen. Weil jede Lohnforderung ein Angriff auf den Mehrwert ist, ist der Lohn immer ein politischer Lohn«. Agartz wollte mit der Steigerung der Kaufkraft der Beschäftigten eine Ausweitung der Produktion und eine höhere Produktivität erreichen. Dass Lohnerhöhungen eine inflationäre Wirkung haben, bestritt er mit dem Hinweis, das sei empirisch »in der Wirtschaftsgeschichte noch nicht« vorgekommen.

Viktor Agartz starb am 9. Dezember 1964 vereinsamt in der Nähe von Köln.

Geschrieben von:

Rudolf Walther

Historiker

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