Wirtschaft
anders denken.

Von Ressourcen, Erwartungen und der Länge der Hebel

04.08.2018
Jaques, Lizenz: CC BY-SA 3.0Auch eine Möglichkeit, etwas zu sammeln. Und ein Hebel ist auch dran.

Die Sammlungsbewegung macht wieder Schlagzeilen. Unter dem Titel »Aufstehen« nimmt die Initiative Gestalt an – und sorgt für Reaktionen. Zum aktuellen Stand einer, nun ja: Debatte.

»Andere politische Mehrheiten und eine neue Regierung mit sozialer Agenda«, so formuliert Sahra Wagenknecht das Ziel der Sammlungsbewegung, die nun unter dem Namen »Aufstehen« tatsächlich Gestalt annimmt. Die Reaktionen reichen von strikter Ablehnung bis zu erfreuten Bereitschaftserklärungen, bei dem Projekt mitzumachen, das in einem Monat im politischen Berlin vorgestellt werden soll. Eine ausführlicher Stand der Dinge findet sich beim »Tagesspiegel«.

Hinter der Kritik lassen sich ein paar Muster ausmachen. Da sind das Linksparteimitglied, das die eigene Organisation als die bereits bestehende linke Sammlungsbewegung verteidigt, oder der SPDler, der genauso argumentiert.

Da sind jene, die »Aufstehen« als von oben inszenierte Bewegung kritisieren und darauf verweisen, dass es – siehe etwa die vielen lokal selbstorganisierten Aktionen der »Seebrücke« – in diesen Zeiten bereits eine progressive Sammlungsbewegung gibt, die diesen Namen eher verdient hätte.

Da sind Vertreter von SPD und Grünen, die das Projekt »Aufstehen« vorrangig als Initiative zur Abwerbung enttäuschter eigener Wähler und also als politischen Torpedo betrachten, zumal die Initiative explizit auf die Sozialdemokraten einwirken will, diese seien »ein Schlüssel«.

Da sind Befürworter von Rot-Rot-Grün, die über die Schwäche der eigenen bundespolitischen Hegemoniebemühungen nicht hinwegsehen können und daher Versuche, neue Mehrheitsbildungen zu ermöglichen durchaus begrüßen. Die aber nun vor allem inhaltlich Vorbehalte haben, hier wird meist die Migrationsfrage genannt. Personenbezogene Unvereinbarkeiten oder Distanzen treten hinzu.

Ausdruck des Form-Substanz-Problems

Auf einen darüber hinausgehenden Aspekt hat Thomas Oppermann von der SPD hingewiesen, dem man weder Nähe zu Wagenknecht noch zu dem Projekt unterstellen wird: Wenn politische Sammlungsbewegungen erfolgreich sind, sagte er der »Rheinischen Post«, dann liege das daran, dass die Parteien »weitgehend versagt haben«. Der Bundestagsvizepräsident spricht hier einerseits aus seinem parlamentarischen Amt heraus als Verteidiger der Parteiendemokratie, die in anderen Ländern bereits mit solchen Bewegungs-Formationen konfrontiert ist, deren Existenz auch auf die Verfahren und Kultur des Politischen Auswirkungen hat. Und er spricht als Sozialdemokrat, deren Partei sich im Umfragedauersinkflug befindet und der einen Ausweg darin sieht, »dass die Parteien sich erneuern und das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen«.

An dieser Stelle wäre in die Tiefe zu bohren. »Dass zwischen den bestehenden Formen der Politik und deren Substanz immer stärkere Widersprüche hervortreten, wird seit längerem beobachtet«, hatte es hier zu anderer Gelegenheit einmal geheißen. Grundlegende Konflikte über Ziel und Inhalt der Politik verlaufen zunehmend innerhalb von Parteien, man kann das in der Union ebenso verfolgen wie in der SPD, und es scheint, dass es vor allem eine Frage der Moderations- und Medienkompetenz von führenden Akteuren ist, ob solche Konflikte gerade die öffentliche Wirkung dominieren oder nicht. Schlagzeilen haben in der Vergangenheit auch großen Streitereien in Grünen und Linkspartei gemacht. Und auch hier verwob sich Parteipolitisches mit Grundsätzlichem.

Die Sehnsucht nach etwas Neuem

Zudem spüren viele, wie in ihren Freundeskreisen (teils noch vage) Erwartungen und Hoffnungen wachsen, »etwas Neues« könne das Bedürfnis nach mehr Kohärenz stillen, könne Widersprüche reduzieren, könne endlich zur Wirksamkeit bringen, was in den vergangenen Jahrzehnten nicht über den Status der Forderung hinausgekommen ist: einen echten, sozialen, ökologischen, solidarischen Politikwechsel. Gerade jetzt, in Zeiten eines sich radikalisierenden Rechtsrucks.

Je nach dem, wie solche Erwartungen politisch konnotiert sind, wird »Aufstehen« eher positiv oder eher negativ gesehen – die Initiative, wie auch immer man zu ihr steht, bleibt in beiden Fällen Ausdruck eines sich verändernden Systems politischer Repräsentation. Man kann hier Gero von Randow zitieren, der schon vor Monaten mit Blick auf die Sammlungsidee die Frage aufwarf: »Wo gehen dann die anderen hin? Vielleicht bleiben sie, wo sie sind. Oder sie überlegen sich eben etwas Neues.« Das ist nicht auf das Mitte-links-Lager begrenzt. Letzteres beobachtet man zum Beispiel derzeit in der Union.

Im aktuellen »Spiegel« sagt Wagenknecht, es gehe »um ein inhaltliches Projekt«. Wer die Gelegenheit hatte, einmal in einen neueren Arbeitsstand des Aufrufes zu blicken, wird ein paar nicht ganz unwichtige Änderungen gegenüber dem vor einigen Wochen kursierenden »FairLand«-Papier entdecken. Das Magazin, das der Initiative als öffentliche Bühne dient, schreibt, die Tonlage sei »heruntergedimmt«. Es taucht da nun kein »Hassprediger« mehr auf, auch geht es nicht mehr um »kulturelle Eigenständigkeit« oder »Identität«, auch die Passage zu Europa wurde verändert.

»…muss auch sammeln können«

In einem gemeinsamen Beitrag im »Spiegel« haben Marco Bülow, Sevim Dagdelen und Antje Vollmer geschrieben, »wer sammeln will, muss auch sammeln können«. Dabei geht es heute nicht zuletzt um Tonlagen und Begriffe. Die Initiatoren versuchen offenbar, auf öffentliche Kritik einzugehen. »Die neue Sammelbewegung soll sich nicht nur auf einige Personen oder ›Stars‹ konzentrieren«, heißt es da zum Beispiel.

An anderer Stelle wiederum könnte man Hans-Jürgen Urban immer noch zitieren, der einmal geschrieben hat, ihm sei da »zu viel von Besitzstandswahrung im gegenwärtigen Sozialstaat und viel zu wenig von ökonomischer Kapitalismuskritik und von der unabdingbaren Solidarität mit denjenigen die Rede, die zu uns fliehen«.

Hier wäre eine weitere Tiefenbohrung anzusetzen. Was in dem Papier zu einer Politik guter Arbeit, höherer Löhne, zu sozialstaatliche Sicherung, Gemeinwohlorientierung und steuerlicher Umverteilung und naturverträglichem Wirtschaften gesagt wird, werden viele durchaus unterschreiben können. Natürlich stellt sich die Frage nach der Historizität wohlfahrtsstaatlicher Politikerfolge, nämlich: ob die zentralen Ressourcen »für eine Moderation struktureller Ungleichheiten« (Oliver Nachtwey), für das, was manche schon eine wohlfahrtsstaatliche Ausnahmeperiode der Nachkriegszeit nennen, in der »bei steigender Produktivität Beschäftigung und gesellschaftliche Integration durch sozialen Aufstieg ermöglicht wurden«, heute noch bestehen und in welcher Weise aktiviert werden können. Und ob, das tritt hinzu, bei kritischer Kenntnis der ökologischen, klimapolitischen und die Ressourcen betreffenden Folgen, wieder und überhaupt noch an eine Strategie deutlichen Wachstums angeknüpft werden sollte.

Die Räumlichkeit des Politischen

Eine Kerndifferenz innerhalb des gesellschaftlichen Mitte-Links-Lager heute besteht zudem darin, welcher »Räumlichkeit des Politischen« man auf dem Weg dorthin mehr Gestaltungsressourcen zubilligt. Unter Berufung auf John Maynard Keynes heißt es im »Aufstehen«-Papier unter anderem, »Ideen, Kunst, Wissen, Gastfreundschaft und Reisen sollten international sein. Dagegen sollten Waren lokal erzeugt werden, wo immer dies vernünftig möglich ist; vor allem aber die Finanzen sollten weitgehend im nationalen Kontext verbleiben«. Und weiter: »Die Spielräume für die Politik in einzelnen Ländern sind auch heute noch weit größer als uns eingeredet wird.«

Hieraus resultieren dann strategische Differenzen, die etwa die Europapolitik betreffen, sich aber teils auch als kulturelle Differenzen widerspiegeln, ablesbar in der Mode, eine kosmopolitische Denkweise als neoliberal oder Marotte von Besserverdienenden zu kritisieren. Es gibt dagegen sehr gute Gründe, eine weltgesellschaftliche Perspektive sogar noch stärker zu betonen, was an dem allgemeinen Kladderadatsch kritisiert wird, ruft geradezu nach globaler Lösung.

Man wird allerdings auch nicht umhinkommen, die gegenwärtige realpolitische Schwäche dieser Position zu diskutieren. Die Hebel für eine stärkere Einhegung des globalen Kapitalismus, der Entfesselung progressiver Dynamiken und der Umverteilung auf der internationalen Ebene sind derzeit eher kurz und die Mehrheitsverhältnisse, die zur Verlängerung dieser Hebel nötig wären, stimmen nicht eben optimistisch.

Die weltgesellschaftlichen Ungleichheiten

Gero von Randow hat auf eine weiter Hürde hingewiesen, die zu überwinden wäre, wollte man auf dem weltgesellschaftlichen Weg vorankommen – über einen globalen Ausgleich nicht nur zu reden, sondern ihn auch angehen. Es geht um »ungerechtfertigte Bereicherung« aus Jahrhunderten. »Sie muss ausgeglichen werden. Und zwar von dem, der profitiert hat. Im Fall der Dekolonisierung wären das also die meisten, die hier leben.« Das wird nicht auf »Bekämpfung der Fluchtursachen« beschränkt bleiben können.

Stephan Lessenich hat diese Dimension schon vor einiger Zeit so formuliert: »Wir haben gerade, völlig zu Recht, eine Debatte über innergesellschaftliche Ungleichheiten, über die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Diese Debatte verkompliziert sich aber, wenn man die weltgesellschaftlichen Ungleichheiten mit einbezieht. Dann wird man nämlich sehen, dass gerade die Menschen, die in unserer Gesellschaft schlechtergestellt sind, in einer doppeldeutigen Position sind, denn weltgesellschaftlich gesehen leben sie auf einem Reproduktionsniveau, das das von weiten Teilen der Gesellschaft erheblich überschreitet. Außerdem sind sie eben ›gefangen‹ in Strukturen, über die sie von den Ausbeutungsverhältnissen in der Welt profitieren.« Auch das hat unter Linken schon zu recht kontroversen Debatten geführt, man kann diese unter anderem in der »Prokla« nachlesen.

Wer die Begrenztheit der Antworten anderer in solchen Dingen kritisiert, wird sich selbst auch befragen müssen, wie weit man ist mit dem Auflösen von Widersprüchen, dem Aufstoßen von Türen, dem Eröffnen neuer Möglichkeiten.

Hinter dem, was schiefgelaufen ist in der »sozialdemokratischen Matrix« der vergangenen Jahrzehnte, also auf der Seite des Politischen, der es um die gesellschaftlichen Bedürfnisse geht, und zu der die rot-rot-grünen Parteien gehören, steckt die eine große Frage: Wie lässt sich wirksam unter den Bedingungen einer kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung jetzt eine Politik betreiben, die wirksam die Reproduktionsinteressen der Natur und der Arbeit schützt und wachsende Freiheitspotenziale der Menschen auf eine immer demokratischere Weise entfesselt. Jeder Versuch, politisch zu wirken, wird sich daran messen lassen müssen, ob er Antworten findet, die überzeugen und auch wirklich etwas ändern.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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