Wirtschaft
anders denken.

Was Friedrich Pollock vor 62 Jahren über die »sprunghaft fortschreitende Automatisierung« zu sagen hatte

07.08.2018
OXI

Systematische Umschulung, Verkürzung der Arbeitszeit, Beteiligung der Beschäftigten an der Automatisierungsdividende – das waren für Friedrich Pollock einige der nötigen Konsequenzen aus der »zweiten industriellen Revolution«. Rückblick auf einen Vortrag aus dem Jahre 1956.

Teil I einer losen Serie zur Geschichte der kritischen Debatten über die Folgen der Automatisierung im Kapitalismus.

1956 war das Jahr, in dem Nikita Chrustschow in der Sowjetunion die Entstalinisierung einleitete, in dem die Wiederaufrüstung der beiden deutschen Staaten begann, in dem Marokko, Sudan und Tunesien unabhängig wurden. Im Bayerischen Rundfunk wird der erste Werbespot der Bundesrepublik ausgestrahlt, das DDR-Fernsehen nimmt seinen regulären Sendebetrieb auf. In der Physik werden die Neutrinos entdeckt. Und die westdeutsche Lotterie führt die Zusatzzahl ein.

In München veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Akademiker in jenem Jahr mehrere Vortragsreihen, die sich unter anderem mit der »Weltmacht Atom« beschäftigten. 1956 lief zudem eine weitere Reihe, »in der Absicht durchgeführt und geplant, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Probleme hinzulenken, die aus der sprunghaft fortschreitenden Automatisierung entstehen«. Man wollte, so formulierte es damals der Sozialdemokrat und bayerische Justizminister Fritz Koch, vor allem die Erkenntnis verbreiten, »dass wir die Vorteile einer automatisierten Wirtschaft und Verwaltung nur dann ungefährdet genießen können«, wenn auch die soziale und wirtschaftliche Struktur »mit dem technischen Fortschritt in Einklang bleibt«.

Worauf Koch damals hinauswollte war also nicht zuletzt die Frage, wie sich verändernde Produktivkräfte auf die Produktionsverhältnisse auswirken und wie diese »reale Basis« auf das ausstrahlt, was Karl Marx den juristischen und politischen Überbau nannte und mit bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseinsformen in Verbindung sah. Einer der in der Münchner SPD-Reihe Vortragenden war Friedrich Pollock, Soziologe, Ökonom und Mitbegründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, der wie viele seiner Kollegen von den Nazis in die Flucht getrieben wurde.

Sein Thema lautete »Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Automatisierung« und kann als der eigentlich Kern dieser Themenreihe angesehen werden. Pollock referierte unter anderem aus Daten und Einschätzungen, die in den USA 1955 von einem Kongress-Komitee zusammengetragen worden waren. Im Sommer 1956 formulierte Pollock seine Überlegungen dann ausführlich in dem Buch »Automation. Materialien zur Beurteilung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen«, das in Frankfurt am Main verlegt wurde.

Fabian Namberger hat sich das Buch für kritisch-lesen.de unlängst noch einmal vorgenommen und der heutigen »Aufregung um die neuesten digitalen Gadgets« entgegengehalten. Bei der gehe nämlich »der Blick für jene kontinuierlichen Kräfte« verloren, »die seit jeher dafür gesorgt haben, dass sich der Nutzen neuer Technologien – sei es Dampfmaschine oder Smartphone – nur äußerst einseitig auf jene zwei Pole verteilt, die sich im Innersten unserer Gesellschaft gegenüberstehen: Arbeit und Kapital«. Es sei daher auch sinnvoll, danach zu »fragen, was vor einem halben Jahrhundert über Automatisierung geschrieben und gedacht wurde«. Unter anderem eben bei Pollocks »Automation«, in dem zwar das Vokabular mitunter »mehr nach Peter Alexander« klinge, viele Argumente, Fragen und Debatten aber nach wie vor »überraschend aktuell« seien.

Wenn nicht alle Zeichen trügen

Pollock sagte damals in seinem Münchner Vortrag unter anderem: »Wenn nicht alle Zeichen trügen, dann bedeutet die Anwendung der Computer- und Rückkopplungstechnik in den Werkstätten und den Büros, die automatische Kontrolle des ganzen Produktionsvorganges in tendenziell allen Zweigen der Wirtschaft, die einen Massenbedarf befriedigen, wegen der mit der neuen Technik verbundenen Veränderungen in den Funktionen der im Wirtschaftsprozess tätigen Menschen sowie der Gefahren der Massenarbeitslosigkeit und permanenter Überproduktion eine so radikale Umwälzung in der Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft, dass es sinn voll ist, von einer zweiten industriellen Revolution zu sprechen«.

Pollock wollte diese aber »nicht bloß in dem negativen Sinne« verstehen, »dass im Gefolge der Verbreitung der automatischen Produktionsweise die Spannung zwischen den durch sie aufs intensivste gesteigerte Produktivkräften und den bestehenden Produktionsverhältnissen auf die Spritze getrieben werden könnte, sondern auch in dem positiven, dass die Automation das Versprechen der Hebung des Lebensstandards aller Menschen bei gleichzeitiger Verringerung der Mühsal und der Gefahren der Arbeit enthält – sofern es nur gelingt, das, was technisch möglich ist, auch wirtschaftlich und gesellschaftlich in rationaler Weise anzuwenden.«

Ob, so könnte man diese große alte Frage in heutige Rhetorik übertragen, Digitalisierung und Automatisierung der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse zugute kommen, hängt von den Bedingungen und Zielen des Einsatz von Technologien ab. Pollock zeichnet in seinem Münchner Vortrag von 1956 dann noch ökonomische Auswirkungen der Automation, ihren Einfluss »auf die Stabilität der Wirtschaft« sowie »auf die Größe der Unternehmungen und Betriebe« nach.

Die Sorge vor einer autoritären »Automation-Hierarchie«

Auch befasst er sich mit der heute mitunter in Katastrophenschlagzeilen gefassten Frage, inwieweit Automation »technologische Massenarbeitslosigkeit« hervorrufen könnte. Pollock stellt die Argumente derer vor, die erklären, »dass die in den automatisierten Werken freigesetzten produktiven Arbeiter, sei es mit der Bedienung und Wartung der neuen Geräte, sei es in ihrer Produktion, Beschäftigung finden würden«. Auch verweist er auf die Kompensationstheorie, laut der sich früher oder später »auf dem Arbeitsmarkt trotz vorübergehender Störungen sozusagen ein automatisches Gleichgewicht herstelle«. Pollock sieht das skeptischer, er begründet die in Statistiken zum Ausdruck kommende Tatsache, dass es zunächst nicht zu größerer Erwerbslosigkeit wegen Automation kam, mit anderen Faktoren. Und er verweist auf eine Konferenz von Fachleuten, die seinerzeit an der Yale Universität über »Der Mensch und die Automation« berieten. Das hochkarätig besetzte Treffen habe sich nicht darüber einigen können, »welche Wirkungen die neuen Geräte auf die Beschäftigung haben werden … und ob sie vielleicht eine große Arbeitslosigkeit verursachen würden«.

Heute wird mit Blick auf die untersuchbaren, also in der Vergangenheit liegenden Folgen von Automatisierung auf den Faktor Arbeit vor allem auf andere Entwicklungen aufmerksam gemacht, etwa die Zunahme von Ungleichheit der Einkommen und die Frage der Weiterbildung. Auch darüber sprach Pollock in München schon, er skizzierte, wie Automation auf die Stellung des Einzelnen im Wirtschaftsprozess, auf die Struktur von Belegschaften und auf neue Funktionen des Managers durchschlägt. Und er prognostizierte »das Entstehen einer in vieler Hinsicht privilegierten Schicht von Arbeitnehmern, die wir Automation-Hierarchie nennen wollen«. Diese »unterscheiden sich von den außerhalb des Automationssektors der Wirtschaft arbeitenden durch Begabung, Ausbildung und Selbstbewusstsein.Es ist auch wahrscheinlich, dass die einen höheren Lebensstandard haben und sich einer erheblich größeren Sicherheit des Arbeitsplatzes erfreuen«. Pollock trieb hier die Sorge um die Entstehung einer gesellschaftlichen Gruppe um, »die mit einer autoritären militärischen Hierarchie verglichen werden kann«. Es müsse zwar nicht dazu kommen, aber es komme darauf an, »die in der heutigen Industriegesellschaft wirksamen Entwicklungstendenzen aufmerksam« zu verfolgen.

Der Ruf nach sehr weitgehender Wirtschaftsplanung

Ohnehin wollte Pollock nicht Voraussagen treffen, sondern »Stoff zum Nachdenken geben«. Der Ökonom verwies zudem auf ganz praktische politische Fragen, die auf die Agenda rücken müssten – und die da heute immer noch hingehören: »Dazu gehört die Forderung nach systematischer Umschulung der freigesetzten Arbeiter, Schutzmaßnahmen für die älteren Arbeiter, Verkürzung der Arbeitszeit, Beteiligung der Arbeitnehmer an der gestiegenen Produktivität durch entsprechende Lohnerhöhung« und anderes mehr. Pollock war skeptisch, ob das in einer normal-kapitalistischen Wirtschaft überhaupt ausreichen geschweige denn durchsetzbar wäre.

»Meiner Überzeugung nach können die aus der Automation entstehenden Gefahren nur durch eine sehr weitgehende Wirtschaftsplanung gebannt werden. Es sei wenigstens erwähnt«, so endet Pollocks Münchner Vortrag von 1956, »dass gerade die Automation für die Planjung Werkzeuge und Methoden liefert, wie man sie sich in ihrer Leistungsfähigkeit noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen konnte. Eines der Haupthindernisse für die rationale, der Konsumtionsfreiheit des einzelnen sowie der Entschlussfreiheit der politische Körperschaften wünschenswerten Spielraum lassende Planung waren die für die rechtzeitige Information aller Stellen notwendigen ungeheuerlichen Rechenarbeiten bei der Aufstellung und Durchführung der Planung.« Dies sei nun anders.

Hier hat Pollock zu optimistisch gedacht, so wie er in anderen Fragen zu pessimistisch dachte. Größere Projekte des Einsatzes von Computertechnik bei der Planung volkswirtschaftlicher Prozesse wie etwa in Chile in den frühen 1970er Jahren (Cybersyn) oder Überlegungen zu einem Computersozialismus in den 1990er Jahren (von Cockshott und Cottrell) haben immer noch nicht den Durchbruch befördert. Was freilich auch an vielen anderen Hindernissen liegt, nicht nur an der Technikfrage.

Ansonsten aber lässt sich Pollock auch heute noch mit außerordentlichem Gewinn lesen. »Die heute so oft gestellte Frage, ob die Automation ein Segen oder ein Fluch sein wird, beantworte ich dahin, dass weder das eine noch das andere Ergebnis schicksalshaft bestimmt ist. Die Entscheidung darüber, wozu sie sich entwickeln wird, liegt beim Willen der Menschen.«

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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