Wirtschaft
anders denken.

Sahra Wagenknecht: Zurück zum guten alten Kapitalismus

27.04.2021

Drei Kritikpunkte am gesellschaftlichen und ökonomischen Verständnis des Enfant terrible der Linkspartei. Wagenknecht bricht mit der marxistischen Kritik der Ökonomie.

1. Eine Gesellschaft der Singularitäten

Sahra Wagenknecht greift in ihrem neuen Buch, ohne dass ausdrücklich zu kennzeichnen, auf ein Narrativ zurück, dass sich in die neue „Klassentheorie“ von Andreas Reckwitz eingliedern lässt. Sie verweist auch zweimal auf Reckwitz‘ Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“(2017). Reckwitz skizziert einen Konflikt zwischen zwei „Klassen“ oder Schichten in der modernen Klassengesellschaft: Einer neuen akademisch gebildeten Mittelschicht, deren Wertvorstellungen dominierend geworden sind, und der alten Mittelschichten, deren Wertvorstellungen gesellschaftlich im Abstieg begriffen sind. Strenggenommen handelt es sich nicht um Klassen im Sinne von Karl Marx, sondern kulturelle und politische Milieus. Zu dieser alten Mittelschicht zählt Reckwitz sowohl die kleinen Selbständigen, wie das traditionelle Facharbeitermilieu. Daneben gibt es noch die Klasse der Prekarisierten und die (groß-)kapitalistische oberste Schicht.

Die Wertvorstellungen dieser beiden Klassen ganz oben und unten, spielen im Meinungskampf nach Reckwitz nur untergeordnete Rollen. Das ist in Bezug auf die kapitalistische Oberklasse schlicht falsch. Deren Wert- und Ordnungsvorstellungen prägen die alte Mittelschicht und die Politik konservativer Parteien nach wie vor. Reckwitz liegt hier falsch, weil er den Prozess der Deindustrialisierung auch für Deutschland behauptet, was nicht zutrifft. Das Exportmodell Deutschland produziert für andere Länder mit. Er reduziert die oberste Schicht der Kapitalistenklasse auf reine Vermögensverwalter. Sie sind als große Familienunternehmen, wie VW oder BMW nach wie vor aktive Kapitalisten.

In diesem Konflikt zwischen neuer und alter Mittelklasse nimmt Wagenknecht Stellung zugunsten der alten Mittelklasse und implizit auch zugunsten der prekär lebenden und arbeitenden Unterschicht. Implizit deshalb, weil sie dem von ihr kreierten Linksliberalismus vorwirft, deren kulturelle Werte und materielle Interessen zu ignorieren. Sie selbst entwickelt in diesem Buch im Unterschied zu Robert Habeck („Von hier an anders“ , 2021), der sich auch auf Reckwitz bezieht, aber keine Vorschläge für die Hebung der prekären sozialen Lage der durch die rot-grüne Koalition und ihre Nachfolger erheblich vergrößerten Unterschicht. Habeck widerlegt insofern mit seinem Text die Kritik Wagenknechts an einem wirtschaftsliberalen neuen Linksliberalismus. Es ist bemerkenswert wie sich das soziologische Narrativ von Reckwitz in zwei politische Narrative einfügen lässt: Ein progressives aus der Sicht der neuen Mittelklasse (Habeck) und ein konservatives, aus den Ressentiments der alten Mittelklasse (Wagenknecht).

Sie verknüpft diese Parteinahme mit einer doppelten Kritik: Einmal an der Umweltbewegung und ihren Forderungen und zum zweiten an der Migration, die sie für sinkende Löhne und Wohnraumverknappung verantwortlich macht. Die These vom Lohndruck durch Migration ist aus empirischer Sicht falsch. Es kann gezeigt werden (siehe DIW-Wochenbericht 7-2020), dass das Fallen der Löhne der unteren Dezile im den Jahren 2000-2007 am stärksten war und auf die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder und die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften beziehungsweise den Rückgang der Tarifbindung zurückzuführen ist. Der Druck der EU-Arbeitsmigration beginnt erst 2011, als die Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Folge der EU-Osterweiterung ausgelaufen waren. In dieser Zeit stabilisiert sich die Lohnentwicklung wieder und ab 2015 steigen in der Folge der Einführung des Mindestlohns auch die Löhne in den untersten Dezilen real.

Zur Preisentwicklung auf den Immobilienmärkten: Das ist ein komplexer Prozess, in dem die Migration nur ein Faktor unter anderen ist, wie beispielsweise zu wenig sozialer Wohnungsbau, Anlage von mobilem Kapital in diesen Märkten und die demografische Entwicklung allgemein. Überhaupt vernachlässigt Wagenknecht politisch-institutionelle Faktoren in diesen Prozessen. Es erinnert eher an Malthus‘ Populationstheorie oder das sogenannte eherne Lohngesetz, nach dem eine Zunahme der Arbeitsbevölkerung zu sinkenden Löhnen führt. Ihre Behauptung wird durch die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Prozesse auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht gestützt, weil in der Phase einer starken Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt auch die niedrigen Löhne wieder ansteigen. Wagenknecht dagegen meint, dass die Arbeitsmigranten hier die Löhne drücken und in ihren Heimatländern fehlen. Ihr Argument, dass die Geldtransfers der Migranten in ihre Heimatländer dort die Entwicklung der Produktivität bremsen, überzeugt nicht. Es ist stärker der Freihandel, der die Entwicklungspotentiale vieler armer Länder blockiert.

2. Zurück zum Leistungseigentum?

Wirtschaftspolitisch präsentiert Wagenknecht eine konservative Idee. Der Vorschlag eines „Leistungseigentums“ (S. 291) sieht vor, die Haftungsbeschränkungen im Unternehmensrecht einzuschränken beziehungsweise aufzuheben. Eigentümer und Investoren würden danach bei Konkursen mit ihrem persönlichen Eigentum haften. Diesen Vorschlag übernimmt sie von Walter Eucken („Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, 1952, S. 279ff.). Neben Eucken zitiert sie zustimmend Alexander Rüstow, einen eher sozialen Vertreter des deutschen Ordoliberalismus, der am Aufbau der Mont-Pelerin-Society beteiligt war (siehe Bernhard Walpen, „Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft“, 2004). Damit verklärt sie den deutschen Ordoliberalismus, der eng mit dem späteren Monetarismus und dessen konzeptiven Ideologen Milton Friedman zusammengearbeitet hatte. Ebenso wie mit Friedrich-August von Hayek, dem bekanntesten Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, den sie einen „ultraliberalen Ökonomen“ nennt (S. 235).

Ihre zentrale These lautet: „Der Kapitalismus funktioniert (…) am besten in wettbewerbsintensiven Industrien, in denen Gesetze und starke Gewerkschaften für steigende Löhne und hohe Sozial und Umweltstandards sorgen“ (S. 274). Um das wieder zu erreichen, beschreibt das „ordoliberale Modell einer Marktwirtschaft ohne Konzerne“ den „Weg einer möglichen Lösung“ (S. 264f.). Auf diesen Weg hat sie sich komplett von der Marxschen Werttheorie gelöst, wie ein Zitat auf S. 296 zeigt: Dort schreibt sie sie, dass sich nicht arbeitende Erben die „Arbeitsergebnisse anderer aneignen“ und ohne eigene Leistung ein luxuriöses Leben führen. Sie vertritt hier die ideologische Figur des auf eigene Arbeit gegründeten Eigentums, wie sie durch die einfache Warenzirkulation (siehe unten) geschaffen wird.

Sie bezieht sich zwar auf Joseph Schumpeters Unterscheidung von innovativem Unternehmer und Kapitalgeber. Im Unterschied zu Schumpeter will sie durch diesen Gedanken des Leistungseigentums externe Kapitalgeber jedoch systematisch schlechter stellen. Ich halte von dieser Überlegung einer engen Verknüpfung von Risiko und Haftung – ein Basisdogma des Ordoliberalismus bei Staatsanleihen – wenig. Das führt in einer Phase stagnierender Produktivität und überbordender Liquidität zu einer schrumpfenden Sachkapitalbildung, weil zusätzliche Investitionen gebremst werden, und erhöht die Liquiditätspräferenz der Kapitaleigner. Nach Keynes verfestigt dies ein Unterbeschäftigungs-Gleichgewicht.

Was Wagenknecht nicht kritisiert, ist die Durchsetzung des deutschen Modells einer Austeritätspolitik mit starker Exportorientierung für die Währungsunion insgesamt. Die Rolle Deutschlands in Europa lässt sich in zwei Phasen einteilen: Zum einen die Zeit zwischen 2000 und 2007, in der Deutschland mit ausgeprägter Lohnzurückhaltung und daher realer Abwertung hohe Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse aufbaut, die zu entsprechenden Defiziten in anderen Ländern führen. Nach der Finanzmarktkrise beginnt 2009 mit der Durchsetzung des Fiskalpakts in Europa eine Phase ausgeprägter Austerität, mit der die europäischen Defizitländer zu Exportüberschüssen gezwungen werden sollen. Dieses Modell ist makroökonomisch hoch irrational. Wagenknecht schiebt die Verantwortung für diese Politik aber auf die EU. Sie will, ohne das explizit zu sagen, zurück in eine Neuauflage des Europäischen Währungssystems. Das ist insofern überraschend, weil sie 2018 in ihrem Beitrag für die Festschrift für ihren (keynesianisch orientierten) Doktorvater Fritz Helmedag von der TU Chemnitz (siehe Horst Gischer, Jochen Hartwig, Bedia Sahin (Hg.) Bewegungsgesetze des Kapitalismus, Marburg 2018), sowohl den deutschen Exportnationalismus, wie die politische Dominanz Deutschlands in der EU scharf kritisiert hatte.

3. Der Abschied vom Marxismus

Dass Wagenknecht inzwischen mit der marxistischen Ökonomiekritik gebrochen hat, zeigt ihre These von der Enteignung der Sparer durch die niedrigen oder sogar Nullzinsen. Sie rechnet die aus den Profiten und damit letztlich aus Mehrwert finanzierten Zinsen zum quasi natürlichen Eigentum der Sparer, die sie in der Mittelschicht sozial verortet. Das ist falsch. Die unteren vier Dezile – deren Interessen sie vertreten will – sparen per Saldo kaum. Die höchsten Sparquoten sehen wir in den obersten zwei Dezilen. Sie will auch von der Marxschen Ausbeutung der Lohnabhängigen durch das Kapital in der Form der unentgeltlichen Aneignung der Mehrarbeit und damit des Mehrwerts nichts mehr wissen. Die Aneignung der Arbeitsergebnisse anderer verbindet Wagenknecht allein mit den nicht-arbeitenden Erben großer Betriebs- und Finanzvermögen. Dahinter steht die Bewusstseinsform des auf eigene Arbeit gegründeten Eigentums (siehe oben) und damit das Basisdogma einer meritokratischen Gesellschaft. Ihre Kritik an den Kapitalisten zielt nicht mehr auf die private Aneignung des Mehrwerts, sondern auf die Tatsache, dass sie selbst nicht arbeiten und daher nichts zur Wertschöpfung beitragen. Ideologisch bezieht sie sich auf die Wertvorstellungen, wie sich auf der Basis der von Karl Marx so genannten einfachen Warenzirkulation entwickeln, wo der Schein entsteht, dass der Tausch von Leistung gegen Lohn oder von Eigentum gegen Zins oder Rente ein Tausch von Äquivalenten ist. „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf von Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham.“ (MEW 23; 189). Marx hatte kritisch herausgearbeitet, dass auf dieser Ebene des Tausches von Arbeitskraft gegen Lohn der Schein entsteht, mit dem Lohn werde die geleistete Arbeit und nicht, dass die Arbeitkraftzur Verfügunggetellt wird, der Arbeitskraft bezahlt. Auf dieser Ebene erscheint dies als Tausch gleicher Werte und daher bleiben das Umsonstarbeiten der Lohnarbeiter und die Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalisten verborgen.

Faktisch unterstützt sie mit dieser Kritik die wohlhabenden Haushalte, nicht die Superreichen. Diese will sie mit dem Leistungseigentum relativ schlechter stellen. Mit ihrem Furor gegen bestimmte Verrücktheiten im Repertoire der Identitätspolitik meint sie, die Interessen der prekarisierten Gruppen und des Facharbeitermilieus zu vertreten. Allerdings schließt sie Arbeitsmigranten von ihrer Fürsorge aus. Hier verstößt sie fundamental gegen den Gedanken der inneren Klasseneinheit aller Lohnabhängigen, den es herzustellen gelte. Es hat in den Gewerkschaften in den vergangenen 150 Jahren  Versuche gegeben, die nationalen Arbeitsmärkte protektionistisch zu schützen, bis hin zu offenem Rassismus, wie zeitweise in der US-Gewerkschaften. In der sozialistisch inspirierten europäischen Gewerkschaftsbewegung hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die auf die Grenzenlosigkeit der Bewegungen des Kapitals und den politisch durchgesetzten Freihandel nicht erfolgreich mit einer Begrenzung der Mobilität der Arbeitskräfte reagiert werden kann und deshalb Migranten in die Gewerkschaften integriert werden müssen. Dieser Erkenntnis verweigert sich Wagenknecht. Damit zeigt sie sich als ideologische Repräsentantin einer gehobenen Mittelschicht, die kulturell konservativ und tendenziell ausländerfeindlich eingestellt ist. Mit ihrer Kritik an der EU, an den Kaufprogrammen der EZB, und an einer angeblichen Enteignung der Sparer zeigt sie ihre ideologische Nähe zu den Werten des deutschen Ordoliberalismus.

Michael Wendl ist Soziologe und Ökonom. Von 1980 bis 2016 hat er für die Gewerkschaften ÖTV und ver.di gearbeitet.

Geschrieben von:

Michael Wendl
Michael Wendl

Mitherausgeber von »Sozialismus«

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