Wirtschaft
anders denken.

Was die Leute wirklich umtreibt – und was weiter nicht auf der Agenda zu finden ist

03.08.2018
Foto: Punktional, gemeinfrei

Gesundheit, Soziales, Wohnen: Das sind die wichtigsten politischen Themen für die meisten Leute, ergibt nun erneut eine Umfrage. Doch die öffentliche Debatte schiebt anderes ins Zentrum. Ein paar Anmerkungen zur Diskrepanz zwischen den realen Herausforderungen und der realen Politik.

»Wenn in einem Land ein Prozent der Menschen 42 Prozent des Vermögens besitzen, muss die politische Führung ganz auf Rassismus, Xenophobie und Verschwörungstheorien setzen, damit es nicht zur Revolte kommt«, hat der Kollege Nils Minkmar vom »Spiegel« dieser Tage getwittert – mit Blick auf die USA und mit der Anmerkung verbunden, »Marx wäre über Trump nicht erstaunt«. Wäre er nicht?

Mag sein, in diesem Buch kann man darüber Erhellendes nachlesen. Worauf Minkmar hier aber vor allem hinauswill, ist eine Diskrepanz zwischen den realen gesellschaftlichen Herausforderungen und einer Politik, die zu deren Lösung nicht fähig oder willens ist, und die deshalb Sündenböcke schafft, die soziale und kulturelle Spannungen erzeugt, die Handlungsfähigkeit demonstriert, indem sie Probleme löst, die von ihr selbst zuvor erst zu solchen hochgeredet wurden.

Die Fallen der Vereinfachung und der Missverständnisse liegen nahe, zu schön wäre es doch, die ganze konfliktbeladene und widersprüchliche Komplexität auf etwas so Einfaches wie ein politisches Ablenkungsmanöver zu reduzieren, das die Regierenden inszenieren, um nicht die sozialen und ökologischen Kosten einer kapitalistischen Übergangsperiode bezahlen zu müssen, die im Großen (Weltpolitik, Basistechnologien etc.) wie im Kleinen (soziale Lagen, Subjektivität etc.) vieles in Bewegung hält.

Aber doch bleibt ja die Frage virulent, ob hier an den sozialen, ökonomischen und sonstwie gelagerten Ursachen von Unsicherheitsgefühl, auseinandertreibenden Gesellschaften und den globalen Verschränkungen nicht vor allem vorbeidiskutiert wird. Eine weitere Umfrage legt das mehr als nahe, »die Themen der Asyl- und Flüchtlingspolitik haben in den letzten Wochen in der politischen Diskussion viel Raum eingenommen. Allerdings sind andere Themen für die Bürgerinnen und Bürger deutlich wichtiger«, mit diesen einleitenden Worten vermeldet die ARD die Ergebnisse.

Schlechtes Zeugnis für die Koalition

Man kann diese so zusammenfassen: Gesundheit, Pflege, Renten, Soziales, Schutz vor Kriminalität und Wohnungsfrage sind den Menschen hierzulande wichtiger als die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Manches brennt eher Älteren auf der Seele (Gesundheit, Pflege), manches steht mehr in größeren Städten weit oben auf der Liste (Mieten). Das, was der allgemeinen Ansicht nach  das dominante Thema ist, halten 39 Prozent der Befragten für sehr wichtig: Asylpolitik, Flucht. Das ist immer noch viel und niemand wird behaupten wollen, dass die damit zusammenhängenden Fragen unwichtig wären.

Aber es geht ja, siehe oben, um die Diskrepanz zu dem, was die Menschen bis zu drei Mal so stark bewegt – und warum sich da, nach allgemeiner Anschauung, nichts oder nicht in die richtige Richtung bewegt. Auch das wurde in der Umfrage angesprochen. Die Bundesregierung konnte auf keinem der in Rede stehenden Politikfelder eine Mehrheit überzeugen, am ehesten noch beim Schutz vor Kriminalität, hier zeigen sich 47 Prozent zufrieden. Ansonsten stellen grosso modo zwei Drittel der Bürger der Koalition ein schlechtes Zeugnis aus.

Aber: Sind solche Umfragen überhaupt ausreichend aussagefähig? Immerhin, so ließe sich einwenden, haben andere Studien ganz andere Ergebnisse gebracht. »Der Kampf gegen Altersarmut und das Herstellen gleicher Bildungschancen sind für die Bundesbürger nach einer Umfrage die wichtigsten politischen Themen für eine Wahlentscheidung«, hieß es vor zwei Wochen zum Beispiel. »Eine Begrenzung der Zuwanderung, über die die Politik derzeit hauptsächlich diskutiert, wird dagegen als wesentlich weniger wichtig eingestuft.« Eine andere Umfrage kam auf ein ganz anderes Ergebnis: »Für 65 Prozent, also fast zwei Drittel der Deutschen ist ›Zuwanderung, Migration, Integration‹ das derzeit wichtigste politische Thema.«

Abseits der oberen Chartplätze der Alltagssorgen

Die Unterschiede resultieren nicht zuletzt aus der Anlage solcher Befragungen. Die »Neue Zürcher Zeitung« hat dazu unlängst zur Aufklärung beigetragen – eine Studie, bei der Politikfelder zur Auswahl stehen, sei aussagekräftiger als offene Fragerunden, beide Umfragen, die hier mehr Aufmerksamkeit für andere als die Asylfrage erheischen, gehören zur Gruppe der ersteren (bei deren Methoden man auch noch manches besser gestalten könnte).

Und na klar, man muss auch immer wieder hinterfragen, ob die Behauptung stimmt, die politische Aufmerksamkeit drehe sich vor allem um Flucht und Migration. Auch die kritische Sicht auf die Wirklichkeit kann mit einem Tunnelblick einhergehen, der dann dort nur noch oder vor allem das Zuwanderungsthema sieht und sehen will, weil dies mit der eigenen Ansicht zusammenpasst, dass die Regierenden und viele Medien darum kreisen, statt sich den anderen Fragen zuzuwenden.

Richtig ist zudem, dass Themen wie Mieten oder Renten ja auch auf eine Weise »beantwortet« werden können, die in der Logik nationaler Exklusion liegt, weil das in den Vordergrund geschobene Thema Migration hierauf abfärbt. Und man muss sich auch dieser Fragen stellen: Wäre ein Problem, das nur 20 Prozent als ihr wichtigstes umtreibt, ein insgesamt betrachtet unwichtiges? Es ist ja gerade Ausdruck von praktizierter Demokratie, dass die Anliegen von Minderheiten ebenso zur Geltung gebracht werden.

Unter dem Strich bleibt, dass zumindest Beobachter zu der Auffassung gelangt sind, in einem großen Kernbereich öffentlicher Debatte wird über vor allem ein Thema behandelt, das in den Charts der Alltagssorgen der Leute ziemlich weit hinten liegt – bei denen sich Teile der Politik aber in die Pose der Handlungsfähigkeit werfen können, nicht selten mit der Behauptung verbunden, hierbei die Stimmungslage »der Massen« zu treffen. Wie das das gefährlicher Feuer rechtspopulistischer Dynamik immer wieder neu anfacht, kann man täglich beobachten: nicht nur bei der CSU.

Der globale Horizont

Zurück zu Minkmar noch einmal: Fragen der Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums spielen in der aktuellen Umfrage jedenfalls direkt keine Rolle. Ist die Ungleichheit hierzulande etwa kein drängendes Problem, interessiert sich niemand dafür? In einer der anderen ansgeprochenen Befragungen nannten es über 50 Prozent »äußerst« oder »sehr wichtig«, den Wohlstand gerechter zu verteilen. In der Rangliste der Themen kam das aber nur auf den zehnten Platz. Das hießt wiederum auch nicht, dass es sich um eine weniger wichtige Angelegenheit handelt. Zumal, wenn man die Frage der Verteilung nicht bloß als eine nationale Angelegenheit betrachtet.

Gero von Randow hat in der aktuellen »Zeit« angemahnt, endlich diesen Horizont in den Blick zu nehmen – und das nicht auf eine Weise, bei der die Forderung, »Fluchtursachen zu bekämpfen« zu einer wohlfeilen Ausrede gerät, die dazu dient, sich aus weltgesellschaftlicher Verantwortung zu stehlen, die man durch »ungerechtfertigte Bereicherung« auf Kosten anderer auf sich geladen hat. »Anstrengender, viel anstrengender hingegen wäre das Ende unserer ›imperialen Lebensweise‹… Anstrengend und konfliktreicher…«, schreibt von Randow. So anstrengend und konfliktreich, dass dies als zu lösendes Problem derzeit noch nicht einmal in den besseren Umfragen der politischen Herausforderungen auftaucht.

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