Wirtschaft
anders denken.

Von der Laffer-Kurve zur defekten Schultoilette

30.01.2017
Marode Mauer, von der großflächig Farbe abbröckeltFoto: Hans Nater / Flickr CC-BY 2.0 LizenzDesolate Entscheidungen

Da Donald Trump ähnlich wie Ronald Reagan denkt, lohnt ein Blick zurück: Wie der weltweite Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze begann.

Seit einigen Jahren ist in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern, ein dramatischer Verfall der Infrastruktur zu beobachten. Viele Schulen sind in einem erbärmlichen Zustand, Frostschäden der Straßen werden nicht mehr beseitigt, öffentliche Gebäude nicht mehr saniert. Besonders spektakulär ist der Fall der Autobahnbrücke bei Leverkusen. Das mittlerweile 50 Jahre alte Bauwerk ist so marode, dass es für Fahrzeuge über 3,5 Tonnen gesperrt werden musste, um einen Einsturz zu verhindern.

Warum werden in einem der reichsten Länder der Welt Zukunftsinvestitionen wie die in die öffentliche Infrastruktur, aber auch in die Bildung, derart vernachlässigt, obwohl sie zentral wichtig sind? Hat die Politik versagt?

Es begann in den USA, Anfang der 1980er-Jahre

Mit dem Datum 20. Januar 1981 dürften selbst politisch Interessierte nichts verbinden. Und doch markiert es einen gravierenden Einschnitt in der Wirtschafts- und Steuerpolitik seit 1945. An diesem Tag wurde der Republikaner Ronald Reagan 40. Präsident der USA (1981-1989). Mit seiner Präsidentschaft begann die Abkehr von der bis dahin auch in den USA praktizierten keynesianischen hin zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Ein Eckpfeiler dieses neuen wirtschaftspolitischen Paradigmas ist der Glaube: Wer die Steuern senkt, insbesondere für Unternehmen und Spitzenverdiener, der kurbelt damit die Wirtschaft an, und zwar so stark, dass nicht nur die Steuereinnahmen des Staates steigen, sondern auch die Realeinkommen breiter Bevölkerungsschichten.

Ein Blick zurück lohnt: Wie der weltweite Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze begann.

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Die Laffer-Theorie: zu schlicht, um genial zu sein

Diese Theorie geht auf den amerikanischen Ökonomen Arthur B. Laffer zurück. Seine Kernaussage lautet: Das Steueraufkommen eines Landes hängt von der Höhe des Steuersatzes ab. Es steigt zunächst mit dem Steuersatz an, aber nur bis zu einem optimalen Satz. Wird der Steuersatz über diesen optimalen Satz hinaus erhöht, gehen die Steuereinnahmen wieder zurück. Grund: Die Bürger sehen in Steuersätzen jenseits des optimalen Wertes ein so großes Leistungshemmnis, dass sie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten, sei es als Unternehmer, sei es als Arbeitnehmer, einschränken und damit eine wirtschaftliche Schwächeperiode auslösen, die die Steuereinnahmen sinken lässt.

Das Laffer-Theorem ist schlicht und genial zugleich: Schlicht, weil es die Komplexität eines Steuersystems in vielen Staaten der Welt auf eine einfache Formel reduziert. Genial, weil es den Eindruck erweckt, als ob Steuerpolitik eine ganz simple Angelegenheit wäre. Die Wirklichkeit ist aber weitaus komplizierter, wie unter anderem der über dreißig Jahre dauernde heftige wissenschaftliche Streit darüber gezeigt hat; aber dies nur am Rande. Wichtig ist: Ronald Reagan folgte den aus dem Laffer-Theorem ableitbaren Empfehlungen und senkte die Steuern; und die bisherigen Äußerungen von Trump deuten daraufhin, dass er in Fragen der Steuerpolitik genauso denkt und handeln will. Reagan reduzierte den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer in seinen beiden Amtsperioden erst von 70 auf 50 und dann auf 28 Prozent. Den Körperschaftsteuersatz (Steuer auf Gewinne der Kapitalgesellschaften) senkte er 1987 von 50 auf 35 Prozent.

Der dramatische Wettlauf um die niedrigsten Steuersätze

Die Ergebnisse: Die Steuereinnahmen stiegen nicht, wie erwartet, so dass sich die Staatsverschuldung verdreifachte. Die öffentlichen Investitionen mussten wegen der Verschuldung halbiert werden. Die Einkommensschere öffnete sich zugunsten der Reichen. Noch viel wichtiger: Weltweit begann zwischen den reichen Industrienationen ein Wettlauf um möglichst niedrige Steuersätze. Denn alle anderen Regierungen befürchteten eine Abwanderung des Kapitals – insbesondere dass multinationale Konzerne ihre Gewinne in die USA verlagern, um legal Steuern zu sparen. Deshalb folgten nach und nach alle Industrieländer dem Beispiel Ronald Reagans.

US-Wirtschaft: Wie die Laffer-Theorie einst den dramatische Wettlauf um niedrige Steuersätze weltweit befeuerte.

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Nur ein Beispiel, um zu zeigen, wie dramatisch die Veränderungen waren: Noch Mitte der 1970er-Jahre lag der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer in 21 OECD-Ländern bei knapp unter 70 Prozent. Im Jahr 2002 war er auf unter 50 Prozent gefallen. Bei der Unternehmenssteuer – gemeint ist die Körperschaftsteuer – lag der Spitzensteuersatz Mitte der 1970er-Jahre bei fast 60 Prozent, 2002 nur noch knapp oberhalb von 30 Prozent. Langfristig konnte sich kein Land dem Druck des Steuerwettbewerbs entziehen. Denn es ist unbestritten: Steuersätze spielen für die Standortentscheidungen multinationaler Unternehmen eine wichtige Rolle.

Wie die Regierungen unter Helmut Kohl reagierten

Auch die deutsche Steuerpolitik geriet unter Druck: In den Jahren 1986 bis 1994 wurde von den Regierungen unter Helmut Kohl der Körperschaftsteuersatz erst auf 50 und dann auf 45 Prozent gesenkt. Das war nicht viel. Denn im internationalen Durchschnitt war der Steuersatz für Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits auf unter 40 Prozent abgesenkt worden. Deshalb machte die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) unter dem internationalen Druck permanenter Steuersenkungen weiter: zunächst auf 40 Prozent (1999), dann auf 25 Prozent (2001) und schließlich auf 15 Prozent (2005). Heute kann das Bundesfinanzministerium feststellen: »Seit der Absenkung des deutschen Körperschaftsteuersatzes … auf 15 % ist die Stellung Deutschlands im internationalen Vergleich deutlich wettbewerbsfähiger.«

Wer die Körperschaftsteuer senkt, wo es um die Gewinne großer Kapitalgesellschaften geht, der muss auch die Steuern für andere Unternehmen (Handels- oder Kommanditgesellschaften) und Selbständige senken. Denn ein Metzgerladen oder eine Änderungsschneiderei können schwerlich als Aktiengesellschaft betrieben werden. Die umstrittene Frage: Wie stark wird nun die Einkommenssteuer gesenkt? Das Ergebnis in Deutschland: Der Steuerwettbewerb »schwappte« auf die persönliche Einkommensteuer über, und der Spitzensteuersatz für die Reichen – ein Merkmal mit besonders hohem Symbolwert für Sozialdemokraten – wurde ebenfalls abgesenkt.

Hätte Rot-Grün anders handeln können als bloß mitmachen?

Die bisherigen Ausführungen zeigen: Als Präsident der USA, des wirtschaftlich und militärisch bedeutendsten Landes der Welt, konnte Ronald Reagan die Richtung in der Steuerpolitik auch für andere Länder vorgeben. In dieser komfortablen Rolle eines Agendasetters befand sich die rot-grüne deutsche Bundesregierung Anfang der 2000er-Jahre zweifellos nicht. Hätte sie überhaupt anders handeln können? Wie war die Lage? Sogar Italien und Japan, die noch längere Zeit an relativ hohen Unternehmenssteuern festgehalten hatten, fügten sich und senkten die Steuersätze auf knapp 40 Prozent. Auch innenpolitisch wurde die Opposition aus Union und FDP stärker und drängte in Richtung noch niedrigerer Steuern. Der Handlungsspielraum der rot-grünen Bundesregierung war somit enorm eingeschränkt. Dies betrifft nicht nur die deutsche Regierung in den Jahren der rot-grünen Ära, sondern generell die Politik im globalisierten Kapitalismus mit liberalisierten Finanzmärkten. Zwar gilt nicht die TINA-Regel (there is no alternative), denn alles, was von Menschen gemacht ist, ist auch veränderbar. Aber damals war der Handlungskorridor sehr eng, zumal es für eine andere Steuerpolitik international weit und breit keinen wirtschaftlich bedeutenden Bündnispartner gab, der abgestimmt mit Deutschland die Steuersätze erhöht oder zumindest beibehalten hätte.

Der internationale Steuerwettbewerb und die geschilderten Rahmenbedingungen erzwangen Anfang der 2000er-Jahre eine Steuerreform mit den größten Steuersenkungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Von 2001 bis 2005 hatten Bund, Länder und Gemeinden insgesamt mehr als 110 Milliarden Euro an Steuereinnahmen eingebüßt; dabei sind eventuelle Steuermehreinnahmen, die sich ergeben hätten, wenn das Steuersystem so belassen worden wäre wie es war, noch gar nicht mitgerechnet.

Verheerende Folgen für die öffentlichen Investitionen

Die Folgen der größten Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik waren für die öffentlichen Investitionen verheerend. Obwohl die damalige rot-grüne Bundesregierung keineswegs die Staatsausgaben drastisch senkte, um die Steuerausfälle auszugleichen. Sie nahm im Gegenteil eine Erhöhung der Staatsverschuldung hin, was wirtschaftspolitisch vollkommen richtig war. Trotzdem schlugen die sinkenden und dann mehrere Jahre stagnierenden Steuereinnahmen auf die öffentlichen Investitionen durch. Bereits 2002 gingen die Nettoanlageinvestitionen von Bund, Ländern und Gemeinden von drei (2001) auf 1,7 Milliarden Euro zurück. Ab 2003 fielen sie ins Negative, das heißt, der Staat tätigte sechs Jahre lang nicht einmal mehr Ersatzinvestitionen, um die entstandenen Schäden an der öffentlichen Infrastruktur zu reparieren und sie wieder instand zu setzen, sondern ließ sie verfallen. Erst von 2009 an wurden die öffentlichen Nettoanlageinvestitionen wieder positiv, blieben aber in ihrem Niveau weit hinter dem eigentlich Erforderlichen zurück. In den 2000er-Jahren hätte die öffentliche Hand insgesamt rund sieben Milliarden Euro mehr investieren müssen, allein um die öffentliche Infrastruktur instand zu halten.

Die Folgen der größten Steuersenkung in der Geschichte der Bundesrepublik waren für die öffentlichen Investitionen verheerend.

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Erst von 2009 bis 2012 wurden die öffentlichen Nettoanlageinvestitionen wieder positiv – eine Folge der Konjunkturpakete, die die große Koalition zur schnellen Überwindung der Finanzmarktkrise auf den Weg gebracht hatte. Doch bereits 2014 und 2015 wurde vom Staat erneut weniger investiert, als zum Erhalt der Infrastruktur notwendig gewesen wäre. Der Grund: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will unbedingt eine Schwarze Null, also einen ausgeglichenen Haushalt.

Von der Laffer-Kurve bis zur defekten Schultoilette

Es erstreckt sich also über Jahrzehnte hinweg eine Wirkungskette von der Steuerpolitik des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in den 1980er-Jahren bis zum nicht ausgebesserten Schlagloch vor der eigenen Haustür und dem desolaten Zustand vieler Schultoiletten. Die Zwänge des globalisierten Kapitalismus, die den Handlungsspielraum nationaler Regierungen in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik erheblich einengen und sich direkt auf das Leben der Menschen auswirken, höhlen die Demokratie aus, weil zumindest bisher Regierungswechsel zu keinem grundlegenden Politikwechsel mehr führen. Das Beispiel Ronald Reagan zeigt aber auch: Zu Beginn stand eine Entscheidung der Politik. Und auch die Schwarze Null muss nicht sein. Mit anderen Worten: Will die Politik, dann geht es auch in die ganz andere Richtung.

Der Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version eines Aufsatzes »Zukunftsinvestitionen und Steuerpolitik im globalisierten Kapitalismus«, der in der von der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus herausgegebenen Zeitschrift perspektivends, Heft 2/2016, Schüren Verlag Marburg, erschienen ist.

Geschrieben von:

Hermann Adam

Professor für Politikwissenschaft

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