Wirtschaft
anders denken.

Vorsicht! Gierige Arbeitstiere

15.08.2017
Foto: Lucas Cranach / Wikipedia Kein Burnout-Stress, aber Ärger mit dem Vorgesetzten. Zu Adam und Evas Zeiten herrschte noch eine andere Arbeitsmoral. (Lucas Cranach, 1530)

Welche Arbeit ist human? Wem es mit Selbstbestimmung ernst ist, kann nicht die Arbeit meinen. Entfremdete Arbeit interessiert sich nicht für den Bedarf: Nur zahlungsfähiger Hunger zählt.

Zeugen und Erzeugen: Nach der Liebestätigkeit ist die Arbeitstätigkeit die fruchtbarste Variante menschlichen Tuns. Nach der Gewalttätigkeit ist sie die gefährlichste, denn sie zerstört, um zu gestalten. Wenn Karl Marx recht hat, der Arbeit »erstes Lebensbedürfnis« nennt, wenn auch Bertolt Brecht richtig liegt, für den Arbeit alles ist, »was keinen Spaß macht«, dann wäre keinen Spaß zu haben erstes menschliches Bedürfnis.

»Neue Freiräume für ein stärker selbstbestimmtes Arbeiten« verheißt uns das Grünbuch des Bundesarbeitsministeriums zur Arbeit 4.0. Selbst­bestimmte Arbeit ist die Fata Morgana, mit der die Industriegesellschaft Menschen seit rund 200 Jahren in Arbeitswüsten lockt. Selbstbestimmt, sinnerfüllt, erfreulich für alle Beteiligten und wohltuend für alle Betroffenen: Was soll falsch daran sein, nach einem solchen Arbeitsideal zu streben, wie es zum Beispiel der DGB-Index Gute Arbeit entwirft?

Ziemlich viel. Denn schon am Anfang des Arbeitens steht kein freier Entschluss, sondern ein Bedarf. Die Arbeitsleistung ist im Reich der Notwendigkeit geboren. Menschen sind wie die berühmten Lilien auf dem Feld und die Hasen im Stall bedürftige Lebewesen. Aus der Bibel wissen wir, dass Lilien nicht arbeiten. Über Hasen im Stall sagt die Heilige Schrift nichts, aber aus eigener Anschauung können wir berichten, auch sie arbeiten nicht, trotzdem überleben Lilien wie Hasen unter gewissen, günstigen Umständen.

Lebewesen, die ihren Lebensraum als Umwelt, also als veränderbar behandeln – und nicht bloß auf Regen oder auf den Fressnapf warten –, arbeiten. Sie erbringen ganz gezielt Leistungen, deren Resultate sie brauchen können, um ihren Bedarf zu decken. Das ist das ganze Geheimnis der Arbeit: Es geht um Tätigkeiten, die Erzeugnisse und Dienste bereitstellen, die zur Bedarfsdeckung gebraucht werden.

Klar ist schon hier: Wem es mit Selbstbestimmung ernst ist, kann nicht die Arbeit meinen. Die Vorstellung von »selbstbestimmter Arbeit« unterschlägt, dass es natürliche Grenzen hat (von den gesellschaftlichen zunächst gar nicht zu reden), den Bedarf und damit die benötigte Arbeitsleistung selbst zu bestimmen. Wo etwas zum Essen gebraucht wird, hilft es wenig, dem Vergnügen am Herstellen von Ohrringen nachzugeben.

Zum anderen haben wir es, jedenfalls unter Menschen, selten mit Eigenarbeit, fast immer mit Arbeitsteilung zu tun. Es handelt sich um Leistungen für andere Leute. Die Arbeitstätigen müssen darauf achten, dass ihre Erzeugnisse – von anderen – gebraucht werden. Deshalb können sie nicht einfach »selbstbestimmt« produzieren, wonach ihnen gerade der Sinn steht. Also schon zwei Mal nix mit Selbstbestimmung.

Adam und Eva – ein Gedankenspiel

Trotz alledem kann es keine überflüssige Frage sein, wie sich humane und entfremdete Arbeit voneinander unterscheiden. Ein Gedankenspiel: Stellen wir uns Adam und Eva als Personen vor, welche die Einheit der Arbeit vollziehen, also sowohl den Bedarf als auch die Leistung wie auch den späteren Gebrauch im Auge behalten. Nichts zu leisten, lieber Hunger und Not zu leiden als zu arbeiten, erschiene Adam und Eva absurd. Sie kämen allerdings auch nicht auf die Idee, ihre Muße zu unterbrechen, angenehme Tätigkeiten zurückzustellen, um etwas zu leisten, wofür sie selbst überhaupt keinen Bedarf haben. Erst recht nicht käme es ihnen in den Sinn, ihre Arbeitsleistung so zu verrichten, dass sie darüber krank werden, ihre Umwelt beschädigen oder gar die natürlichen Existenzgrundlagen der Erdregion zerstören würden, in der sie leben und arbeiten.

Bevor solche Verrücktheiten normal wurden, bevor entfremdete Arbeit das Alltagsleben beherrschte, muss irgend etwas mit der Arbeit passiert sein. Der unschuldige, ja verheißungsvolle Anfang trägt den Namen Wirtschaft, das dramatische Ende heißt Kapitalismus. Im ersten Schritt war es nur die Erfahrung, dass Arbeitende mehr hervorbringen können, als sie selbst brauchen. Die Möglichkeit, über den eigenen Bedarf hinaus zu arbeiten, ein Mehrprodukt herzustellen, wirft gefährliche Fragen auf: Wer darf es sich aneignen? Soll in der Zeit, in der nichts geleistet werden müsste, trotzdem weiter gearbeitet werden? Welche zusätzlichen Produkte sollen hergestellt, welche Dienste angeboten werden, sollen Waffen produziert, Paläste gebaut und Gouvernanten beschäftigt werden? Soll das Mehrprodukt noch vergrößert, also die Idee verfolgt werden, die Arbeit effektiver zu machen, »wirtschaftlich« zu arbeiten? In diesem Fall drängt es sich auf, nach Werkzeugen Ausschau zu halten, welche die Arbeitsleistung erleichtern und verbessern.

Geht es mit dem Wirtschaften los, leidet die »Selbstbestimmung« in der Arbeit zum einen darunter, dass mit dem Schlendrian Schluss ist; es gilt, auf das Verhältnis von Aufwand und Nutzen zu achten. Und zum anderen verlangen die Werkzeuge, später die Maschinen, einen bestimmten Umgang, gewisse Fertigkeiten und Kenntnisse. Da kann mensch nicht hantieren, wonach ihr gerade ist.

Arbeit ist sinnvoll

Was kann nach all dem – nach den Bedarfsnotwendigkeiten, den Erwartungen der Anderen, der Effektivierung der Leistung und der Anpassung an Werkzeug und Maschine – an humaner Arbeit noch übrig bleiben? Erfreulich viel. Arbeit ist sinnvoll. Eine Tätigkeit auszuüben, deren Resultat von Anderen gebraucht wird, ist per se eine soziale Leistung. Dieser Tätigkeit so nachzugehen, dass sowohl das Geschick, mit dem sie ausgeführt wird, als auch die Qualität, die ihre Erzeugnisse auszeichnen, allgemeine Anerkennung finden (das Werk lobt die Meisterin), darf stolz machen und bringt Freude. Tätigwerden bildet. Arbeitsprozesse können als Lernprozesse erlebt werden. Die Kooperation mit anderen, ohne die Arbeit in der Regel nicht gelingt, kann anregend und auf eine erfreuliche Weise aufregend sein. Die persönliche Sozialisation und die gesellschaftliche Kultur hängen, im Guten wie im Schlechten, mit Arbeit auf das Engste zusammen.

Bedarf: Human arbeiten heißt erstens, sich über den Bedarf verständigen, für den Leistungen erbracht werden sollen. Das ist offensichtlich eine gesellschaftliche Aufgabe, es muss gemeinsam geregelt werden. Oder aber Einzelne, adlige Häupter, Grundherren, ein Zentralkomitee etc., entscheiden darüber. Oder »der Markt« richtet es, der mit Demokratie so viel zu tun hat wie ein Egoist mit dem Gemeinwohl. Wird über den Bedarf nicht demokratisch entschieden (was immer das bedeutet und wie immer das geht), droht Entfremdung. Leistung: Human arbeiten heißt zweitens, dass die Arbeitsleistungen unter Bedingungen vonstatten gehen, die von den Arbeitenden selbst (mit)bestimmt werden – immer im Bewusstsein, dass es sich um Arbeit handelt, nicht um Spiel, nicht um Muße, nicht um ein freiwilliges Engagement für irgendein Anliegen, nicht um eine Tätigkeit, die um ihrer selbst willen geschieht. Der Fragenkatalog, der die Arbeitstätigkeiten betrifft, ist lang. Keine W-Frage kann ausgelassen werden: Wer, was, wo, wie lange, mit wem, wie genau, warum und wofür? Humane Arbeit wird umso gründlicher verfehlt, je mehr Antworten von außen vorgegeben werden, je weniger Einfluss die Arbeitenden auf die Antworten haben. Die Konfliktthemen der Arbeitswelt, von den Arbeitszeiten über den Arbeits-, Unfall- und Umweltschutz, die Fortbildung und den Kündigungsschutz bis zu Entgelt und Sozialabgaben, stehen Schlange. Wo Schutz eine so große Rolle spielt, muss ein Aggressor unterwegs sein!

Eine Tätigkeit auszuüben, deren Resultat von Anderen gebraucht wird, ist per se eine soziale Leistung.

Tweet this

Die Arbeitstätigkeiten können weder gleichartig noch gleichwertig sein. Manche Tätigkeiten sind angenehmer und anerkannter, andere besonders anstrengend und eher unwürdig. Zu humaner Arbeit gehört eine Verständigung darüber, dass privilegierte und unterprivilegierte Tätigkeiten nicht fest auf bestimmte Personen verteilt, sondern Wechsel vorgesehen sind.

Gebrauch: Human arbeiten heißt drittens, auf der Gebrauchsseite zu beachten, dass sie nicht in rücksichtslosen Verbrauch ausartet. Zudem gilt es, Gerechtigkeit walten zu lassen: Die Möglichkeiten, an den Produkten und Diensten, also am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben, sollten allen gleichermaßen offenstehen. Wo Mangel nicht zu beheben ist, stellt sich die Aufgabe, sich über Kompromisse für die Zugänge zu verständigen.

Aggressor Kapital

Kommen wir zum Aggressor. Kapitalismus ist eine Form absoluter Herrschaft, nämlich der Herrschaft der Wirtschaft über die Arbeit. Die Auswirkungen sind tausendfach beschrieben und milliardenfach erlebt, nämlich eine unvergleichliche Steigerung der Produktivität mit nie da gewesenem Wohlstand, aber zugleich eine Zivilisations- und Umweltkrise mit höchstem Katastrophenpotenzial. Entfremdete Arbeit macht beides möglich.

Entfremdete Arbeit interessiert sich nicht für den Bedarf. Ob Arbeit geleistet wird, entscheidet die zahlungsfähige Nachfrage, nicht irgendein Bedarf, wessen auch immer. Sie koppelt sich vom Bedarf in doppelter Hinsicht ab. Weder lässt sie sich von dringendem Bedarf beeindrucken; Hunger und Elend sind ihr gleichgültig, solange die nicht über Kaufkraft verfügen. Noch lässt sie sich durch offenkundig gedeckten Bedarf von Arbeitsleistungen abhalten, sofern sie eine Chance wittert, trotzdem zahlungsfähige KundInnen mit irgendeinem Angebot anlocken zu können.

Die Tätigkeiten entfremdeter Arbeit fristen eine Doppelexistenz als Kostenfaktor und als Höchstleistung. Billig und produktiv sollen die Arbeitsleistungen sein, deshalb werden sie laufend rationalisiert. Dabei dürfen die Arbeitenden gerne Vorschläge machen, wie es noch billiger und noch produktiver geht, ansonsten sollen sie fein stillschweigen und ihre Arbeit machen. Alle gesetzlich zulässigen und, solange kein Kläger auftritt, auch unzulässigen Methoden der Kostensenkung werden entfremdeter Arbeit zugemutet. Dass die Arbeitenden heute billig abgespeist werden, stellt im Übrigen ihren (Geld-)Bedarf sicher, der sie auch morgen wieder ihre Arbeitskraft anbieten lässt.

Nichtarbeiten hat im Kapitalismus keinen Eigenwert, es ist nur als eine heiß umkämpfte Unterbrechung zugelassen.

Tweet this

Bei entfremdeter Arbeit dominiert der Tauschwert den Gebrauchswert. Die Gebrauchsseite hat ihre Schuldigkeit getan, sobald sie den Tauschwert realisiert hat. Alles läuft darauf hinaus, Produkte und Dienste so oft und so teuer wie möglich zu verkaufen. In gesättigten Märkten verlangt das einen hohen Werbeaufwand. Entfremdete Arbeit zettelt Konsumschlachten an, sie liebt die VerbraucherInnen, sofern die ihrem Namen Ehre machen.

Was den Kapitalismus von jeder anderen Wirtschaftsweise unterscheidet, ist der Tatbestand, dass das Arbeiten – der Maschinen und, soweit sie nicht ersetzbar sind, auch der Menschen –, nicht aufhören darf. Nichtarbeiten hat im Kapitalismus keinen Eigenwert, es ist nur als eine heiß umkämpfte Unterbrechung zugelassen, als Pause zwischen den Arbeiten. Weil es darum geht, mehr Geld zu machen – Wirtschaftskapital ist Geld, das vom Zahlungsmittel zum Selbstzweck wurde –, muss es mit Leistung und Verbrauch laufend weiter­gehen. Der Kapitalismus braucht gierige Menschen, die als UnternehmerInnen immer mehr Geld wollen und als VerbraucherInnen immer mehr Güter und Dienste. Die dazugehörige Wirtschaftswissenschaft ernennt deswegen Gier zu einer menschlichen Eigenschaft, und in den Feuilletons darf darüber geklagt werden, dass die Menschen so gierig sind.

Geschrieben von:

Hans-Jürgen Arlt

Professor für strategische Organisationskommunikation

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag