Wirtschaft
anders denken.

Wer bestimmt, was systemrelevant ist? Andreas Kallert  über die Finanzkrise und die deutsche Bankenrettungspolitik

Systemrelevanz ist eine Argumentationsfigur, mit der partikulare Interessen unter dem Deckmantel der Betroffenheit aller durchgesetzt werden. Andreas Kallert hat die Bankenrettungen in Deutschland im Zuge der Finanzkrise untersucht – er fordert eine »gegenhegemoniale Erzählung« dazu.

18.06.2018
Westfälisches Dampfboot
Systemrelevanz ist eine Argumentationsfigur, mit der partikulare Interessen unter dem Deckmantel der Betroffenheit aller durchgesetzt werden. Andreas Kallert hat die Bankenrettungen in Deutschland im Zuge der Finanzkrise untersucht - er fordert eine »gegenhegemoniale Erzählung« dazu. Von dem promovierten Sozialwissenschaftler ist gerade die Studie »Die Bankenrettungen während der Finanzkrise 2007-2009 in Deutschland. Zur Kritik der Systemrelevanz« (Westfälisches Dampfboot; Münster 2017; 304 Seiten; 32 Euro) erschienen. Mit ihm sprach Axel Berger.

In Ihrem Buch über die Bankenrettungen in Deutschland im Zuge der Finanzkrise steht der Begriff der Systemrelevanz als zentrale Argumentationsfigur für diese im Mittelpunkt. Sie bezeichnen dies als »diskursive Strategie … der Verallgemeinerung partikularer Interessen«. Was ist damit genau gemeint?

Im Verlauf der Finanzkrise ab 2007 und insbesondere nach der staatlichen Rettung der Hypo Real Estate im Herbst 2008 sprachen auf einmal Politiker, Finanzaufsicht, Medien und Finanzindustrie von der »Systemrelevanz« der Banken. Damit wurde und wird begründet, dass Banken, die man als systemrelevant einstuft, nicht pleitegehen dürfen und notfalls auch mit öffentlichen Geldern gerettet werden müssen. Dabei wurde das Überleben kriselnder Finanzinstitute gleichgesetzt mit Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum, Renten, Erspartem und so weiter, wobei eben zunächst einmal Vermögen, Kredite und Investitionen vor der marktkonform anstehenden Entwertung auf Kosten der Allgemeinheit bewahrt wurden. Es konnte also mit der diskursiven Strategie Systemrelevanz erreicht werden, dass die Rettung von Banken als etwas, das im Interesse aller Leute liegt, erscheint – darauf zielt die Rede von der Verallgemeinerung partikularer Interessen ab. 

Waren die Rettungen etwa der IKB oder der HRE, die Sie exemplarisch behandeln, also nicht nötig, um die Krise nicht zu einer systemischen werden zu lassen?

Dafür müsste man zunächst definieren, was eine systemische Krise ausmacht: ein Kurseinbruch, der Ausfall von Krediten, ein Schaltersturm, der Zusammenbruch von Großbanken? Sowohl die halböffentliche IKB als auch die private HRE hatten sich in erster Linie mit auf US-Immobilien basierenden Wertpapieren verspekuliert, waren aber keine klassischen Einlageninstitute. Die Kreditgeber der IKB und HRE waren recht breit im In- und Ausland gestreut, soweit man davon Kenntnis hat. Es hätte demnach insbesondere bei Großinvestoren, also Versicherungen, Banken, Fonds et cetera, Verluste gegeben. Aber sowohl die relativ kleine Mittelstandsbank IKB als auch die damals im DAX notierte HRE hätten vermutlich in einem ordentlichen Insolvenzverfahren abgewickelt werden können, ohne dass es zu einer Art Systemkrise gekommen wäre. Falsch ist jedenfalls die Behauptung von der »sozialpolitischen Systemrelevanz der HRE« und der Rettung der Kleinsparer, wie sie von Finanzaufsicht und Politik verbreitet wurde: Weder hatten die Sozialkassen in nennenswertem Umfang Anleihen der HRE, noch hatten Normalsparer außerhalb eventuell von Aktien Geld bei der HRE angelegt. Es wurde viel dramatisiert und übertrieben, um die Bankenrettungen zu rechtfertigen: Der Bankenaufseher Jochen Sanio warnte im Bundestag etwa vor Szenen wie aus »Apocalypse Now«, hätte man die HRE nicht gerettet.

Er war beileibe nicht der Einzige. Wie und vor allem durch wen ist dieser Diskurs so wirkungsmächtig hergestellt worden?

Banken, Industrie, Regierung, Experten, Finanzaufsicht, aber auch Gewerkschaften und Opposition haben nahezu einhellig die diskursive Strategie Systemrelevanz mitgeprägt und mitgetragen. Zwar gab es unterschiedliche Vorstellungen von Systemrele-vanz, aber an der grundsätzlichen Stoßrichtung – Banken müssen im Interesse aller gerettet werden – wurde so gut wie gar nicht gerüttelt. Es gab den recht breiten Konsens, dass die Krise der deutschen Finanzwirtschaft erst mit dem Fall von Lehman Brothers richtig losgegangen sei. Dabei hatten die deutschen Banken bereits vorher massive Probleme aufgrund von Fehlspekulationen – die IKB war gar eine der ersten Pleitebanken der gesamten Finanzkrise. Viel war die Rede davon, dass die Banken, vor allem die HRE, eigentlich gesund seien und lediglich ein Liquiditätsproblem hätten, also sich aufgrund der schlechten Marktbedingungen nicht mehr refinanzieren könnten. Allerdings wurden 2010 allein im Fall der HRE minderwertige Wertpapiere im Nominalwert von 175 Milliarden Euro auf die staatliche »Bad Bank« FMS-Wertmanagem ent übertragen, darunter über 40 Milliarden Euro an besonders riskanten und ausfallträchtigen strukturierten Immobilienpapieren und Derivaten. Das steht im krassen Gegensatz zum Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses zur Finanzkrise, wonach sich die HRE überhaupt nicht mit US-Immobilien verspekuliert habe. Die Schuldigen der Krise wurden stets in den USA verortet, während die deutschen Banken eher als Opfer gesehen wurden – so lässt sich natürlich leichter der Einsatz von Hunderten Milliarden Euro Steuergeldern für die Finanzwirtschaft rechtfertigen.

Wie wäre die Krise verlaufen, hätte es diese Sozialisierung der Schulden nicht gegeben?

Das ist natürlich eine hypothetische Frage. Aber wahrscheinlich hätten gerade große Kapitalien, die am meisten vom vorherigen Boom der Börsen und Immobilien profitiert hatten, deutlichere Verluste tragen müssen. Diese eigentlich anstehende Entwertung wurde durch die Staatsinterventionen und die damit verbundene Sozialisierung von Verlusten gemildert und teilweise auch ganz verhindert. Gut möglich, dass die Krise sich verschärft und noch stärker von der Finanz- auf die restliche Wirtschaft übergegriffen hätte. Letztendlich hat man die Finanzkrise in eine Schuldenkrise der öffentlichen Haushalte transformiert.

Durch die Auftürmung fiktiven Kapitals in Folge der »Politik des billigen Geldes« seitens der Notenbanken ist die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems sicherlich noch größer geworden. Gleichzeitig sind die Raten der Staatsverschuldung in fast allen Staaten exorbitant gestiegen und damit die Handlungsoptionen für diese gesunken. Ist es vorstellbar, dass sich das Szenario der Bankenrettungen beim nächsten Einbruch wiederholt?

Mit den Anleiheaufkäufen und der Nullzinspolitik der Notenbanken hat sich die Lage verglichen mit den 2000er Jahren noch mal deutlich verschärft. Zugleich nimmt unsere Abhängigkeit vom Finanzmarkt weiter zu, indem man etwa Rentensysteme kapitalmarktbasiert gestaltet oder Autobahnen privatisiert. Den Staaten bleibt eigentlich kaum etwas anderes übrig, als für das Wohlergehen der Märkte, wie es immer so schön heißt, zu sorgen. Im Euroraum hat man nach der Finanzkrise mit der Europäischen Bankenunion eine vergemeinschaftete Regelung geschaffen, die staatliche Bankenrettungen erschweren bis verhindern und stattdessen Kreditgeber und Eigentümer belasten soll – Bail-in statt Bail-out. Aber in Italien wurden seit Ende 2016 dennoch drei Banken mit öffentlichen Mitteln gerettet. Für die Stabilisierung der Finanzmärkte, was in erster Linie die Sicherung akkumulierter Vermögen bedeutet, wird also auch trotz Schuldenbremsen und hoher Staatsverschuldung wahrscheinlich immer Geld da sein, auch wenn man versucht, wieder etwas mehr Marktdisziplin durchzusetzen.

Die Rettungen hätten zudem die soziale Ungleichheit verfestigt, schreiben Sie. Welche Folgen meinen Sie damit konkret?

Auch wenn die allermeisten Menschen auf irgendeine Art und Weise auf Banken und deren Dienstleistungen angewiesen sind, stand für Investoren und Vermögende in der Finanzkrise viel mehr auf Spiel. Nahezu die Hälfte der Menschen in Deutschland hat kein nennenswertes Vermögen, das konnte also gar nicht direkt gerettet werden. Dagegen wurden die mittleren und großen Kapitalvermögen vor für sie tragbaren Verlusten geschützt. Die Kosten für die Bankenrettungen werden allerdings auf alle umgelegt, das Geld fehlt den öffentlichen Haushalten. Gespart wird dann am ehesten bei den Sozialleistungen, auf die wiederum am meisten die ärmeren Schichten angewiesen sind. So hat man etwa 2010 den gerade eingeführten Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger wieder gestrichen, während man zeitgleich 175 Milliarden Euro private Risiken in der staatlichen Abwicklungsanstalt sozialisiert hat. Die Bankenrettungen haben also die soziale Ungleichheit weiter verschärft und die Vermögensverteilung noch ungerechter gestaltet.

In diesem Zusammenhang fordern Sie eine »gegenhegemoniale Erzählung«, die die »Neubesetzung von Systemrelevanz in einer kritischen Weise zugunsten einer emanzipierten Gesellschaft frei von Diskriminierung und Mangel« zur Grundlage haben müsste. Wie könnte eine solche Erzählung aussehen?

Es braucht zunächst einmal eine Kritik der Systemrelevanz in der gegenwärtigen Form. Hinter dieser Argumentationsfigur steckt ein Konzept, mit dem partikulare Interessen unter dem Deckmantel der Betroffenheit aller durchgesetzt werden – im Fall der Bankenrettungen die Sozialisierung privater Verluste, im Fall des Diesel-Skandals die Verschonung der Autokonzerne, da angeblich sonst Arbeitsplätze und das Bruttoinlandsprodukt gefährdet wären. Eine fortschrittliche Gesellschaft könnte nun statt Finanzmarktprosperität, Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätzen etwa die Abwesenheit von Armut oder den Schutz vor giftigen Abgasen als (system-)relevant setzen. Für die Bankenrettungen im Herbst 2008 wurden innerhalb von nur zwei Wochen 480 Milliarden Euro, das 1,6-Fache des damaligen Bundeshaushalts, mobilisiert – während viele deutlich sinnvollere und sozialere Projekte an der Finanzierung scheitern. Das hat allerdings etwas mit der strukturellen Selektivität des Staates im kapitalistischen System zu tun und wird leider ohne eine grundlegende Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse oder am besten gleich die Abschaffung des Kapitalismus nicht zu ändern sein.

Foto: Karsten11 / CC0

Das Interview führte:

Axel Berger

Historiker

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