Wirtschaft
anders denken.

Warum Jeremy Corbyn gerade jetzt bleiben muss

29.06.2016
Ein Magnetfeld, darauf die Buchstaben C O R B Y Ngelegt.Foto: Jonathan Rolande / flickr CC BY 2.0Warum Labour jetzt einen Corbyn braucht.

Tom Strohschneider über den innerparteilichen Putsch gegen Jeremy Corbyn, das falsche Spiel mit Brexit-Folgen und die Zukunft von Labour.

Es ist ein ebenso beschämendes wie erhellendes Schauspiel, das derzeit gegen den linken Labour-Chef Jeremy Corbyn aufgeführt wird: In seiner Partei proben das Establishment und der alte Blair-Flügel nach dem Brexit-Referendum den Aufstand – mit zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Argumenten. Und jetzt springt auch noch der konservative Premier David Cameron auf den Zug auf, der den Weg zur Volksabstimmung und damit in eine der schwersten politischen und konstitutionellen Krisen Großbritanniens überhaupt erst geebnet hat.

»Um Gottes Willen, gehen Sie!«, rief Cameron Corbyn zu – es sei nicht im »nationalen Interesse«, wenn dieser Labourchef bleibe. Das ist völlig richtig, wenn man berücksichtigt, was der Noch-Premier darunter versteht. Die Aufforderung an Corbyn zum Rücktritt aber wird auch dann nicht richtiger, wenn sie von der parteipolitischen Konkurrenz kommt. Mag sein, dass sich der eine oder andere der AufrührerInnen bei Labour nun wenigstens Gedanken darüber macht, vom wem hier Beifall kommt für den Versuch, einen linken Sozialdemokraten zu stürzen.

Putsch gegen Corbyn ohne Rücksicht auf die Basis

Doch das ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Zu offenkundig wird der Putsch gegen den erst im vergangenen September von einer großen Mehrheit der Labour-Mitglieder gewählten Corbyn von Motiven geleitet, die mit den Vorwürfen, die nun gegen den Parteichef erhoben werden, nicht viel zu tun haben.

Nein, auch Corbyn steht nicht unter politischem Naturschutz, und selbstverständlich müssen sich ganz Labour und der Parteivorsitzende zuerst die Frage stellen, was schief gelaufen ist: Obgleich Labour für »Remain« warb, hat die Partei einige Hochburgen an das »Leave«-Lager abgeben müssen. Richtig ist auch, dass eine sozialdemokratische Partei ein enormes Problem hat, wenn relevante Teile der ArbeiterInnen und Angestellten, der Abgehängten in einem Referendum für einen Brexit votieren, dessen Folgen für diese Teile der Klasse am verheerendsten sein werden. Es mag sogar daraus der Schluss gezogen werden, dass Corbyn dafür Verantwortung übernehmen muss. Eine demokratische Wahl könnte dann dem Souverän – der Basis – die Entscheidung überlassen, wie es weitergehen soll, und mit wem.

Doch was das Establishment und der Blair-Flügel gegen Corbyn inszenieren, ist nicht eine Auseinandersetzung um Verantwortung und den künftigen Kurs, sondern ein Coup, der keine Rücksicht auf die Parteibasis, auf die politischen Herausforderungen, auf die Wahrheit nimmt. Immer wieder wird gegen den Labour-Chef vorgebracht, er habe sich im Wahlkampf zum Brexit-Referendum nicht genügend für den Verbleib in der EU eingesetzt. Zudem wird seine Fähigkeit bezweifelt, als Spitzenmann in die zu erwartenden Neuwahlen zu gehen.

Warum Labour jetzt einen wie Corbyn braucht

Ronan Burtenshaw hat in einem leidenschaftlichen Appell den Corbyn-KritikerInnen die Maske heruntergerissen. Unter den Labour-AnhängerInnen haben laut einer Umfrage 63 Prozent für den Verbleib in der EU votiert, so viele wie bei der schottischen SNP, die nun als Musterbeispiel der EU-Freundschaft in Großbritannien gilt. In Corbyns Wahlkreis Islington stimmten 76 Prozent für »Remain«. Der Labour-Chef hat im Brexit-Wahlkampf die richtige Haltung gezeigt: Linke Kritik an der real existierenden EU einerseits, eine Votum für die Perspektive einer linken Veränderung innerhalb der EU andererseits. Und: Diejenigen, die jetzt versuchen, ihm daraus einen Strick zu drehen, PolitikerInnen, die aus Corbyns Schattenkabinett »aus Protest« zurückgetreten sind, kommen aus Wahlkreisen, in denen die Brexit-Zustimmung höher lag. Sind das also die besseren WahlkämpferInnen? Apropos: In Umfragen liegt Labour nach dem Referendum knapp hinter den Konservativen oder gleichauf. Obwohl der Parteichef Corbyn heißt.

Ihm und der Labour-Linken stehen schwierige Zeiten bevor. Damit ist nicht der Putschversuch gemeint, dessen Folgen für die Partei und den Wahlkampf noch gar nicht absehbar sind. Gemeint ist die gesellschaftspolitische Herausforderung, nun unter Post-Brexit-Bedingungen die Erneuerung der Sozialdemokratie fortsetzen zu müssen – in einem Klima wachsender nationalistischer und rassistischer Attacken von rechts.

Bleibt es beim Brexit, brauchen die, die davon besonders betroffen sein werden, eine starke, linke Labour Party.

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Bleibt es beim Ausstieg aus der EU, brauchen die, die davon besonders betroffen sein werden, eine starke, eine linke Labour Party. Für die steht Corbyn. Besteht doch noch die Möglichkeit, einen Exit aus dem Brexit einzuschlagen, braucht Labour eine Haltung zur Europäischen Union, die sich nicht in einem formelhaften, unkritischen Europäismus erschöpft, dem die EU schon alles ist, aber ihre politische Substanz, ihre Ausrichtung, ihre Veränderung nichts. Auch für eine notwendige kritisch-europäische Haltung steht Corbyn. Die ihn stürzen wollen, wollen eine andere Politik – und eine andere Partei.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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