Wirtschaft
anders denken.

Von Vollzeit auf Teilzeit und zurück

Die Balance stimmt nicht mehr: Die einen arbeiten zu kurz, die anderen zu lang. Die neue Arbeitszeitordnung sieht so aus: sehr flexibel, klare Rechte, kollektiv vereinbart. Ein Interview mit dem Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch.

01.07.2017
Prof. Gerhard BoschFoto: Ulrich Zillmann
Gerhard Bosch, 1947 geboren, ist Arbeitsmarktexperte, Diplom-Volkswirt und Soziologe. Der Wissenschaftler leitete von 2007 bis 2016 als geschäftsführender Direktor das Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, wo er bereits 1993 zum Professor berufen worden war. Bosch war an zahlreichen nationalen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt.

Wie hoch ist in Deutschland die faktische Arbeitslosigkeit? Die offiziell registrierte liegt momentan bei etwa 2,5 Millionen Arbeitslosen.

Gerhard Bosch: Ich denke, es kommt noch eine gute Million hinzu, das sind all diejenigen, die sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinden. Dramatisierungen, wonach wir faktisch vier bis fünf Millionen Arbeitslose haben, teile ich nicht. Noch eine Anmerkung, die für den internationalen Vergleich wichtig ist: In Deutschland werden Arbeitnehmer, die 15 Stunden und weniger pro Woche arbeiten, bereits als Arbeitslose gezählt. Die USA beispielsweise zählen dagegen nach dem Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), wonach jemand bereits dann als beschäftigt gilt und nicht mehr als arbeitslos, der nur eine Stunde pro Woche arbeitet. Würde in Deutschland so gezählt, dann gäbe es offiziell nur 1,7 Millionen registrierte Arbeitslose.

Es gab im Jahr 2005 knapp über fünf Millionen registrierte Arbeitslose. Heute also deutlich weniger. Ein großer Erfolg. Wer ist dafür verantwortlich?

Seit 2002 gibt es fast fünf Millionen zusätzliche Arbeitsplätze. Darunter sind Leiharbeitsstellen, Mini-Jobs, befristete Stellen, aber auch sehr viele sehr gute Arbeitsplätze. Das kann man nicht kleinreden.

Wie hoch ist der Anteil der qualifizierten Arbeitsstellen?

Das ist schwer zu sagen. Aber: Unter den fünf Millionen zusätzlichen Stellen sind zwei Millionen Vollzeitstellen. Die sind nicht alle gut, denn darunter sind auch viele mit Niedriglöhnen. Dann sind unter den fünf Millionen auch sehr viele Teilzeitstellen – aber oft gute, weil sie sozialversicherungspflichtig abgesichert sind. Wenn ich die hinzunehme, dann ist gut die Hälfte dieser neuen Stellen als gut und qualifiziert zu bezeichnen.

Und das ist der Erfolg von Kanzler Gerhard Schröder und seiner Agenda 2010. Richtig?

Das ist die gängige Interpretation.

Sie sehen das anders?

Ja. Diesen Aufschwung an Stellen gab es zum einen aufgrund eines Mehr an Teilzeitarbeit – dazu bedurfte es der Agenda 2010 nicht. Und aufgrund der beträchtlichen Zunahme des Exportgeschäftes der deutschen Industrie. Erst in den letzten Jahren nahm die Beschäftigung auch deshalb zu, weil wegen ordentlicher Lohnerhöhungen und der Zunahme öffentlicher Investitionen die Binnennachfrage in Deutschland, die fast ein Jahrzehnt stagnierte, sich etwas belebte.

Den Aufschwung an Stellen gab es aufgrund eines Mehr an Teilzeitarbeit – dazu bedurfte es der Agenda 2010 nicht.

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Aber das Exportgeschäft nahm doch so stark zu, weil die deutschen Unternehmen wettbewerbsfähig sind. Und das sind sie, weil die Löhne vergleichsweise niedrig sind. Und das wiederum sind sie, weil Schröder mit seiner Agenda 2010 sie niedrig gehalten hat.

Ich denke, diese Argumentation ist falsch. Im Exportgeschäft sind Qualität der Produkte, der Wartung und Schnelligkeit ausschlaggebend. Die Lohnkosten spielen da eine geringe Rolle. Wettbewerbsfähig sind die deutschen Unternehmen, weil sie in den 1990er-Jahren bis Anfang 2000 etwas machten, was ich die `stille Reform` nenne. Anfang der 1990er-Jahre waren die deutschen Unternehmen hierarchisch, unbeweglich, zentralisiert, auch die Berufsausbildung und Berufsbilder waren veraltet. Die Beschäftigten dachten nur in Fachkompetenzen, nicht in Teamarbeit. Japanische Unternehmen setzten sich mit modernen leistungsfähigen Produktionskonzepten an die Spitze. Damals wurde die Berufsausbildung modernisiert, Teamarbeit eingeführt, die Unternehmen organisierten sich flexibler, Hierarchien wurden abgebaut, neue Techniken wurden schneller in Produkte umgesetzt, Lagerhaltungen abgebaut und Just-in-Time-Produktionen eingeführt. Und vor allem wurden die Arbeitszeiten viel flexibler organisiert. Es wird nicht mehr starr 35 oder 40 Stunden pro Woche gearbeitet, sondern die Arbeitszeiten werden längs des jeweiligen Produktionszyklus über das ganze Jahr verteilt.

Gegen den Widerstand der Gewerkschaften.

Richtig. Am Anfang ja. Ich war zuvor auch sehr skeptisch und habe erst anhand von vielen Unternehmen gelernt, es gibt hervorragende flexible Arbeitszeitmodelle, wo die Interessen der Beschäftigten sehr gut gewahrt werden. Problematisch ist das nur dort, wo es keine starken Betriebsräte und Gewerkschaften gibt. Denn dort werden die Beschäftigten bei solchen Änderungen nicht selten über den Tisch gezogen.

Dann ist diese `stille Reform`, die ohne Zutun der Politik erfolgte, der Grund für die Millionen neuer Arbeitsplätze. Und Gerhard Schröder beansprucht für sich mit seiner Agenda 2010 zu Unrecht, Vater dieses Erfolges zu sein. Was hat dann die Agenda 2010 gebracht?

Na ja, eine kurzfristig starke Zunahme der Leiharbeit. Das kann man positiv sehen: Die Unternehmen können deshalb noch flexibler reagieren, wenn sie schnell große Aufträge erhalten. Man kann das aber auch negativ sehen: Mit der Leiharbeit erhielten die Unternehmen noch einen zusätzlichen Flexibilitätspuffer, den sie nicht mehr benötigten. Und: Mit der Leiharbeit wurde ein Prozess eingeleitet, mit dem auch reguläre Arbeitsplätze – völlig unnötig – von Unternehmen aufgrund sehr kurzfristiger Kostenüberlegungen durch prekäre Arbeitsplätze ersetzt wurden.

Dann war die Agenda 2010 überflüssig, vor allem weil sie zu spät kam.

Richtig. Und die Agenda 2010 brachte dann mit dem Niedriglohnsektor, der mit ihr verbundenen Sparpolitik und den geringen öffentlichen Investitionen weitgehend nur Negatives: Die Binnennachfrage stagnierte in Deutschland viele Jahre. Deutschlands Wirtschaft stand und steht deshalb nur auf einem Bein: dem Exportgeschäft mit den großen Überschüssen, die so viel Unfrieden und Probleme bereiten, weil das Ausland bei uns ständig einkaufen soll und wir dies umgekehrt nicht tun. Ich erinnere mich: Anfang 2000 gab es in Deutschland buchstäblich eine Hysterie. Die Politik, fast alle Medien und die Wissenschaft behaupteten, die deutsche Wirtschaft stünde faktisch am Abgrund. Dabei hatten wir schon damals erhebliche Exportüberschüsse, ein Ausweis an weltweiter Wettbewerbsfähigkeit.

2000 gab es eine Hysterie, die deutsche Wirtschaft stünde am Abgrund. Wir hatten schon damals erhebliche Exportüberschüsse.

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Gehen wir noch einen Schritt zurück: Ende der 1980er-Jahren gab es im damaligen Westdeutschland etwa eine Million Arbeitslose. Und die Diskussion: Zerbricht daran die Demokratie? Danach gab es bis zu fünf Millionen, heute faktisch 3,5 Millionen Arbeitslose. Gewöhnt sich eine Demokratie an alles?

Ich erinnere mich noch an die Krise von 1967. Damals stieg die Zahl der Arbeitslosen über 500.000. Und das Bürgertum hatte Angst, es werden nun soziale Unruhen ausbrechen. Und die Linke hoffte, die Arbeiterklasse werde endlich militanter. Es gab damals auch spontane Streiks, auch wilde Streiks genannt. Aber es überwog dann über die Jahre hinweg die Gewöhnung, die Resignation und das Gefühl der Machtlosigkeit. In den 1980er-Jahren gab es die ersten größeren Auslagerungen von Unternehmen, gegen die Betriebsräte und Gewerkschaften gar nichts tun konnten. Und diese Resignation der Arbeiterklasse, die damals bereits einsetzte, die ist dann nach der Wiedervereinigung extrem geworden. Die Globalisierung wurde stärker, der Druck der Finanzmärkte. Es ist erstaunlich, wie sehr wir uns letztlich an diese neuen Verhältnisse gewöhnt haben.

Der Arbeitnehmerbewegung wurde der Schneid abgekauft.

Das kann man schon sagen. Aber wir haben hier eben auch eine andere Tradition: Im Gegensatz zu den britischen und französischen sind die deutschen Gewerkschaften stark in das System eingebunden, sie gestalten mit. Das finde ich auch richtig. Aber man darf nicht darum herumreden: An entscheidenden wirtschaftspolitischen Herausforderungen, wie beispielsweise der Agenda 2010, sind sie dann auch gescheitert. Was oft vergessen wird: Gerhard Schröder hat damals, um die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen, den Gewerkschaften gedroht, das Günstigkeitsprinzip der Tarifverträge aufzukündigen. Das heißt konkret, in einzelnen Betrieben hätten Unternehmen und Betriebsräte schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen als in den Tarifverträgen vereinbaren können und dann hätten die Betriebsvereinbarungen gegolten und nicht die Tarifverträge. Übrigens eine alte Forderung der FDP. Das wäre die komplette Entmachtung der Gewerkschaften gewesen. Damalige Gewerkschaftsvorsitzende geben auf diese Version Brief und Siegel: Sie standen vor der Alternative, ihren Widerstand gegen die Agenda 2010 wenigstens teilweise aufzugeben oder die Regierung Schröder wäre an den Kern des deutschen Tarifsystems gegangen. Das war glatte Erpressung. Und der haben sich die Gewerkschaften gebeugt. So kam es unter anderem zum Pforzheimer Abkommen zwischen IG Metall und Metall-Arbeitgeber, zu sogenannten Öffnungsklauseln, mit denen in den Unternehmen Vereinbarungen getroffen werden können, die von Tarifverträgen abweichen. Ein anderes Thema ist, dass zumindest die IG Metall diese neuen Möglichkeiten so geschickt handhabte, dass sie als Organisation letztlich gestärkt daraus hervorging.

Es gab in den 1970- und 80er-Jahren in Westdeutschland von Seiten der Gewerkschaften das große Projekt der Humanisierung der Arbeit. Dann den Kampf um die 35 Stunden-Woche. Gab es seither jemals wieder ein vergleichbares großes Projekt der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften, an dem in der Gesellschaft niemand vorbeigehen konnte?

Sie haben ein ganz wichtiges Projekt vergessen: den gesetzlichen Mindestlohn. Richtig ist, die Gewerkschaften waren sich erst sehr uneinig darüber. Aber als sie sich dann seit etwa 2006 einig waren, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein gesetzlicher Mindestlohn durchgesetzt werden konnte. Seither gibt es kein großes Projekt mehr, das ist richtig. Es gibt viele kleine Projekte wie Auszeiten für Weiterbildung und Pflege. Es gibt Kampagnen zur Guten Arbeit. Aber da zündet noch nichts.

Wie ist Ihre Bilanz des Mindestlohnes? Kann mit ihm die Lohndrift nach unten gestoppt werden?

Er ist ein Riesenfortschritt. Wir hatten – als entwickeltes Land mitten in Europa – über zwei Millionen Arbeitsplätze, die mit weniger als sechs Euro die Stunde bezahlt wurden. Undenkbar in Frankreich mit einem Mindestlohn von 9,50 Euro und Großbritannien. So gab es deutliche Lohnerhöhungen im unteren Lohnbereich. Das erste Ziel ist also erreicht. Und vor allem: Es ist ein Waterloo, eine totale Niederlage für die herrschende Ökonomie, die bis heute nicht eingestehen kann, dass die Einführung des Mindestlohnes nicht zu Verlusten an Arbeitsplätzen geführt hat. Werden Mindestlöhne eingeführt, dann werden damit Arbeitsplätze vernichtet. Basta. Auch wenn es in der Wirklichkeit ganz anders ist. Der Vorsitzende unseres Sachverständigenrates, Christoph Schmidt, das ist einer dieser Glaubensritter und Dogmatiker.

Es gibt also keine Arbeitsplatzverluste wegen des Mindestlohnes?

Unter dem Strich: nein. Das heißt aber nicht, dass Arbeitsplätze nicht verloren gehen. Beispiel: Es gab Unternehmen, deren Kalkulation basierte auf Lohndumping. Natürlich gehen die jetzt bankrott. Zurecht. Diese Nachfrage wandert jedoch zu anderen Unternehmen. Und: Es entsteht aufgrund der höheren Löhne eine höhere Kaufkraft, die an anderen Stellen sogar zu neuen zusätzlichen Arbeitsplätzen führt.

Es gibt keine Arbeitsplatzverluste wegen Mindestlohn. Es gibt Unternehmen, deren Kalkulation basierte auf Lohndumping.

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Haben Sie als Wissenschaftler diese gute Bilanz erwartet?

Ich hatte Angst, es gäbe in Ostdeutschland negative Effekte. Weil dort viele Löhne so niedrig waren. Diese Angst war in der Politik und den Gewerkschaften weit verbreitet. So kam es zu den Ausnahmeregeln. Und die Politik setzte den Mindestlohn letztlich niedriger an als es möglich gewesen wäre: Man startete mit 8,50 Euro und nicht etwa mit 9,50 Euro wie in Frankreich. Für Westdeutschland alleine wäre das problemlos möglich gewesen.

Es gibt die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro. Denn nur mit dem erhalte der Arbeitnehmer auch eine halbwegs ordentliche Rente, so das Argument. Ist der für die Wirtschaft auch verkraftbar?

Das wäre sehr viel. Wir haben bei den Löhnen große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, in großen und kleinen Betrieben, im Industrie- und im Dienstleistungsbereich. Da rate ich als Ökonom schon zur Vorsicht. Erhöhen kann man ihn sicher noch. Ich frage mich aber: Ist das der richtige Ansatz, sich so sehr nun auf den Mindestlohn zu konzentrieren? Für mich ist die große Zukunftsfrage nicht die ständige und gar übermäßige Erhöhung des Mindestlohnes, sondern die Frage der Tarifbindung. Mir geht es darum, dass eine gelernte Verkäuferin eben nicht nur 8,84 Euro aktuellen Mindestlohn erhält, sondern zwölf Euro nach geltendem Tariflohn. Den erhält sie aber nur, wenn für ihr Geschäft der Tarifvertrag auch gilt. Das Problem: Immer weniger Unternehmen und immer weniger Beschäftigte fallen unter die geltenden Tarifverträge. Wie kann es also gelingen, dass mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, so dass sie für alle Unternehmen gelten in einer Branche, nicht nur für die Unternehmen, die im Arbeitgeberverband sind? Die Allgemeinverbindlichkeit wird von den Arbeitgeberverbänden seit einigen Jahren überall gestoppt. Diese Blockade muss von Politik und Gewerkschaften überwunden werden. Sich auf das Tarifsystem zu konzentrieren, halte ich für wichtig, weil so die Gewerkschaften gestärkt werden. Wird alles dem Staat überlassen, dann werden die Arbeitnehmer nie mehr mobilisiert, dann werden die Gewerkschaften noch schwächer und sind bald am Ende.

Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Roboterisierung, Industrie 4.0 – es heißt, vor allem wenn diese neuen Techniken kombiniert werden, könnten beinahe die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze wegfallen. Wie ist Ihre Einschätzung?

Keine Frage: Mit diesen Techniken kommen massive Rationalisierungen auf uns zu. Das muss man ernst nehmen. Der Prozess der Digitalisierung begann allerdings bereits in den 1980er-Jahren. Und es wird schon seit Jahrzehnten über das Ende der Arbeit geschrieben. Nichts davon ist eingetroffen. Zu bedenken ist auch: Die Unternehmen setzen nicht jede neue Technik ein, sondern nur die, mit der sie auch zusätzlich Geld verdienen können.

Aber heute kommt es doch nicht nur zu einem kontinuierlichen Wandel, sondern auch zu richtigem Umbrüchen.

Das ist richtig: Mit dem Wechsel vom Verbrennungs- zum Elektromotor wird vermutlich eine ganze Branche, die Automobilbranche, auf den Kopf gestellt. Aber meistens ist der Wandel kontinuierlich und nicht disruptiv. Um die Dimension deutlich zu machen: Man kann heute begründet sagen, mindestens 40 Prozent der Arbeitsplätze von 1980 sind nicht mehr existent. Und die Textil- und Schuhindustrie in Deutschland wurde bereits in den 1960er-Jahren Opfer der Globalisierung und der Auslagerung der Produktfertigung im billigeren Ausland.

Unternehmen setzen nicht jede neue Technik ein, sondern nur die, mit der sie auch zusätzlich Geld verdienen können.

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Erlauben Künstliche Intelligenz, Roboter und Digitalisierung bald radikale Arbeitszeitverkürzungen, so dass die Arbeitnehmer nur noch 30 oder 25 Stunden die Woche arbeiten?

Im Kapitalismus ist das Thema Arbeitszeitverkürzung immer auf der Tagesordnung. Wir haben Statistiken seit 1870: Damals hat ein Beschäftigter über 3.000 Stunden gearbeitet, heute sind wir im Durchschnitt bei weniger als 1.500 Stunden im Jahr.

Wenn jetzt weiter verkürzt wird, dann kollektiv oder nicht?

Die IG Metall beispielsweise hat ihren letzten Kampf um die 35 Stunden-Woche in Ostdeutschland verloren. Und zwar so deutlich, gar schmählich, dass sie seither das Thema der kollektiven Arbeitszeitverkürzungen nie mehr aufgenommen haben.

Das war ein so tiefer Einschnitt?

Eindeutig. Das setzt sich im kollektiven Gedächtnis einer solchen Organisation fest, als schwere Niederlage. Es fehlte damals der Rückhalt in den Gewerkschaften selbst, aber auch in der Bevölkerung. Ich komme auf den Zuwachs von etwa fünf Millionen Arbeitsplätzen seit Anfang 2000 zurück. Dieser Zuwachs ist zu 90 Prozent auf kürzere Arbeitszeiten zurückzuführen. Denn das Volumen an bezahlter Arbeit hat seither kaum zugenommen. Es wurde nur anders verteilt. Die Teilzeitarbeit hat enorm zugenommen. Und da die vielen Teilzeitler jeweils individuell verhandelt haben, haben sehr viele Beschäftigte Arbeitszeiten, die sie gar nicht haben wollen: die einen arbeiten zu viel, die anderen zu wenig. Wir wissen aus Umfragen, dass vor allem TeilzeitarbeiterInnen oft länger arbeiten wollen. Es gab also in den vergangenen 15 Jahren klammheimlich eine enorme Arbeitszeitverkürzung, die jedoch nicht auf der politischen Agenda stand – sie geschah einfach.

Das spricht doch für die große kollektive Arbeitszeitverkürzung auf 30 oder 25 Stunden pro Woche. Denn nur so kommen die Arbeitnehmer mit ihren Interessen nicht unter die Räder.

Ich ziehe daraus eine andere Konsequenz: Es bedarf eines klaren Rahmens, innerhalb dessen all diese Fragen geklärt und vereinbart werden. In Schweden und anderen skandinavischen Staaten ist das bereits Alltag.

Was meinen Sie mit diesem Rahmen?

Einen Rahmen, gestaltet aus Tarifvereinbarungen und Gesetzen, so dass die Beschäftigten klare Rechte haben, die sie reklamieren können. Eine Mutter oder ein Vater will weniger arbeiten, wenn die Kinder noch klein sind, will anschließend jedoch wieder Vollzeit arbeiten. Jemand will ein Jahr vielleicht aussteigen und ein sabbatical machen. Die Eltern werden krank, also will ich mit 50 Jahren von der Vollzeit einige Stunden herunter, um ein, zwei Jahre meine Eltern zu pflegen. Oder ich will mit Ende 50 generell weniger arbeiten als zu Beginn meines Berufslebens. Das große Ziel: Ein Beschäftigter soll ohne großen Aufwand, ohne Reibungsverluste und Konflikte, je nach Lebenslage und Möglichkeiten, zwischen einer richtigen langen Vollzeitarbeit von bis zu 40 Stunden in der Woche bis hinunter zu einer kurzen Teilzeitarbeit von vielleicht nur 15 Stunden die Woche, einschließlich möglicher Auszeiten, hin- und her wechseln können. In Schweden sind diese Modelle bereits seit Jahren gewohnte Praxis. Das heißt: Das ist alles im Arbeits- und Unternehmensalltag machbar. So habe ich beides zusammengefügt: Ich habe eine große kollektive Lösung, ein Rahmen mit klaren Rechten – und der wird eventuell auch in Arbeitskämpfen durchgesetzt werden müssen. Und dieser kollektive Rahmen lässt sehr viele maßgeschneiderte persönliche Lösungen zu. So werden Arbeitszeiten erreicht, die die Beschäftigten sich auch wünschen. Und sie müssen bei dem Unternehmen nicht darum bitten, sondern sie haben klare Rechte.

Und warum machen wir das nicht schon lange?

In West-Deutschland war das traditionelle männliche Alleinverdiener- und Alleinernährer-Modell mental und kulturell tief verankert. Das löst sich seit ein, zwei Jahrzehnten auf, mit zunehmender Geschwindigkeit, aber das sind trotzdem lange Prozesse. Was den Wandel erheblich beschleunigt: Die jungen Frauen wollen Familie und Beruf vereinbaren und fordern das ein, egal ob sie in konservativen oder kulturell eher fortschrittlichen Schichten aufwachsen. Wer leider nicht Vorreiter war: Die Gewerkschaften in Deutschland haben dieses Thema jahrelang verschlafen. Im Gegensatz zu den schwedischen Gewerkschaften. Eine Folge: In Schweden organisieren die Gewerkschaften 70 Prozent der beschäftigten Frauen, in Deutschland sind es bescheidene 12 Prozent.

Wo stehen wir heute in Deutschland bei diesem Projekt?

Na ja, wir haben vielleicht die Hälfte der Wegstrecke erreicht. Wir haben mit den Minijobs und dem Ehegattensplittung noch starke falsche Anreize, welche die Leute fernhalten von der Arbeit, die sie eigentlich wollen. Aber diese Entwicklung ist unumkehrbar und sie beschleunigt sich. Das lässt sich schön an der Entwicklung der Plätze für Kinderkrippen ablesen. Erst dachte die Politik, es reiche, für gut 30 Prozent der Kinder Plätze zu schaffen. Wir stellen jedoch fest, der Bedarf ist sehr viel größer. Und wir sind dabei, diesen Rahmen nach und nach zu bauen: Wir haben das Elterngeld, das Recht auf Teilzeit. Es muss noch mehr Ganztagsschulen geben, mehr Kinderbetreuung ….

Aber dann könnte daraus doch das große kollektive Projekt einer neuen Arbeitszeitordnung werden?

Mich würde es freuen, denn mein Kollege Steffen Lehndorff, andere und ich werben seit Anfang der 2000er-Jahren für ein neues flexibles Normalarbeitsverhältnis, das für Mann und Frau gleichermaßen taugt und sich an dem Modell in Schweden anlehnt. In Schweden arbeiten grundsätzlich Mann und Frau in Vollzeit. Und je nach Lebenslage und Wünschen wird diese Vollzeit für eine bestimmte Zeit ausgesetzt oder verringert, mal stärker und mal weniger, und alle haben jederzeit das Recht auf den ursprünglichen Zustand der Vollzeit zurückzukehren. Schweden lebt so. Ein Effekt am Rande: Die Männer leisten faktisch keine Überstunden mehr wie hier in Deutschland, denn auch die Männer müssen auf die Kinder aufpassen. Wir nennen das Modell für Deutschland: lange Teilzeit und kurze Vollzeit. Lange Teilzeit, das sind mehr als 20 Stunden in der Woche, die kurze Vollzeit, das sind 32 oder 30 Wochenstunden.

Wer unterstützt dieses Modell heute?

Ich denke, es ist in den Köpfen vieler Politiker und Gewerkschafter, aber auch in den Köpfen von vielen Unternehmern. Denn bei denen sind ja Welten zusammengebrochen. Die waren alle bis vor etwa zehn Jahren auf den männlichen Allein- oder Hauptverdiener fixiert und müssen sich nun auf Diversity einstellen.

Wer heute also für die kollektive 30-Stunden-Woche ist, der ist hoffnungslos veraltet und ziemlich einsam. Richtig?

Eigentlich schon. Denn die Bedürfnisse der Menschen sind sehr unterschiedlich. Und dem müssen Politik und Tarifpartner gerecht werden. Starre Festlegungen sind out. Dafür gibt es keinen Rückhalt mehr.

Die Gewerkschaften organisieren gerade noch sechs Millionen Mitglieder. Davon sind etwa ein Fünftel im Rentenalter. Was tun, um stärker zu werden?

Ich halte das für besorgniserregend. Denn um etwa den rechtlichen Rahmen für die neue Arbeitszeitpolitik durchzusetzen, über die wir gesprochen haben, brauche ich ja möglichst starke Gewerkschaften. Aber sie haben schon viel falsch gemacht. Sie haben sich beispielsweise zu lange auf die älteren Mitglieder und deren Interessen konzentriert und sich zu wenig um die Jungen gekümmert. Aber das ändert sich. Sie haben den Niedriglohnsektor zu spät als Gefahr erkannt und zu lange gezögert, ihn entschieden zu bekämpfen. Und alle Gewerkschaften tun sich schwer mit den sogenannten Randbelegschaften. Die Segmentierung der Gesellschaft hat eben auch die Gewerkschaften komplett erreicht und produziert in deren Reihen enorme Spannungen. Und es bleibt unverändert für die Gewerkschaften schwierig bis unmöglich, Angestellte und Akademiker zu organisieren, die jedoch numerisch in der Arbeitswelt stark zunehmen.

Lässt sich das alles überhaupt noch zusammenfassen: vom sehr gut verdienenden Porsche-Facharbeiter mit einem Jahresbonus von 10.000 Euro, Mitglied der IG Metall, und dem Software-Ingenieur bei Siemens bis zur klassischen Verkäuferin mit maximal 2.000 Euro brutto, organisiert in ver.di? Ist das noch eine Welt?

Nein, das sind viele Welten. Aber die Gewerkschaften sind die einzigen, die diese Welten überhaupt noch zusammenbringen. Und deshalb sind sie auch unentbehrlich. Ich denke, Gewerkschaften können heute nur noch dort richtig stark sein, wo sie politisch unterstützt werden. In Österreich gibt es Arbeiterkammern. In Schweden verwalten die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung. So haben sie zusätzliche Aufgaben, die attraktiv und nützlich sind und zusätzliche Ressourcen. Mir ist es schleierhaft, warum wir in Deutschland nicht Arbeiterkammern wie in Österreich einführen. Und entsprechend Arbeitgeber-Kammern mit der Zwangsmitgliedschaft aller Unternehmen, dann hätten wir 100 Prozent Gültigkeit von Tarifverträgen. Aber das bedarf einer verfassungsändernden Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Aber warum nicht debattieren und versuchen.

Was müssten die Gewerkschaften stärker als bisher tun?

Sie haben lange nicht gemerkt, dass ihnen mit der Globalisierung und der Deregulierung die Tarifverträge aus der Hand geschlagen werden. Sie erkämpfen Rechte, höhere Löhne und Leistungen, und die werden in Tarifverträgen festgeschrieben. Aber diese Tarifverträge gelten für immer weniger Arbeitnehmer. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaften müssten in den Mittelpunkt ihrer Arbeit die Forderung stellen, dass die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden. Und dazu auch einen großen gesellschaftlichen Konflikt wagen. Das hätte eine Konfliktdimension wie damals in den 1980er-Jahren in Westdeutschland der Kampf um die 35-Stunden-Woche. Die Gewerkschaften könnten ja als Einstieg fordern, dass in den Branchen, in denen der Niedriglohnanteil 20 Prozent und höher ist, alle Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen, um mit einem Schlag die Lage aller Beschäftigten zu verbessern. Das wäre doch was.

Und warum machen die Gewerkschaften das nicht?

Weiß ich wirklich nicht. Das ist mir ein Rätsel. Man ist eingebunden in Parteien, politische Rücksichten, man ist eingebunden in das jetzige System. Eine solche Forderung passt nicht in das routinierte Tagesgeschäft. Vielleicht spielt das eine Rolle.

Was ist für Sie entfremdete Erwerbsarbeit?

Ich kann nichts gestalten, ich funktioniere, unter zeitlichem Druck. Alles ist vorgegeben: Arbeitszeit, Arbeitsplatz, Arbeitsschritte. Und das Einkommen ist so niedrig, dass ich darin eine Erniedrigung sehe und keine faire Entlohnung. Mein Gefühl: Ich bin mit der Arbeit nicht zufrieden, stolz auf sie schon gar nicht.

Entfremdete Arbeit: Ich kann nichts gestalten, ich funktioniere, unter zeitlichem Druck.

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Was zeichnet selbstbestimmte Erwerbsarbeit aus?

Ich stelle etwas Sinnvolles her, gestalte, habe also Entscheidungsspielräume, bin stolz auf meine Arbeit. Und ich verdiene so gut, dass ich mir damit auch Eigenständigkeit und ein Stück Unabhängigkeit erarbeite. Was ich akzeptiere: Über das Produkt kann ich nicht entscheiden. Aber das ist im Kapitalismus und in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sowieso nicht zu erreichen.

Selbstbestimmte Arbeit: Ich stelle etwas Sinnvolles her, gestalte, habe also Entscheidungsspielräume, bin stolz auf meine Arbeit.

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Dieses Interview ist die Langfassung aus OXI 7/2017.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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