Wirtschaft
anders denken.

Keine leichte Entscheidung

03.09.2021
Eine Markthalle mit Essens- und LebensmittelständenFoto: Ludovic Charlet auf PixabayDie Politik als Markthalle, Parteien als Güter, so sehen es die Neoliberalen.

In den Wirtschaftswissenschaften herrscht ein unpolitisches Verständnis der Wahl. Aus OXI 8/21.

Kürzlich im Zug: Auf dem Weg zum Corona-konformen Wanderausflug in die Natur beginnt die lautstarke Diskussion – was wollen und sollen die drei jungen Frauen fotografieren? Eine Einmal-Kamera steht zur Verfügung, 20 Bilder kann sie machen. Eine Person plädiert dafür, bei der Anreise schon einen Schnappschuss zu schießen, um den Start der Tour zu dokumentieren; die anderen möchten sich die Knips-Möglichkeiten lieber für schöne Aussichten aufbewahren. Wie entscheidet sich die Gruppe?

So oder so ähnlich könnte das Beispiel einer Einführungsvorlesung in die Volkswirtschaftslehre lauten. Diese behauptet, dass sie Studierenden das Wirtschaften beibringt, also den gesellschaftlich effizientesten Umgang mit knappen Ressourcen. Das stößt meist schon schnell an seine Grenzen: Denn so einfach wie bei der anscheinend doch so herausfordernden Auswahl der Foto-Motive stellt sich die komplexe Zuordnung von Gütern in der modernen Gesellschaft nicht dar. Schon das informierte Wählen – von Gütern oder eben wie im September erneut von politischen Parteien – ist in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie schwer zu fassen.

Dabei ist die Bestimmung und Umsetzung von individuellen Präferenzen hochrelevant. Nur wer weiß, was die Gesellschaft überhaupt möchte, kann eine Entscheidung fällen und durchführen, die die Wohlfahrt und somit den gesellschaftlichen Nutzen maximiert. Die öffentliche Finanzwissenschaft, welche sich mit der Rolle des Staates in der Ökonomie beschäftigt, diskutiert schon seit Jahrzenten über teilweise jahrhundertealte Ideen zur gesellschaftlichen Nutzenmaximierung und stößt immer wieder an ihre Grenzen. Mit der gesellschaftlich real existierenden Demokratie haben diese Überlegungen oft nicht viel zu tun.

Die Wahl ist immer diktatorisch

Ein zentrales Theorem liefert beispielsweise der amerikanische Ökonom Kenneth Arrow. In seinem sogenannten Unmöglichkeitstheorem legte er bereits in den 1950ern dar, dass bei mindestens zwei Individuen und drei Entscheidungsmöglichkeiten kein Wahl-Mechanismus existiert, der nicht diktatorisch ist. Diktatorisch heißt hier, dass die Wahlentscheidung immer genau mit den Präferenzen eines der Individuen übereinstimmt.

Die genaue Argumentation von Arrow soll hier vernachlässigt werden. Festzustellen ist nur, dass Demokratie nicht verworfen wird, sondern durchaus positive Aspekte hat. Sie löst Interessenkonflikte durch Wahlen. Doch unterschiedliche Wahldurchführungen können trotz gleicher Präferenzen zu verschiedenen Ergebnissen führen. Auch im deutschen Wahlsystem kann dies beobachtet werden: Die sogenannten Überhangmandate mussten sogar wegen Verfassungswidrigkeit reformiert werden, da durch sie ein negatives Stimmgewicht entstehen konnte. Das heißt, man kann mit der Abgabe seiner oder ihrer Stimme genau das Gegenteil von dem bewirken, was man eigentlich auf dem Wahlzettel als Wille mit zwei Kreuzen formuliert.

Zudem entstehen Vorteile durch politische Parteien oder andere Organisationen, da sie Informationen zugänglich machen und so bessere Begründung bei Entscheidungsprozess fördern. Alles steht jedoch unter dem Vorzeichen einer effizienteren Durchführung von Wahlprozessen. Demokratie wird folglich als Mechanismus der Präferenzaggregation gesehen, nicht als politischer Prozess, der beispielsweise mit Klassenkonflikten einhergeht.

Problem für den Markt

Ein politischeres und damit auch praktischeres Verständnis der Demokratie haben diejenigen Theoretiker:innen, die sich im 20. Jahrhundert originär Neoliberale genannt haben, und so eine politische Theorie entworfen haben, die auch heute noch als Grundriss der gesellschaftlichen Ausgestaltung dient. Für sie stellt die Demokratie ein Problem für funktionierende Märkte dar. So charakterisiert jedenfalls der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seinem Buch »Die politische Theorie des Neoliberalismus« die gemeinsame Grundlage der neoliberalen Demokratietheorie, die in unterschiedlicher Form bei den verschiedenen Theoretiker:innen ausformuliert wird.

In einer Demokratie bestehe aufgrund des Mehrheitsentscheids immer die Gefahr des Kollektivismus. Die »Herrschaft der Mehrheit« rechtfertigt sich durch die Herrschaft des Volkes. Friedrich August von Hayek – wohl der bekannteste Vertreter des Neoliberalismus – fürchtet einen Machtmissbrauch, da so die Souveränität einer Demokratie nicht begrenzbar sei. Wer kann schon etwas gegen den Willen des Volkes haben? Die Kombination aus der Herrschaft der Mehrheit und der unbegrenzten Souveränität führe mit der Zeit zwangsläufig zum Totalitarismus beziehungsweise Kollektivismus, der den selbsternannten Hauptgegner der Neoliberalen darstellt.

Noch konkreter wird es bei James Buchanan. Auch er attestiert dem Staat in der Demokratie eine Entwicklung hin zum Leviathan – also dem allmächtigen Staat – aufgrund der Unkontrollierbarkeit und unbegrenzten Macht. Gewählte und nicht-gewählte Staatsdiener:innen hätten zwar kein individuelles Interesse am Staat insgesamt, maximieren allerdings gemeinsam seinen Nutzen, also die Steuereinnahmen, beschreibt Biebricher die Argumentation vom Preisträger des Nobelgedächtnispreises. Die immer weiter steigendende Steuerbelastung, die bei Erhebung ohne Zweckbindung als Enteignung angesehenen wird, ist zentral für die neoliberale Theorie. Im Besonderen die Schuldenaufnahme zur Staatsfinanzierung wird kritisch gesehen, da sie zukünftige Generationen belasten würden – ein bis heute vielfach verwendetes Argument.

Politik wird der Wahl entzogen

An dieses Thema knüpft das Paradebeispiel neoliberaler Politikregulierung an: die Schuldenbremse. Entworfen von Buchanan, realisierten sie bereits viele Länder – auch Deutschland. In das Grundgesetz, also die Verfassung, schrieb man 2009 die Regelung, dass sich der Bund und die Länder nur zu einem bestimmten Prozentsatz des Bruttoinlandprodukts neu verschulden dürfen. Neben den Implikationen für die Finanzpolitik offenbart diese Regelung auch Aspekte des Staats- und Regierungsverständnisses der Neoliberalen. Die ausufernde – gewählte – Politik muss sich zum langfristigen Wohle aller selbst begrenzen und Regeln auferlegen. Diese Regeln werden verfassungsrechtlich festgeschrieben und so dem politischen Diskurs – und auch der Wahl – entzogen. Die Gesellschaft hat so nur ein einziges Mal indirekt Einfluss auf ein grundlegendes wirtschaftliches Instrument, die Staatsfinanzierung. Gelebte Demokratie ist etwas anderes.

Neoliberale präferieren Gütermärkte vor dem »politischen Markt«, da es in Letzterem immer nur Maßnahmen-Bündel – also Parteien – gibt und keine einzelnen Produkte, auf die man seine Ausgaben aufteilen kann. In der Demokratie kann man zudem seinen Einsatz verlieren, da es sein kann, dass die gewählte Partei die Wahl nicht gewinnt. Auf Märkten hingegen erhält man durch die Güterwahl immer das, was man auswählt und bezahlt. Biebricher weist in seinem Buch jedoch zu Recht darauf hin, dass bei keiner und keinem der neoliberalen Theoretiker:innen Marktprozesse Demokratie vollständig ersetzen sollen.

Es geht den Wirtschaftswissenschaften bei der Beschreibung von Wahlen nicht um politische Repräsentation und Interessen- oder gar Klassenkonflikte. Wahlen werden allein als Mittel und Mechanismus der Präferenzaggregation gesehen. Damit wird Demokratie technokratisch gedacht. Das Primat der Politik löst sich auf, sie darf nicht mehr über die Ausgestaltung der Gesellschaft entscheiden. Dagegen wenden sich auch Neoliberale, die viel Einfluss auf gesellschaftliche Gestaltung in den letzten 50 Jahren genommen haben, lösen das Problem aber nicht auf, sondern entziehen es der als Pluralismus verstandenen Demokratie. Jurist:innen, die neue Verfassungsregeln entwerfen, wissen es viel besser, als manipulierbare Politiker:innen, und andere Ökonom:innen kommen in den nächsten Monaten sicherlich auf die perfekte Marktausgestaltung. Expert:innen können es einfach besser.

So ergibt sich auch eine Lösung für die Touristinnen-Gruppe vom Beginn: Expert:innen würden die Verwendung einer Smartphone-Kamera empfehlen. Damit kann man unbegrenzt Fotos aufnehmen. Nur was ist das wirtschaftliche Äquivalent? Und präferiert dies dann auch die Mehrheit?

Geschrieben von:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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