Schnee von gestern!
An Marx’ spöttischem Befund, dass »die politische Ökonomie Robinsonaden liebt«, hat sich bis heute in der Volkswirtschaftslehre nichts geändert. Aus OXI 9/21.
»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit«, so heißt es bei Thomas Mann. In welcher Disziplin könnte diese Weisheit mehr Gültigkeit beanspruchen als in den Wirtschaftswissenschaften? Wie wird der Stoffwechsel mit der Natur organisiert, wie (re-)produziert und gearbeitet: Diese Fragen begleiten den Menschen seit Jahrtausenden. Streng genommen handelt es sich dabei um die Probleme, die allen anderen vorangehen – denn bekanntlich kommt erst das Fressen und dann die Moral. Und nicht nur die Produktionsverhältnisse haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder radikal geändert. Selbiges gilt für die Formen, in denen über sie nachgedacht wird und für die Disziplinen – Philosophie, Soziologie, Ökonomie –, die sich mit ihnen beschäftigen.
Blicken wir jedoch in den Brunnenschacht der deutschen Volkswirtschaftslehre, so scheint dieser eher kurz und ausgetrocknet zu sein: Von Geschichte ist hier wenig zu spüren. Zu dominant ist die neoklassische Lehre, die die Wirtschaft lieber in pseudowissenschaftlich mathematisierte Modelle kleidet und darüber die eigentlich zu beschreibende Realität vergisst. Wer daher an deutschen Universitäten eine wirtschaftswissenschaftliche Fakultät zwecks Studium betritt, hat oftmals schlechte Chancen, Grundlegendes über ökonomische Systeme, Wissenschaftstheorie oder Dogmengeschichte zu lernen.
So auch der Autor dieser Zeilen: Seit nunmehr vier Semestern studiere ich in Jena Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Der Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, an dem Themen wie die Wirtschaftsgeschichte Lateinamerikas behandelt wurden, und an dem ich gerne studiert hätte, ist im Sommer 2018 abgewickelt worden. Ein Ersatzprogramm gibt es bislang nicht. In den letzten zwei Jahren habe ich daher zwei Drittel meines Studiums absolviert, ohne nennenswert mit Wirtschaftsgeschichte konfrontiert worden zu sein. Kurze Exkurse in Vorlesungen, beispielsweise über die Häuserkrise 2008, stellen bereits eine rühmliche Ausnahme dar.
Auch die Theoriegeschichte wird völlig vernachlässigt: Keinen einzigen (!) Text eines Ökonomen habe ich lesen müssen, um meine bisherigen VWL-Module absolvieren zu können. Dass ich überhaupt an der Universität Smith, Marx und Polanyi rezipieren durfte, habe ich einzig und allein dem Soziologiestudium zu verdanken. In der VWL dienen die Gründungsväter (seltener auch -mütter) höchstens als Stichwortgeber in Vorlesungsfolien: Ein bisschen »Markt als Entdeckungsverfahren« (Hayek), ein bisschen »schöpferische Zerstörung« (Schumpeter), zu mehr taugt die Dogmengeschichte den meisten Dozenten schlicht nicht. Dass etwa Schumpeters Theorie der schöpferischen Zerstörung auf Marx aufbaut, fällt dabei, wenig überraschend, völlig unter den Tisch. Fachgeschichte? Schnee von gestern!
Ganz anders in der Soziologie: Module zur Entstehung der Disziplin, zu Vordenkerinnen und -denkern und zur Geschichte der Methodologie sind hier Pflicht. Und wie sonst kann Wissenschaft, die ihr Publikum nicht überwältigen will, überhaupt möglich sein? Eine kritische Einordnung dessen, was gelehrt wird, sollte in jeder Disziplin erwartet werden dürfen, selbst wenn es vorherrschende Dogmen und Lehrmeinungen gibt. Wie sollen Studierende in der Lage sein, eine fundierte Meinung zu vertreten, wenn sie nicht einmal wissen, wie vielfältig über ihr Fachgebiet nachgedacht werden kann?
Auf diese Kritiken, die unter anderem von Pluralen Ökonominnen und Ökonomen formuliert werden, und die gerade nach der Finanzkrise 2007/2008 immer lauter geworden sind, ist vonseiten des ökonomischen Mainstreams kaum reagiert worden, eine Umgestaltung der Lehrpläne so gut wie nicht erfolgt. An die Stelle der historischen tritt in der akademischen Volkswirtschaftslehre weiterhin eine (scheinbar) logische Herleitung der heute dominanten ökonomischen Vergesellschaftungsformen. Das wird exemplarisch in der Mikroökonomie sichtbar, die am Anfang der meisten wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge steht. Die Genese der modernen Wirtschaft lautet dann häufig folgendermaßen: Adam und Eva produzieren allein weniger, als wenn sie Arbeitsteilung betreiben und tauschen. Von dieser Binsenweisheit, die gerne in grafischen Modellen dargestellt wird (Stichwort: Produktionsmöglichkeitskurven, Edgeworth-Boxen etc.), wird dann ein weiter Bogen in die Gegenwart geschlagen, wo auch Arbeitsteilung vorherrscht. Nur dass eben manche den Produktionsfaktor Arbeit und andere den Faktor Kapital in den Wirtschaftsprozess einbringen.
Dass dabei Jahrtausende menschlicher Geschichte und völlig verschiedener Wirtschaftsweisen übersprungen werden – geschenkt! An Marx’ spöttischem Befund, dass »die politische Ökonomie Robinsonaden liebt«, hat sich bis heute offensichtlich nichts geändert. Auch Klassen gibt es in dieser Welt nicht, nur Unternehmen und Haushalte, die sich gegenseitig nützlich sind. Die Geschichtsvergessenheit geht somit einher mit einer Entsozialisierung.
Dass die Suggestivkraft der neoklassischen Ökonomie gerade bei jungen Menschen hoch ist, liegt keineswegs an deren Stärken, sondern vor allem an ihrer Unterkomplexität. Die ganz und gar enthistorisierten Axiome dienen dann als wackeliges Fundament, auf dem der Rest des Gedankengebäudes entsteht, dessen Erlernen und Reproduktion in der Klausur die Verleihung eines Bachelor of Arts rechtfertigen soll.
Nun könnte der Einwand erhoben werden, es sei eben Aufgabe und Eigenverantwortung eines jeden fleißigen und engagierten Studierenden, von sich aus ein kritisches Interesse an den Tag zu legen. Doch welcher 18-Jährige, der vielleicht gerade aus der Schule entlassen worden ist, zeigt sich in der Lage, die ihm vorgesetzten Inhalte kritisch zu prüfen? Noch dazu, wenn sie von Autoritätspersonen serviert werden? Ich gebe freimütig zu: Hätte ich direkt nach dem Abitur mein Studium begonnen, dann hätte ich das nicht gekonnt.
Ohne ein profundes Verständnis dessen, wie Ökonomie bereits gedacht worden ist – von Aristoteles über Joan Robinson bis in die Gegenwart –, ist ein Studium der Ökonomie müßig, wenn nicht gar schädlich. Wer nur eine Sicht auf die Welt kennt, denkt nämlich ein- statt vielfältig. Dass sich daran in der Mainstream-Ökonomie demnächst etwas ändert, ist eher unwahrscheinlich. Solange das so ist, werden die spannenden Diskussionen weiterhin in der Philosophie, der Wirtschaftssoziologie und der pluralen Ökonomik stattfinden.
Ole Nymoen hat mit Wolfgang M. Schmitt das Buch »Influencer. Ideologie der Werbekörper« (Suhrkamp Verlag 2021) geschrieben. Beide produzieren den Podcast »Wohlstand für alle«.
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