Wirtschaft
anders denken.

Wann bringt ein Lohn das »Mindeste«?

12.05.2018

Der Mindestlohn ist viel zu niedrig, das zeigen Studien und die Regierung räumt das selbst ein. Bei den aktuellen Erhöhungsschritten würde es 20 Jahre dauern, bis die Untergrenze vor heutiger Altersarmut schützt. Und: Der Mindestlohn erfüllt zurzeit nicht einmal das Gesetz, mit dem er eingeführt wurde. 

Die Einführung des Mindestlohns war ohne Zweifel ein später aber wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit. Doch die Lohnuntergrenze ist löchrig, es wird zu wenig kontrolliert, es gibt zu viele Ausnahmen – und vor allem: Sie ist zu niedrig. Das ist keine Frage der Moral oder bloße Ansichtssache, sondern eine der Verteilung und des Ringens zwischen Kapital und Arbeit. Dies hat die Bundesregierung jetzt auch noch einmal bestätigt: Damit Beschäftigte, die dauerhaft einen Mindestlohn erhalten, im Alter eine Rente oberhalb der Grundsicherung beziehen können, müsste die gesetzliche Untergrenze bei 12,63 Euro liegen – derzeit liegt sie bei 8,84 Euro. 

Die »Rheinische Post« berichtet unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion, »der durchschnittliche Bruttobedarf von Empfängern der Grundsicherung im Alter derzeit bei 814 Euro. Jedenfalls dann, wenn sie nicht in Alterseinrichtungen leben. Um eine Nettorente oberhalb dieses Grundsicherungsniveaus zu erhalten, werden nach Angaben des Ministeriums 29,5 Rentenpunkte benötigt.« Das Blatt zitiert aus der Antwort weiter: »Um dies bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung hinweg zu erreichen, wäre aktuell rechnerisch ein Stundenlohn von 12,63 Euro erforderlich.« Hierbei würden zwar zusätzliche Ressourcen der Altersvorsorge vernachlässigt, mit der eine höhere Gesamtversorgung erzielt werden könne, wenn sich die Beschäftigten dies leisten könnten. Auch leiben Beschäftigte nicht immer und ewig in einem Job auf Mindestlohnniveau. 

Aneignung fremder Arbeit, vom Staat subventioniert

Aber das Ergebnis bleibt im Kern: Der Mindestlohn ist schon allein aus der Perspektive der Alterssicherung viel zu niedrig. Mit der staatlichen sozialen Unterstützung im Alter wird ein Teil des Einkommens durch jene, die Menschen an der Lohnuntergrenze beschäftigen, gewissermaßen in die Zukunft und zum Staat verlagert. Der subventioniert dann später durch Transferleistungen Löhne, die nicht zum Leben reichen – hier in zukünftiger Form. Doch das gilt auch für die gegenwärtige Form: »Wer zum Mindestlohn beschäftigt ist, kann in vielen Großstädten auch als Alleinstehender oft kein Leben ohne zusätzlichen Hartz-IV-Bezug führen«, hieß es unlängst in einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung für die Mindestlohnkommission. Demnach sei in 15 von 20 Städten ein Mindestlohn von 9,50 Euro pro Stunde notwendig, um nicht auf zusätzliche Leistungen angewiesen zu sein.

Die Kommission setzt alle zwei Jahre die Höhe des Mindestlohns neu fest. Forderungen, wo die Lohnuntergrenze liegen soll, gehören zum politischen Geschäft. Dass sie deutlich angehoben werden müsste, hört man aus SPD, Grünen und Linkspartei. Auch aus den Gewerkschaften. Zuletzt hatte sogar der inzwischen als Bundesfinanzminister amtierende Olaf Scholz gesagt: »Wir sollten den Mindestlohn in einem überschaubaren Zeitraum auf zwölf Euro pro Stunde anheben. In einer Gesellschaft, in der die Löhne durch Globalisierung und technischen Wandel unter Druck geraten, muss die SPD den Mindestlohn noch viel stärker als Korrekturinstrument einsetzen, als sie es bisher getan hat.«

Warum ist der DGB so zaghaft?

Am Sonntag startet der Bundeskongress des DGB, der gewerkschaftliche Dachverband wird dann wohl beschließen, »den Mindestlohn so weiterzuentwickeln, dass er existenzsichernd ist«. Das »Ziel des Gesetzes, dass jeder alleinstehende Vollzeitbeschäftigte unabhängig werden soll von sozialen Transferleistungen, kein Altersarmutsrisiko mehr hat und von seinem Lohn leben kann«, sei »längst noch nicht erreicht«. Das ist richtig, siehe oben. Aber warum ist der DGB so zaghaft? Ein Antrag des Bezirks Hessen-Thüringen, in dem ursprünglich eine Anhebung des Mindestlohns auf 13,50 Euro gefordert worden war, wurde von der Antragskommission weichgespült. Der DGB, heißt es nun in dem zur Annahme als Zusatzmaterial zum Vorstandsantrag empfohlenen Papier, fordere, die Lohnuntergrenze »mittelfristig« auf »ein existenzsicherndes Niveau anzuheben«. 

Und bis dahin? Anfang 2017 war der Mindestlohn von 8,50 Euro auf 8,84 Euro brutto pro Stunde gestiegen. Wenn es in dem Tempo weitergeht, würde der Mindestlohn erst in ungefähr 24 Jahren auf einem Niveau liegen, das heute (!) ein Abrutschen in Altersarmut verhindern würde. Anfang des Jahres machten Berichte die Runde, laut denen aufgrund von Zahlen des Statistischen Bundesamtes absehbar sei, dass die gesetzliche Lohnuntergrenze auf 9,19 Euro steigen dürfte.

Rot-rot-grüne Rufe nach deutlicher Anhebung

Aus der Linksfraktion heißt es, man habe »es heute schwarz auf weiß, dass die Höhe des Mindestlohns schon bei Einführung zu niedrig war«. Die Fraktionsvize Susanne Ferschl wird mit den Worten zitiert, eine unverzügliche Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro sei nötig. Die Grünen-Politikerin Beate Müller-Gemmeke sagte Ende 2017 im Bundestag, »fast alle hier wissen, dass der Mindestlohn auf niedrigem Niveau gestartet ist«. Zwar sei es wichtig, dass die Höhe »nicht zum Spielball der Politik werden« dürfe, so die Grüne mit Blick auf die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Aber die Untergrenze »kann und muss erhöht werden, und zwar wissenschaftlich begründet. Gründe dafür gibt es genug«. So sieht es auch Ferschl, die in der »Rheinischen Post« nun sagte: »Vollbeschäftigung geht auch existenzsichernd.«

Das könnte der DGB sicher auch unterschreiben, was er sich aber offenbar nicht zutraut: auch eine Zahl zu nennen. Dachverbandschef Reiner Hoffmann hat der »Saarbrücker Zeitung« jetzt noch einmal in den Block diktiert, dass man sich in der nächsten Sitzung der Mindestlohnkommission im Juni »für eine spürbare Erhöhung des Mindestlohns stark machen«. Man sehe das »als ersten Schritt, um zu einem existenzsichernden Mindestlohn zu kommen«. Da die Mindestvergütung sich laut Gesetz an den jeweils letzten Tariferhöhungen orientieren, aber ebenso die allgemeine Wirtschaftslage einbeziehen solle, »muss es auch einen ordentlichen Zuschlag geben«. Wie hoch der sein könnte, sagt Hoffmann nicht.

Es braucht eine Zahl im politischen Ringen

Was der DGB hier bietet ist eine Rhetorik ohne Anker im Bewusstsein der Leute. Diesen könnte eine Zahl bilden, die klarmacht: Wenn die Untergrenze nicht eine bestimmte Höhe erreicht, dann handelt es sich um Lohnarbeit, die nicht zum Leben reicht, die im Alter arm macht, die den Staat zwingt, die private Aneignung der Fürchte von Tätigkeiten zu subventionieren. Die zwölf Euro, die von Scholz bis Linkspartei genannt werden, könnten dabei politisch zur Verdeutlichung beitragen. Und ja, sie sind dann auch eine Zielmarke, die man anstreben kann, deren Unterschreitung man besser politisieren kann, und die man auch verfehlen kann.

Noch ein Argument: Solange der Mindestlohn nicht deutlich angehoben wird, bleibt der gesetzlich ursprünglich angepeilte Mindestschutz bei den Löhnen verfehlt. »Die Arbeit aller Menschen ist wertzuschätzen. In Deutschland hat die Beschäftigung zu niedrigen Löhnen in den vergangenen Jahren zugenommen«, hieß es seinerzeit im Gesetzentwurf einer Bundesregierung, die von Union und SPD gestellt wurde. Es gebe Bereiche, in denen die »Tarifvertragsparteien oftmals nicht mehr selbst in der Lage« seien, »Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen«. 

Der Mindestlohn setzt das Gesetz nicht um

Ein Mindestlohn von 8,84 Euro bleibt ganz offensichtlich hinter dieser Maßgabe zurück. Der gesetzlich gewollte Mindestschutz ist nicht erreicht. Mehr als drei Jahre nach der Einführung. Das ist nicht nur eine Frage der »Angemessenheit« von Löhnen, sondern auch eine der zusätzlichen Möglichkeiten privater Reichtumsmehrung, sich Löhne zu sparen, weil der Staat ja doch einspringt: durch Aufstocken, durch Transferleistung im Alter, durch Wohngeld und so fort.

Noch einmal der ursprüngliche Gesetzentwurf: Der Mindestlohn solle nicht nur dazu beitragen, »dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Vereinbarung immer niedrigerer Löhne« stattfindet. Der Mindestlohn soll ebenso Anreize mindern, »einen Lohnunterbietungswettbewerb zwischen den Unternehmen auch zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu führen«. Selbst dafür wären, siehe oben, zwölf Euro theoretisch noch nicht ausreichend. Umso wichtiger aber wäre es, mindestens diese Zahl zum Gegenstand einer Auseinandersetzung werden zu lassen, die sich nicht hinter dem Fingerzeig auf Tarifautonomie versteckt. Oder, um es anders zu formulieren: Eins auf die Zwölf!

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