Wirtschaft
anders denken.

»Tick, tick, tick. Everything faster, faster, faster«

26.12.2020

Hochfrequenzhandel, Echtzeit und E-Scooter: Über Macht durch Geschwindigkeit und Speed-Kult. Ein Beitrag aus OXI 12/2020.

Wenn alle möglichst zu Hause bleiben und möglichst wenige Menschen treffen, kehrt ein bisschen mehr Ruhe ein, könnte man meinen. Doch die Pandemie hat nicht zu einer Entschleunigung der Gesellschaft geführt, meint der Buchautor Jonas Frick. Der Onlinehandel boomt, der Zeitdruck im Homeoffice steigt, wenn sich Eltern neben der Erwerbsarbeit um ihre Kinder kümmern müssen. Für Unternehmen und Volkswirtschaften gelte weiterhin die Prämisse: Wer schneller ist, hat einen Wettbewerbsvorteil. So sei das Rennen, ob China, Europa oder die USA ihre Wirtschaft rascher wieder zum Laufen bringen, in vollem Gange. Darum haben viele Regierungen zwar Teile des öffentlichen Lebens gestoppt, in Unternehmen soll jedoch weitergearbeitet werden. Mitten in der Pandemie ist das Buch von Jonas Frick über die »Politik der Geschwindigkeit« erschienen. Die Bedeutung der Geschwindigkeit wächst, so seine These, was sich nicht nur in Unternehmensstrategien niederschlägt, sondern auch im Alltag der Menschen und auf ideologischer Ebene.

»Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil«, befindet der in Zürich lebende Aktivist und Germanist Frick und beschreibt als Taktgeber den Hochfrequenzhandel an Börsen. Unternehmen, die mit Aktien handeln, können für viel Geld an Börsen einen Zugang zu sogenannten Co-Locations kaufen, mit dem sie schnellstmöglich Marktdaten erhalten und Aufträge nahezu sofort ausgeführt werden. »Mit Co-Location reduzieren Sie ihre Latenz im Aktienhandel auf 14 Mikrosekunden«, wirbt etwa die Schweizer Börse. Schneller als andere auf Kursschwankungen reagieren zu können, ist ein Vorteil, schon kleinste Kursänderungen können hohe Gewinne einspülen. Ein Großteil des Börsenhandels wird von Software erledigt, die Tausende Transaktionen in kürzester Zeit ausführen kann, wobei die Wertpapiere oft nur für Sekundenbruchteile gehalten werden. Frick beschreibt verschiedene Methoden des Hochfrequenzhandels, das Ziel bleibt immer das Generieren von Gewinnen.

Schnelligkeit war schon in früheren Phasen des Kapitalismus wichtig, um sich einen Konkurrenzvorteil zu verschaffen und möglichst hohe Gewinne zu erzielen, auf den Finanzmärkten ebenso wie in der Produktion. Frick beschreibt etwa, wie in den 1920er Jahren in Fords Fabriken »Speed-Bosse« Arbeitsschritte messen, um sie zu beschleunigen.

Doch das Tempo steigt, nicht nur im Aktienhandel. Mit der Digitalisierung sei Echtzeit (real time) zur neuen Ideologie geworden. »Google bietet ein Programm für Verlage und News-Seiten an, das in Echtzeit analysiert, welche News trenden«, schreibt Frick. IBM biete eine Software, mit der Preise in Echtzeit individualisiert werden.

Allerdings braucht jede noch so schnelle Software eine gewisse Zeit, um Daten zu verarbeiten. Echtzeit muss real nicht erreicht werden, so Frick. Allein die dahinter stehende Maxime übe einen immerwährenden Beschleunigungsdrang aus. Dabei geht es nicht nur um das Tempo der Datenübertragung. Unternehmen setzen sich auch zum Ziel, möglichst rasch auf Marktnachfragen zu reagieren, Manager sollen möglichst schnell entscheiden und IT-Leute möglichst schnell etwas Neues entwickeln. »Move fast and break things«, lautete über Jahre die Direktive von Mark Zuckerberg an Facebook-Entwickler. Inzwischen hat der Konzern das Motto an seine Macht angepasst: »Move fast with stable infrastructure«.

In der »Herrschaft des Schnelleren« (Dromokratie) lösten sich stabile Arbeitsordnungen noch radikaler auf als zuvor. Arbeiten über Plattformen ist dafür ein Beispiel, das Frick nennt: Menschen erledigen irgendwo auf der Welt auf Internet-Plattformen Mikrojobs wie das Beschreiben von Waren in Onlineshops. Andere Beschäftigte erhalten weltweit geltende Deadlines für internationale Projekte, an die sich amerikanische, asiatische und europäische Angestellte halten müssen, unabhängig von der lokalen Tageszeit. Ihre Arbeit wird global synchronisiert.

Nun lässt sich darüber streiten, welche Rolle die »Herrschaft des Schnelleren« bei solchen neuen Beschäftigungsformen spielt. Man kann auch argumentieren: Ziel von Unternehmen ist es im Kapitalismus, Gewinne zu machen. Dafür nutzen Firmen seit jeher neue technische Möglichkeiten, auch um Arbeitskosten zu senken.

Für Jonas Frick ist aus einer kulturanalytischen Perspektive ein anderer Punkt wichtig: die enorme Bedeutung der Geschwindigkeit auf ideologischer Ebene und im Alltag der Menschen. Dafür liefert er in seinem Buch eine Fülle von Beispielen. So beschreibt er die Speed-Kultur in Internet-Konzernen, die sich in Slogans manifestiert, die manchmal ins Lächerliche kippen: »Tick, tick, tick. Everything faster, faster, faster«, hieß es in einer IBM-Werbung von 2001. Einen ästhetischen Ausdruck findet die Echtzeit-Ideologie in visualisierten Datenströmen.

Bereits eine lange Tradition hat die Ideologie ums Auto. Nun werden E-Scooter mit Freiheits- und Glücksversprechen verknüpft: »Unser Instinkt ist es, uns frei zu bewegen.« Obendrein wird ihnen ein umweltfreundliches Image verpasst, indem sie Autos gegenübergestellt werden. Dabei sind E-Scooter vor allem für die »letzte Meile« gedacht, etwa von zu Hause zur U-Bahn, die man ökologisch perfekt zu Fuß zurücklegen kann. Mit dem Fahrrad durch die Stadt zu rauschen, ist ebenfalls öko und kann so schön sein.

Das schnelle Liefern von Waren wird zu einem Premium-Service, der seinen Preis hat. Wenn die Pandemie dazu führt, dass der Onlinehandel weiter boomt, wird es tatsächlich immer schwieriger, schnell und kostenlos Produkte im Geschäft zu besorgen.

Im Alltag haben viele Menschen das Gefühl, wenig Zeit zu haben, auch wenn die Arbeitszeit nicht gestiegen ist. »Wir glauben, die Zeit optimal nutzen zu müssen; alles andere empfinden wir als nicht befriedigende Freizeit, die optimiert werden muss«, schreibt Frick. Die Popkultur ist dabei Widerstandsmoment und zugleich Träger der Beschleunigung. »Mit den 140 bpm (beats per minute) des Technos lässt sich Geschwindigkeit genießen und zugleich von der Gesellschaft abkehren.«

In der Erwerbsarbeit haben Beschäftige oft tatsächlich weniger Zeitsouveränität, etwa weil sie ständig erreichbar sein sollen oder weil sie auf Abruf arbeiten. In anderen Jobs ist der Zeitdruck enorm, in Logistikzentren und bei der Paketzustellung ebenso wie in der Pflege.

Das alles muss nicht so sein. »Wir können das als Gesellschaft hinterfragen«, sagt Frick im Gespräch mit »OXI« und plädiert für eine Politisierung der Geschwindigkeit, also für eine politische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. In seinem Buch nennt er mögliche Ansatzpunkte, darunter ein altes und bewährtes Mittel: den Arbeitskampf um die Arbeitszeit. Dabei ließen sich vielleicht unterschiedliche Erfahrungen mit dem Phänomen Geschwindigkeit verknüpfen und etwa die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten stärker mit geschlechtergerechten Arbeitszeiten verbinden, die insbesondere Mütter entlasten. In der Pflege wiederum haben Beschäftigte und Pflegebedürftige ein Interesse an weniger Zeitdruck.

Für Frick ist dabei der Streik selbst schon eine Politisierung der Zeit. Denn die Beschäftigten sagen selbstbestimmt: Wir stoppen jetzt die Produktion oder die Warenauslieferung. Jetzt wird mal der Betrieb entschleunigt.

Jonas Frick Politik der Geschwindigkeit Mandelbaum-Verlag, September 2020, 248 Seiten, 19 Euro

Geschrieben von:

Eva Roth

Journalistin

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