Wirtschaft
anders denken.

Institutionen – Marsch!

06.08.2022

Aktuelle Forschung zum VWL-Studium zeigt, die Studierenden marschieren nicht nur durch die Institutionen. Die Institutionen marschieren auch durch sie.

Wirtschaft verstehen. Den Kapitalismus hinterfragen. Die Welt retten – oder zumindest etwas besser machen. Das treibt jährlich tausende junge Menschen dazu an, sich für ein volkswirtschaftliches Studium einzuschreiben. Sie treten den Marsch durch die »Institution VWL-Studium« an. Vom Ende der 1968er-Bewegung können wir lernen: Die Studierenden marschieren nicht nur durch die Institutionen. Die Institutionen marschieren auch durch sie. Daher stellt sich die Frage: Wie genau wirkt die »Institution VWL-Studium« auf Studierende ein? Dazu gab es schon eine Reihe an Erkenntnissen. Das neue Buch »Ökonomie – Praxis – Subjektivierung« des Institutionsforschers Lukas Bäuerle stellt die Frage nun vom Kopf auf die Füße: Wie gehen Studierenden mit der »Institution VWL-Studium« um?

Studierende des Fachs Volkswirtschaftslehre (VWL) verhalten sich bedeutend egoistischer. Das zeigten experimentelle Studien vor einigen Jahren, die unter anderem an der Universität Washington durchgeführt wurden und entfachten damit eine Henne-Ei-Diskussion: Werden die Studierenden durch ihr VWL-Studium unbewusst indoktriniert? Oder wählen schlicht selbstbezogenere Menschen ein VWL-Studium? Prof. Tim Engartner und Eva Schweitzer-Krah von der Goethe-Universität Frankfurt wollten es für den deutschsprachigen Raum genauer wissen. Im Jahr 2019 befragten sie über 350 Studierende an vier deutschen Universitäten. Dabei zeigte sich ein überraschender Befund: Hochschulübergreifend entscheiden sich die jungen Menschen überwiegend aus idealistischen Gründen für die VWL. Sie haben Interesse an Wirtschaftsthemen (rund 72%), wollen gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen (rund 62%) und einen aktiven Beitrag für eine bessere Welt leisten (über 40%). Neben typischen Karrierezielen im Bereich Banken, Finanzen, Unternehmensberatung oder Industrie, wollen nicht wenige in Feldern wie Politik, Verwaltung, Forschung und gemeinnützigen Organisationen arbeiten. Keine Egoist:innen also. Doch die Befragung zeigte noch etwas anderes: Nach nur vier Semestern fühlen sich über ein Drittel desillusioniert: Sie sehen sich mit einer Kluft zwischen den gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart und ihrem praxisfernen Studium konfrontiert. Die Mehrheit sagt: Das Studium fördert Konkurrenzdenken, Karriereambitionen und Leistungsdruck statt Solidarität oder Hilfsbereitschaft. Also doch Indoktrination? Ganz so einfach ist es nicht.

Sog der Disziplinarmacht?

Die Frage, wie Menschen überredet, beeinflusst, indoktriniert oder womöglich unbewusst regiert werden beschäftigt Disziplinen wie die Psychologie, die Soziologie oder die Philosophie. Prominent sind die etwas umständlich bezeichneten »Governmentalitätsstudien«, die auf den Philosophen Michel Foucault zurückgehen oder das Konzept des »unternehmerischen Selbst« des Soziologen Ulrich Bröckling.

Es sind mitunter düstere und entmutigende gesellschaftliche Analysen, wonach die staatliche Disziplinarmacht oder kapitalistische Logiken, auf das Individuum einwirken und aus dessen Sog kein Entkommen zu sein scheint. Zweifellos sind solche Studien lesenswerte Lektüre und wertvoll, um gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren und verbessern zu helfen. Sie beleuchten jedoch nur eine Seite der Medaille: Was auf das Individuum einwirkt – nicht jedoch, was es daraus macht! Das wäre so, als nähme man nur den Regen und die Hagelkörner unter die Lupe, wenn ein Sturm über eine Gruppe Menschen hereinbricht. Manche haben aber einen Regenschirm dabei, andere eine dicke Jacke, ein paar rennen nach Hause und wieder andere bauen aus den Hagelkörnern eine Skulptur. Genau eine solche differenzierte Perspektive nimmt die neuere »rekonstruktive Subjektivierungsforschung« in den Blick.

Konditionierung ökonomischer Effizienz

So führte ein Forschungsteam an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung für ihre Studie »Wirtschaft(lich) studieren« aus dem Jahr 2020 nicht weniger als 16 aufwändige Gruppen-Interviews mit über 50 Studierenden durch, die laut einem Handelsblatt-Ranking an den fünf wichtigsten VWL-Standorten im deutschsprachigen Raum studieren. Es ist die erste Studie, die dabei konsequent die tatsächlichen Erfahrungen der Studierenden wissenschaftlich untersucht und dabei über die Befragung mittels Fragebögen hinausgeht. Entsprechend eröffnet sich ein breites und differenziertes Bild der Erfahrungswelt »VWL-Studium«.

Angesichts oben erwähnter Studien überrascht es zwar nicht, dass vor allem die ersten Semester von den Studierenden als monoton, standardisiert, stressbeladen und fremdbestimmt wahrgenommen werden – kurz: als Tunnelerfahrung. Als Kluft zwischen der Welt »draußen« und dem Studium »drinnen«. Besonders beachtenswert ist jedoch die Erkenntnis, dass Inhalt und Form des Studiums zusammenwirken. Das bedeutet: In Lehrveranstaltungen wird nicht nur von ökonomischer Effizienz gesprochen und zigmal die Berechnung optimaler Szenarien eingeübt. Durch stresserzeugenden Zeitdruck etwa in Prüfungssituationen wird dazu angehalten, sich selbst ein effizientes Verhalten anzutrainieren.

Konform, leidend, produktiv-widerständig – drei Idealtypen im VWL-Studium

Wie die Studierenden jedoch tatsächlich mit diesen Studien-Bedingungen umgehen, wurde erst jetzt in der Studie »Ökonomie – Praxis – Subjektivierung« von dem Ökonomen und Institutionsforscher Lukas Bäuerle anhand desselben Materials rekonstruiert. In dem Buch werden drei Idealtypen herausgearbeitet und jeweils theoretisch fundiert:

Im ersten Typus verhalten sich Studierende pragmatisch und konform. Sie orientieren sich an den Regeln. Versuchen gut durchs Studium zukommen. Ihr vorrangiges Ziel ist später einen guten Job zu kommen. Dafür werden schon mal auf clevere Art die Spielräume des Studiums genutzt. Man schließt sich auch gerne mit anderen zusammen – gemeinsam lernen ist pragmatisch. Letztlich ist aber jede:r selbst verantwortlich, mitzuhalten. Für lamentieren bleibt keine Zeit; Prüfungen müssen effizient erledigt werden.

Der zweite Typus lässt sich als leidend und entfremdet beschreiben. Zwischen den inneren Werten dieser Studierenden und den Anforderungen der »Institution VWL« tut sich ein Abgrund auf. Nicht nur der Inhalt des Studiums – auch die anonyme Atmosphäre und die auf Effizienz getrimmte Lernkultur werden als fremd wahrgenommen. Sind die Studienstrukturen ungerecht? Bin ich selbst schuld? Verrate ich mich und werde zu einer quantitativen Person? Welchen Sinn hat das Ganze?

Auch der dritte Typus spürt einen deutlichen Kontrast von inneren Werten und äußeren Regeln. Den Studierenden gelingt es jedoch, widerständig und produktiv damit umzugehen. Viele wollen »das System« verstehen, den Kapitalismus hinterfragen. Das VWL-Studium wird mitunter als Brutstätte neoliberaler Ideologien betrachtet. Insofern kann man drüberstehen; auch mal ironisch Witze machen; dem Prof. provozierende Fragen stellen. Absichtlich nichtan Karrierechancen denken. Die eigene Bildung ein Stück weit selbst in die Hand nehmen und sich engagieren – zum Beispiel in einer Gruppe des Netzwerk Plurale Ökonomik oder in einer politischen Initiative.

Ende des Marschs durch die Institutionen

Das sehr lesenswerte Buch sollte Pflichtlektüre an allen deutschen VWL-Lehrstühlen werden. Es ist darüber hinaus für Studierende und alle mit Interesse an Bildungsprozessen ungemein wertvoll, denn es macht deutlich: Ein Studium ist kein Trichter, der leblose Automaten-Studierende mit Informationen befüllt. Es wäre also zu einfach, davon zu sprechen, dass die »Institution VWL« die Henne ist, die egoistische und ökonomistisch denkende Studierende hervorbringt – zumindest nicht per se. Ein Studium »wirkt« nicht nur auf eine Weise und nicht nur als Einbahnstraße – auch die Studierenden sind beteiligt, zum Glück. Gleichzeitig macht die Forschung über Standard-VWL-Studiengänge deutlich, welchem Hagel an ökonomischem Effizienz-Denken die Studierenden vor allem in der prägenden Anfangszeit ausgesetzt sind. Es gibt immer Spielräume und kreative Köpfe, die aus allem das Beste zu machen wissen. Es gibt neue ökonomische Bildungsorte wie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung. Die »Generation Fridays for Future« hat jedoch überall Institutionen verdient, die nicht mehr durchmarschiert werden müssen, sondern, die von sich aus zum Mitgestalten einladen – und vor allem zum Gestalten einer zukunftsfähigen Gesellschaft befähigen.

Lukas Bäuerle: Ökonomie – Praxis – Subjektivierung. Eine praxeologische Institutionenforschung am Beispiel ökonomischer Hochschulbildung, August 2022, 398 Seiten, PDF im Open Access.

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