Wirtschaft
anders denken.

Wer, was, wohin? Der OXI-Überblick zur Regierungsbildung

15.01.2018
Pexels / Pixabay

Die Sondierung zwischen CDU, CSU und SPD ist gelaufen, die drei Parteien streiten untereinander über Lesarten und den Spielraum, in dem in möglichen Koalitionsverhandlungen noch Veränderungen möglich sein sollen. Zunächst aber steht bei den Sozialdemokraten ein Parteitag an, bis dahin ist die politische Berliner Luft voll von Einschätzungen und Analysen.

In unserem OXI-Überblick zur Regierungsbildung finden Sie hier die wichtigsten Stellungnahmen, Dokumente und Hinweise. Die Übersicht wird laufend ergänzt. Hinweise bitte an kontakt@oxiblog.de. Stand: 16. Januar 2018.


NEU: Ökonomen sehen Soli-Abschaffung »mit großer Sorge«

18 Wirtschaftswissenschaftler um den Chef des gewerkschaftsnahen Instituts IMK, Gustav Horn, und die Hochschulprofessoren Tom Krebs und Sebastian Dullien haben sich mit einem Appell gegen die mögliche Abschaffung des Solidaritätszuschlags gewandt. Die vorläufigen Pläne von Union und SPD gingen »in eine falsche Richtung«, zitiert der »Spiegel« aus dem Papier – jedenfalls solange nicht auch ein »Bekenntnis zu einer Gegenfinanzierung durch höhere Steuersätze für Spitzeneinkommen« abgegeben werde.

Es gibt im Wesentlichen drei Argumente: Eine Soli-Abschaffung würde dringend für öffentliche Investitionen benötigte finanzielle Spielräume zunichte machen. Eine Abschaffung des Soli käme weit stärker besser Verdienenden zugute: »Ein Durchschnittshaushalt wird durch Abschaffung des Solis um etwa 5 Euro pro Monat entlastet, die reichsten Haushalte um Tausende Euros.« Daran ändere auch die geplante Freigrenze nur teilweise etwas, oberhalb der dennoch vorerst weiter Soli anfällt. Die steuerliche Solidarität von Spitzenverdienern würde »auf einem historischen Tiefpunkt« liegen, es gebe daher auch »keinen Grund, warum Spitzenverdiener weiter entlastet werden sollten«.

Alternativ fordern die Ökonomen, zur Entlastung unterer und mittlerer Einkommen durch Änderungen am Einkommensteuertarif anzustreben. Dies hätten CDU und SPD auch im Wahlkampf gefordert. Die Wirtschaftswissenschaftler betonen laut »Spiegel« in dem Aufruf, dieser sei weder für noch gegen eine Neuauflage der Großen Koalition gerichtet.

Der Soli wird in der aktuellen Form seit 1995 auf Einkommen aus Arbeit und Kapitalerträgen sowie auf die Körperschaftsteuer und seit 2009 auf die Abgeltungssteuer erhoben. Der Soli beträgt derzeit 5,5 Prozent und kommt allein dem Bund zugute. Die Nachrichtenagentur dpa schreibt, »zuletzt stiegen die Einnahmen kontinuierlich. Angesichts der Rekordbeschäftigung sollen sie dem Fiskus 2018 nach Prognosen des Finanzministeriums 18,2 Milliarden Euro bringen.«


NEU: Was wichtige Verbände zum Sondierungsergebnis sagen

Zugegeben, es ist kaum möglich, einen kompletten Überblick über die vorliegenden Stellungnahmen der wichtigen Fachverbände zum Sondierungsergebnis vorzulegen. Das liegt daran, dass es von Medico bis zu den Pflegedirektoren, vom NABU bis zum Juristinnenbund einfach so viele Interessenvertretungen für Berufsgruppen, politische Themen und gesellschaftliche Anliegen gibt. Wir tragen hier aber eine Auswahl zusammen, die immerhin zu illustrieren vermag, wie groß die Skepsis ganz unterschiedlicher Verbände ist, was die vorläufigen Verabredungen von CDU, CSU und SPD angeht. Wobei Skepsis teilweise noch sehr zurückhaltend formuliert ist.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat die Sondierungsergebinsse »sozialpolitisch unambitioniert und flüchtlingspolitisch inakzeptabel« genannt. Viele wichtige Themen würden »zwar angesprochen, sind aber genau wie im letzten Koalitionsvertrag der Großen Koalition entweder nur unter Finanzierungsvorbehalt oder von vorneherein unterfinanziert. Das Versprechen der Verhandlungspartner, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, kann so nicht eingelöst werden. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich die Spaltung durch die skizzierten Maßnahmen noch verschärft.« Eine ausführlichere Kritik zu einzelnen Themenfeldern findet sich hier.

Medico International bewertet die Ergebnisse der Sondierungsgespräche als »fatales Signal« – ein notwendiger Politikwechsel »für mehr Humanität und globale Gerechtigkeit sei nicht zu erkennen«. Die Entwicklungspolitik würde weiter den Sicherheits- und Handelsinteressen untergeordnet werden. Bekenntnisse zu den Menschenrechten seien bestenfalls in leeren Floskeln zu finden, die den konkret vereinbarten Maßnahmen widersprechen. „Die GroKo setzt klar auf Abschottung statt Ausgleich. Echte Fluchtursachenbekämpfung sieht anders aus“, so Ramona Lenz von Medico.

Der Verband der Pflegedirektorinnen und Pflegedirektorender Universitätskliniken und Medizinischen Hochschulen Deutschlands reagierte »enttäuscht« auf die Vereinbarungen von Union und SPD. Es werde darin zwar bessere Arbeitsbedingungen und die Entlastung von Pflegenden erwähnt. Das Ergebnis bewertet der Verband »jedoch kritisch«, vor allem wegen der starken Zweifel, »dass die von CDU, CSU und SPD angekündigten Maßnahmen die Situation der beruflich Pflegenden verbessern«, wie es Verbandschef Torsten Rantzsch formuliert. Der angekündigte Stellenaufbau um 8.000 neue Fachkraftstellen sei »Lichtjahre davon entfernt, den tatsächlichen – und allseits bekannten – Bedarf an zusätzlichen Pflegefachkräften in den Pflegeheimen und Krankenhäusern zu decken«. Gebraucht würden derzeit 50.000 bis 70.000 Fachkräfte. »Die Diskrepanz zwischen Problem und Lösungsansatz ist erschreckend.«

Die Organisation Lobbycontrol sieht »eine große Leerstelle« in dem Sondierungspapier beim Thema Lobbyregulierung klaffen – dies komme »darin überhaupt nicht vor«. Dies sei schon deshalb fragwürdig, da die Union der Einführung eines verpflichtenden Lobbyregisters während der Jamaika-Gespräche bereits zugestimmt hatte, auch die SPD fordert ein solches Register. »Moment mal: Alle wollen ein Lobbyregister – beschließen es aber nicht?« Die neue Große Koalition drohe nun hinter den Verhandlungsstand von Jamaika zurückzufallen. Ohne ein verpflichtendes Lobbyregister könne man auch nicht »das Vertrauen in die Demokratie und unsere staatlichen Institutionen stärken«, wie es im Sondierungspapier heißt.

Die Organisation Pro Asyl kritisierte, »die sich anbahnende Große Koalition geht zu Lasten von Flüchtlingen«. Das Sondierungsergebnis enthalte »etliche neuerliche Verschärfungen im Asylbereich« – von der Obergrenze über die Isolierung von Schutzsuchenden in zentralen Lagern bis zur weitgehenden Aussetzung des Familiennachzugs. »Das dahinterstehende Bild ist unsäglich und als Ergebnis einer hochrangigen Verhandlungsdelegation zynisch und beschämend«, heißt es bei Pro Asyl.

Der Juristinnenbund kommentierte die Sondierungsergebnisse als »enttäuschend«. Präsidentin Maria Wersig erklärte, »wenn es in etwaigen Koalitionsverhandlungen bei den angerissenen Themen der Sondierung bleibt, bedeutet das gleichstellungspolitischen Stillstand in Deutschland. Frauen- und Gleichstellungspolitik wird offenkundig nicht als Querschnittsaufgabe verstanden, sondern in einem kurzen, wenig innovativen Abschnitt ausgerechnet unter der Überschrift ›Familie, Frauen und Kinder‹ abgehandelt.« Deutschland bleibe ohne weitere legislative Maßnahmen im europäischen Vergleich weiterhin »allenfalls im Mittelfeld, was die Gleichstellung von Frauen und Männern angeht«.

Der Verband NABU kritisierte die vorläufigen Vereinbarungen in der Naturschutz- und Umweltpolitik und verlangte »erhebliche« Nachbesserungen. So sei »unklar, wo es in der EU-Agrarpolitik hingehen soll und wie das Klimaziel 2020 erreicht werden soll«. Ein Kohleausstieg müsse festgeschrieben werden. Auch angesichts des dramatischen Insektensterbens, des alarmierenden Artenschwundes und der hohen Nitratbelastung von Böden und Trinkwasser durch die intensive Landwirtschaft brauche es endlich einen echten Kurswechsel. Das Bekenntnis der GroKo-Unterhändler zu einem Aktionsprogramm Insektenschutz sei für den Naturschutz zwar ein gutes Signal – dieses gehe aber zulasten wichtiger anderer Themen, die in dem Sondierungspapier fehlten, etwa »Impulse und Bekenntnisse zu einer besseren und nachhaltigeren Meeres- und Fischereipolitik«.

Der Studentischer Dachverband fzs sieht in den Sondierungsergebnissen weder einen Fortschritt für den Bildungsbereich noch für die Gesellschaft. »Insgesamt ist das Sondierungspapier, insbesondere im Bildungsbereich, zu unkonkret. An vielen Stellen werden nur scheinbar Kompromisse gefunden, in Wirklichkeit wird die tatsächliche Kontroverse nur vertagt, verschleppt oder ausgelagert.« So bleibe unklar, wann und wie die Erhöhung des BAföGs kommen solle. Auch die Einrichtung eines nationalen Bildungsrat wirke wie eine Aufschiebestrategie von Problemen. Hinzu komme: »Die verkündeten Fortschritte für das Kooperationsverbot sind in den Sondierungsergebnissen nicht zu finden.«

Der Sozialverband VdK begrüßte die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenkassenbeiträge. »Endlich wird die einseitige Belastung der Versicherten beendet und die gesetzliche Krankenversicherung wieder solidarisch finanziert«, so Präsidentin Ulrike Mascher. Auch die Festschreibung des Rentenniveaus bei 48 Prozent bis 2025 sei eine gute Nachricht. Ausreichen werde ein solcher Schritt aber keineswegs: »Die Rentenversicherung muss nach langjähriger Erwerbstätigkeit ein angemessenes Leistungsniveau sicherstellen. Dafür müssen die Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel dauerhaft gestrichen und das Rentenniveau mittelfristig wieder auf 50 Prozent erhöht werden«, so die VdK-Chefin. Sie äußerte sich grundsätzlich auch positiv zur Mütterrente. Doch auch hier folgt das Aber sogleich: »Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass diese Neuregelung nur für Mütter gelten soll, die drei oder mehr Kinder zur Welt gebracht haben.« Zudem dürfe die Mütterrente »nicht wie bisher vollständig auf die Grundsicherung angerechnet werden«. Die geplante Einführung der Grundrente stößt in dieser Form beim VdK auf Kritik. »Die Zugangsvoraussetzungen sind aus unserer Sicht fern der Lebenswirklichkeit. 35 Jahre Versicherungszeit sind von vielen Menschen, vor allem Frauen, nicht erreichbar. Auch dürfen Langzeitarbeitslose und Erwerbsminderungsrentner nicht ausgeschlossen sein.«

Der Frauenrat erklärte, die Sondierungsergebnisse gehen in Sachen Gleichstellungspolitik »in die richtige Richtung«. »Aber beispielsweise beim Ehegattensplitting, Familiennachzug sowie beim Gewaltschutz besteht ein erheblicher Verbesserungsbedarf«, so die Vorsitzende Mona Küppers. Der Frauenrat forderte von einer zukünftigen Bundesregierung zudem »ein klares Bekenntnis zu Gewaltfreiheit und Antisexismus in Deutschland. Deshalb sollten die Verhandlungsführenden die vollständige Umsetzung der Istanbul-Konvention vereinbaren«, hierbei gehe es vor allem um die Einrichtung einer Koordinierungs- und unabhängigen Monitoringstelle.

Der Umweltverband BUND sprach von einem »mutlosen Auftakt«: Zu schwach und zu unkonkret, so könne man zusammenfassen, was die Verhandler von Union und SPD in Sachen Umweltpolitik beschlossen haben, sagte BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. Er hofft auf die SPD, die bei ihrem Parteitag am Sonntag »die Beschlüsse zum Klimaschutz, zur Vertagung des Kohleausstieges, zum Umgang mit dem Dieselskandal und mit dem Unkrautvernichter Glyphosat sowie zur Tierhaltung wesentlich nachzubessern« müssten. Werde der Sondierungsbeschluss jedoch »so durchgewinkt, dann wird die SPD kaum für mehr Gerechtigkeit sorgen, deren Fundament eben auch eine gesunde, lebenswerte Umwelt ist. Es droht umweltpolitischer Stillstand«.


Aktualisiert: Wie ist der Stand der Debatte in der SPD?

Die SPD kommt am Sonntag in Bonn zu einem Sonderparteitag zusammen, dort sollen 600 Delegierte und der 45-köpfige SPD-Vorstand dann drüber abstimmen, ob die Sozialdemokraten in Koalitionsverhandlungen mit der Union einsteigen oder nicht. Bis dahin werben Kritiker und Befürworter eines Großen Koalition um Mehrheiten. Jeder auf seine Weise: Fraktionschefin Andrea Nahles teilte gegen die Kritiker aus, diese würden das mühsam erzielte Sondierungsergebnis »mutwillig« schlechtreden. SPD-Vize Ralf Stegner pocht bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf, dass es sich nur um eine »Basis« für Koalitionsverhandlungen handele, die entsprechend noch nachgebessert werden könnte.

Juso-Chef Kevin Kühnert hat darauf hingewiesen, dass »viele – und zwar nicht nur bei den Jusos« unzufrieden mit dem Sondierungspapier seien. Die Deutsche Presse-Agentur zitiert ihn mit den Worten: »Die Stimmung in der SPD ist sehr kontrovers.« Wie unsicher die Lage in der SPD ist, mag eine Äußerung des Vorsitzenden Martin Schulz verdeutlichen, der die Befürworter von Koalitionsverhandlungen aufforderte, sich lauter in der innerparteilichen Diskussion zu Wort zu melden. Offenbar haben führende Sozialdemokraten Sorge, der Parteitag könne mit Nein votieren, was recht umfangreiche Folgen für die SPD haben dürfte, auch was das Spitzenpersonal angeht.

Wer ist dafür, wer ist dagegen?

Der »Spiegel« hat den letzten Stand der Jamaika-Sondierungen mit den GroKo-Gesprächsergebnissen verglichen. Tenor: Die Bilanz falle »ernüchternd« aus. »Denn die Liste der Vorhaben, die bereits die Grünen der Union abgetrotzt haben und die sich nun im Sondierungspapier wiederfinden, ist sehr lang.« Vieles war bereits bei Jamaika genau so verhandelt, manches wurde bei der GroKo-Sondierung lediglich konkretisiert. Unter dem Strich werden hier nur sechs Punkte als »echte SPD-Erfolge« aufgezählt: das Recht auf Weiterbildungsberatung, die Rückkehr zur Parität in der Krankenversicherung, die Erhöhung der bisher niedrigen Krankenkassenbeiträge, die für Hartz-IV-Empfänger gezahlt werden, die Senkung oder Abschaffung der Kita-Beiträge, Mindestvorgaben für Personal in allen Krankenhaus-Abteilungen sowie einige Detailverbesserungen beim Bildungspaket für Hartz-IV-Kinder. Damit nicht genug: »Auf der anderen Seite fehlen im Sondierungspapier sogar Punkte, die Jamaika wollte – zum Beispiel, dass die Mütterrente nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet werden sollte und so auch armen Rentnerinnen zugutekommen wäre.«

SPD-Kommunalpolitiker haben in einem am Mittwoch, 17. Januar, bekannt gewordenen Appell für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU geworben. »Am Ende muss der Entwurf eines Koalitionsvertrages entscheidend dafür sein, ob die SPD eine Koalition mit den Unionsparteien eingeht«, wird aus der Erklärung zitiert. »Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche dürfen für die SPD kein Grund sein, keine Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU aufzunehmen.« Mitgetragen wird sie von den Oberbürgermeistern Frank Baranowski (Gelsenkirchen), Charlotte Britz (Saarbrücken), Pit Clausen (Bielefeld), Michael Ebling (Mainz), Thomas Geisel (Düsseldorf), Burkhard Jung (Leipzig), Ulf Kämpfer (Kiel), Peter Kurz (Mannheim), Ulrich Maly (Nürnberg), Frank Mentrup (Karlsruhe), Dieter Reiter (München) und Stefan Schostok (Hannover).

Der konservative »Seeheimer Kreis« in der SPD befürchtet, ein Votum des Parteitags in Bonn gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen könne böse Folgen haben: »Wenn sich die SPD am Sonntag doch noch einer GroKo verweigern sollte, riskiert sie bei Neuwahlen einen Absturz auf 15 bis 16 Prozent«, wird Edgar Franke im »Focus« zitiert. Seine Prognose, die Partei würde sich davon »langfristig nicht erholen«. Dies ist freilich genau das Argument, das umgekehrt auch die Gegner einer Großen Koalition geltend machen. In dem einen Fall läuft das Argument darauf hinaus, dass die Wähler der SPD den Gang in die Opposition vorwerfen würden, in dem anderen, dass sie es tun, weil die SPD trotz schlechter Aussichten auf die Umsetzung eigener Ziele in die Regierung geht.

Der Landesvorstand der Hamburger SPD hat laut Berichten am Dienstagabend, 16. Januar, »einvernehmlich die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, CDU und CSU« empfohlen.

Am Montagabend, 15. Januar, hat sich der Landesvorstand der Berliner SPD mit 21 zu 8 Stimmen gegen Verhandlungen über eine Neuauflage der Großen Koalition ausgesprochen.

In Brandenburg votierte der Landesvorstand am Montagabend, 15. Januar, mit neun zu zwei Stimmen für die Verhandlungen zur Neuauflage einer Großen Koalition.

Am Samstag, 13. Januar, votierte der SPD-Landesparteitag in Sachsen-Anhalt in Wernigerode knapp mit 52 zu 51 Stimmen für einen von den Jusos und anderen  eingebrachten Antrag gegen die Bildung einer Großen Koalition auf Bundesebene und für »alternative Lösungen«, wobei Neuwahlen die »letzte Option« sein sollen.

In Niedersachsen stimmte der Parteivorstand am Sonntag, 14. Januar, ohne Gegenstimme bei drei Enthaltungen für Verhandlungen mit der Union.

Der SPD-Bundesvorstand hatte sich am 12. Januar unmittelbar nach Abschluss der Sondierungsgespräche in Berlin mit deutlicher Mehrheit für Koalitionsverhandlungen mit der Union ausgesprochen – von über 40 anwesenden Mitgliedern des Spitzengremiums votierten sechs dagegen.

In der SPD-Bundestagsfraktion werden die Ergebnisse der Sondierung laut der Vorsitzenden Nahles »breit unterstützt«. Die Abgeordneten hatten sich ebenfalls am 12. Januar mit dem Ausgang der vorläufigen Gespräche befasst.

Bereits am 16. Dezember hatte ein Landesparteitag der SPD in Thüringen unmittelbar nach dem Beschluss des Bundesvorstands der Partei zur Aufnahme von Sondierungsgesprächen mit der Union gegen die Neuauflage einer Große Koalition votiert. Die Delegierten billigten einen Antrag der Jusos.

Auf dem Parteitag sind 600 Delegierte stimmberechtigt. Hinzu kommen die 45 Vorstandsmitglieder, sofern sie nicht ohnehin schon Delegierte sind. Niemand ist hier an vorherige Beschlüsse von Landesparteitagen oder regionalen Vorständen gebunden. Die Abstimmung am Sonntag wird in öffentlicher Wahl mit Stimmkarten erfolgen. Die Deutsche Presse-Agentur schätzt, dass 60 bis 90 Delegierte den Jusos angehören, die Unsicherheit kommt daher, dass nicht jeder unter 35 automatisch im Jugendverband Mitglied ist. Auch ist die unterschiedliche Kraft von Landesverbänden auf dem Parteitag zu beachten. Der mit Abstand größte Landesverband ist NRW mit 144 Delegierten; die wenigsten Delegierten – nämlich 5 – kommen aus Mecklenburg-Vorpommern.

Nordrhein-Westfalen: 144
Niedersachsen: 81
Bayern: 78
Hessen: 72
Rheinland-Pfalz: 49
Baden-Württemberg: 47
Saarland: 24
Schleswig-Holstein: 24
Berlin: 23
Hamburg: 15
Brandenburg: 10
Bremen: 8
Sachsen-Anhalt: 6
Thüringen: 7
Sachsen: 7
Mecklenburg-Vorpommern: 5


Was wurde bisher vereinbart?

Die finale Fassung des Sondierungsergebnisses findet sich hier. Sie unterscheidet sich in kleinen aber wichtigen Punkten von einer am Morgen des Tages der Einigung bereits kursierende erste Fassung. Dies hat SPD-Vize Ralf Stegner beklagt – CSU-Unterhändler sollen versucht haben, »der SPD nicht abgesprochene Textpassagen unterzujubeln«. Aus Bayern wurden die Vorwürfe zurückgewiesen: CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer wurde mit den Worten zitiert, »Martin Schulz kam nachträglich mit mehreren Änderungen – der einen haben wir nachgegeben.« Eine englische Übersetzung des Europateils des Sondierungspapiers findet sich hier.

Ebenfalls am 12. Januar war in der SPD eine Positivliste herumgereicht worden. Die Sozialdemokraten würden für sich beanspruchen, »in den Sondierungen mit der Union 60 inhaltliche Punkte aus dem SPD-Parteitagsbeschluss durchgesetzt zu haben«, hieß es in Medienberichten. Darüber hinaus werden in dem Papier 19 weitere Punkte als Erfolge für die SPD aufgelistet. Eine weit kürzere Liste der »Erfolge« hat die SPD inzwischen auf ihrer Website veröffentlicht.

Zum Vergleich der Ergebnisse von CDU, CSU und SPD kann das Ergebnis der Jamaika-Sondierungsgespräche hilfreich sein. Die Verhandlungen von CDU, CSU, FDP und Grünen  waren in der Nacht zum 20. November 2017 geplatzt, nachdem die Freidemokraten die Gespräche als gescheitert hingestellt hatte.


Was hört man aus dem DGB?

Inzwischen vor allem Äußerungen, die wie Appelle in Richtung der SPD-Basis klingen – oder gern auch von Parteipolitikern als solche weiterverbreitet werden. Die Medien geben die Positionen bisweilen auch so wieder. Vor den Bundestagswahlen war das traditionelle Band zwischen Partei und Gewerkschaften gern betont worden, selbstverständlich im Rahmen der überparteilichen Selbstsicht im DGB. Die Hoffnungen auf einen Politikwechsel dürften freilich größer gewesen sein, wobei man die einzelnen Organisationen nicht in einen Topf werfen kann. In Sachen Energiepolitik vertritt die IG BCE eher konservative Positionen, ver.di gilt wie die NGG eher links stehend. Das drückt sich auch in den Äußerungen zum Sondierungsergebnis aus.

Der DGB hatte in einer ersten »Bewertung der Sondierungsergebnisse« noch am Tag des Abschlusses der Gespräche zwar »Substanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer« entdeckt. Man machte dabei vor allem auf »die Stabilisierung der Rente, die Wiederherstellung der Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung, die Stärkung von Bildung und die Verbesserung der Pflege« aufmerksam. »Auch die Vorschläge für ein solidarisches und soziales Europa sind ein wichtiger Schritt.« Der Unterschied zu einer möglichen Jamaika-Koalition wird überdies zum Hauptargument: »Im Vergleich«, so der DGB-Chef Reiner Hoffmann, sei das Sondierungsergebnis von Union und SPD »in der Summe besser als das, was wir mit Jamaika jemals erreicht hätten«. In Koalitionsverhandlungen müsse es jedoch »bei erkennbaren Schwachpunkten Verbesserungen geben« – dies wurde zunächst allerdings nur bezogen auf »die Herausforderungen der digitalen Transformation«, wobei es dem DGB vor allem um »eine stärkere Akzentuierung von Zukunftsinvestitionen mit einer soliden Finanzierung, und die Förderung von sicherer Arbeit und Tarifbindung« geht.

Von vor der Wahl seitens des DGB geäußerten Forderungen, etwa in Sachen Hartz IV, findet sich nach der Sondierung aber nichts im Papier der Parteien. DGB-Vorstand Annelie Buntenbach erklärte inzwischendenn auch, »es gibt noch viel zu tun – und einige Kernforderungen der Gewerkschaften wurden nicht erfüllt, kritisiert«. Buntenbach verweist auf uneingelöste Ziele etwa die Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen. Mehr Konkretes wünschte man sich beim DGB auch in Sachen Stärkung der Tarifbindung und Mitsprache bei der Arbeitszeit. Mit Blick auf die Pläne zur Förderung von Langzeitarbeitslosen heißt es, »ein neues Regelinstrument zur Teilhabe am Arbeitsmarkt begrüßen wir. Wir fordern schon lange öffentlich geförderte Beschäftigung für Langzeitarbeitslose zu vernünftig abgesicherten Bedingungen. Dafür muß aber auch genügend Geld zur Verfügung gestellt werden«. Dies sei bisher aber im Sondierungsergebnis nicht abgesichert.

Kritisch äußerte sich auch die Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten NGG, Michaela Rosenberger. Zwar sieht auch sie »begrüßenswerte Punkte«; vor allem aber mit Blick auf den Arbeitsmarkt jedoch nachgebessert werden: »Es fehle ein klares Bekenntnis zum Arbeitszeitgesetz und zum Mindestlohngesetz«, so die Gewerkschafterin. Zudem machen Formulierungen des Papiers, etwa zu den »Wünschen« zur Arbeitszeitgestaltung Sorgen, dass damit der Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit Tür und Tor geöffnet werde. Hinzu kommen Befürchtungen, dass die Dokumentationspflichten im Mindestlohngesetz und die Sanktionen bei Nichterfüllung dem im Sondierungspapier aufgeführten »Bürokratieabbau« oder der »Verringerung der Statistikpflichten« zum Opfer fallen. Wie Buntenbach meint auch Rosenberger, die geplante Ausweitung der Midi-Jobs müsse Sorgen machen. »Gerade für Frauen, die überwiegend in Mini- und in Midi-Jobs arbeiten, wäre damit der weitere Weg in die Altersarmut vorgezeichnet.«

Bei der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) findet man »in den Ergebnissen der Sondierungen von Union und SPD einen spürbaren Fortschritt für die Arbeitnehmerschaft«. Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis erklärte, »das Sondierungspapier birgt elementare Verbesserungen für die Beschäftigten und die soziale Gerechtigkeit«. Genannt werden dann unter anderem »die Pläne zur Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent, zur Schaffung eines Rechts auf befristete Teilzeit oder zur Rückkehr zu einer paritätisch finanzierten Krankenversicherung«. Typisch für die Gewerkschaft ist der Fokus auf einen »Realismus in der Industrie- und Energiepolitik«, dem hätten sich die Sondierer angenähert. Vassiliadis sieht dies unter anderem in dem Vorhaben bestätigt, »Forschungs- und Investitionsprojekte stärker zu fördern und den Umbau der Energieversorgung sozial verantwortlich zu gestalten«. Dies kann als Lob für die im Vergleich zum Jamaika-Papier reduzierten klimapolitischen Zielsetzungen verstanden werden. Zu diesem Themenbereich hätte sich die IG BCE offenbar noch mehr Zugeständnisse gewünscht. »Gleichwohl bleibe das Sondierungspapier hier teils widersprüchlich, sagte Vassiliadis«, heißt es bei der Gewerkschaft.

Die unter dem Dach des DGB organisierte Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat vor allem begrüßt, »dass die innere Sicherheit in den Sondierungsgesprächen« einen wichtigen Stellenwert einnahm. Es komme nun »darauf an, dass die im Sondierungspapier angekündigte Personalverstärkung bei der Polizei neben dem Bund vor allem auch in den Ländern zeitnah umgesetzt wird«, so GdP-Chef Oliver Malchow. Es sei zwar »klar, dass Absichtserklärungen noch keine praktische Regierungsarbeit bedeuteten, jedoch haben die in den Sondierungsrunden gefundenen Kompromisse eine Chance verdient«.


Was sagt die Unternehmenslobby?

Wir machen es kurz: Es sei »auf dem Rücken der Arbeitgeber verhandelt« worden, heißt es da allen Ernstes bei den Familienunternehmern. Der Bundesverband der deutschen Industrie gibt sich noch am konziliantesten, beklagt aber auch, es sei bei der Sondierung »zu wenig über Wettbewerbsfähigkeit« gesprochen worden – üblicherweise eine Umschreibung für die Forderung nach besseren Profitbedingungen für die Unternehmen und ihre Eigentümer. Beim BDA sieht man eine »klare Schlagseite zur Umverteilung« in der vorläufigen Einigung – natürlich in die falsche Richtung. Und der Lobbyverein »Bund der Steuerzahler«, der vor allem die Interessen von Firmen und einigen Freiberuflern vertritt, rief bereits danach, in den Koalitionsverhandlungen zu definieren, »wo genau Einsparpotenzial besteht« – ja, es geht ihm darum, Haushaltskürzungen einzuleiten.


Fürs Kapital – oder die Arbeit? Kritische Analysen

Im finalen Sondierungspapier taucht natürlich das Thema Arbeit auf, die vorläufigen Vereinbarungen über »Soziales, Rente, Gesundheit und Pflege« haben auch schon erste Kommentierungen erfahren.

Der Koblenzer Arbeitsmarkt- und Sozialexperte Stefan Sell hat die betreffenden Passagen bereits sehr ausführlich analysiert. Weder tauche der Mindestlohn in dem Papier auf, so Sell, noch finde sich hinreichendes zur Stärkung der Tarifbindung. »Damit wird man eines der drängendsten Probleme in der lohnpolitischen Landschaft nun wirklich nicht angehen können, offensichtlich haben die Sozialdemokraten hier vor der Union schon im Vorfeld der eigentlichen Verhandlungen kapituliert«, heißt es. Und weiter: »Die Wirtschaftsverbände und Arbeitgeberfunktionäre können sich nach dem Studium der wenigen Vereinbarungen entspannen und zurücklehnen.« Die ganze Analyse zum Teil Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht findet sich hier.

Sell hat sich zudem die rentenpolitischen Vereinbarungen angesehen. Die Vereinbarung zur gesetzlichen Festschreibung des Rentenniveaus bei 48 Prozent bis 2025 nennt Sell »Rosstäuscherei«, da die bisherigen Prognosen schon davon ausgehen, »dass bis zum Jahr 2024 das Sicherungsniveau vor Steuern sowieso nicht unter die genannte Grenze von 48 Prozent fallen wird«. Eher kritisch fällt auch Sells Bilanz zur Grundrente, die ähnlich bereits 2013 vereinbart aber nie umgesetzt worden war, sowie zur Mütterrente aus. Unter dem Strich heißt es: »Ganz offensichtlich ist eine wirklich manifeste sozialpolitische Müdigkeit zu erkennen. Sozialpolitisch ist das Sondierungsergebnispapier hinsichtlich der Rentenfrage eher ein Trauerspiel. Als sozialpolitischen Erfolg kann man die vereinbarten Punkte im Themenfeld Rente in der Gesamtbetrachtung nun wirklich nicht verkaufen.«

Inzwischen gibt es noch einen dritten Analyse-Text von Sell, dieser befasst sich mit dem Themenfeld Gesundheitspolitik und Pflege aus dem Sondierungspapier.

Die Kollegen der Zeitschrift »Sozialismus« sind das Sondierungspapier auch schon durchgegangen. Ein Urteil dort in Kurzform: »Nichts gegen wachsende soziale Spaltung«. Das Kernproblem, die Zurückdrängung der sozialen Ungleichheit, werde kaum angegangen. Weder tauchten als wichtig erachtete Punkte wie eine deutliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, noch das Verbot der Mini-Jobs oder die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen in der Vereinbarung auf. Damit werde faktisch nichts getan, um »in der Primärverteilung die Kräfteverhältnisse zugunsten der Lohnabhängigen zu verbessern«. Hieraus aber würden sich erst wichtige Weichenstellungen sowohl für inklusives Wachstum als auch die Verringerung von Ungleichheit ergeben. »Insgesamt gibt es wenig Anzeichen für einen gesellschaftlichen Aufbruch und die Anstrengung zur Etablierung eines neuen sozialeren Gesellschaftsvertrages. Angesichts der vorliegenden Wirtschaftsentwicklung sind die verabredeten Haushaltsausgeben geradezu knauserig.«

Joachim Bischoff und Björn Radke sehen die Sondierungsergebnisse dabei nicht nur als eine Folge des hartnäckigen Widerstandes »der bürgerlichen Parteien«. Die Ergebnisse seien »auch deshalb bescheiden, weil die SPD keine überzeugende Konzeption zu einer sozialeren Gestaltung des Kapitalismus verfolgt hat.« Dafür liege ein Grund darin, dass die früher verbreitete sozialdemokratische Anerkennung der veränderten Strukturen des modernen Kapitalismus einst dazu geführt habe, »für eine nachhaltige Regulierung des Gesamtsystems zu kämpfen. Von der Analyse der Strukturen wie von diesem Anspruch« seien die meisten europäischen Sozialdemokratien weit entfernt.

In der jungen Welt attestiert Georg Fülberth dem Sondierungsergebnis, »eine neue Große Koalition wäre gut für Deutschland und schlecht für die SPD. Deutschland ist in diesem Fall erstens das Kapital und sind zweitens diejenigen, die vom Wohlergehen des Kapitals auch ein wenig abbekommen«. Es diene »dem Wohlergehen des Kapitals und der Oberklassen«, dass der Spitzensteuersatz nicht erhöht werden soll. Andere Punkte wie die »Grundrente für Niedrigverdiener(innen), Erhöhung des Kindergelds, Rückkehr zur paritätischen Einzahlung in die Krankenversicherung und der Beschluss, dass bis 2025 das miese Rentenniveau von 48 Prozent nicht unterschritten werden darf – das soll die Zustimmung von Parteitag und Basis der SPD sichern.« Fülberth ist erkennbar skeptisch, was eine GroKo-Neuauflage angeht. »Andererseits: Kippen Parteitag oder Basis der SPD das Arrangement, kommt es zu Neuwahlen, mit großer Sicherheit zu einem weiteren Einbruch der Sozialdemokratie und einem zusätzlichen Aufwuchs der AfD. Vielleicht gibt es sogar ein solches Kalkül im Scharfmacher-Sektor des Kapitals. Dieser Erpressung wird sich letztlich kaum eine Genossin oder ein Genosse entziehen wollen, zumal dann auch die sozialpolitischen Sondierungsergebnisse futsch wären.« Fülberth schließt seinen Kommentar mit einem schönen Bonmot: Martin Schulz denke »jetzt vielleicht an Honecker im August 1989: Der konnte auch nichts mehr falsch machen, weil er keine Gelegenheit mehr hatte, etwas richtig zu machen«.

Der frühere Finanzstaatssekretär Heiner Flassbeck hat auf dem Portal »Makroskop« das Fehlen von »fünf zentralen Punkten« beklagt, die er dort zuvor »der SPD für eine grundlegende Erneuerung mit auf den Weg gegeben« hatte. Dabei hatte Flassbeck »fünf entscheidende Kriterien« genannt, »die für gute und rationale Politik stehen«: die Bekämpfung der Euro-Krise und des Handelsbilanzungleichgewichts, die Bekämpfung der Ungleichheit und der Armut, eine rationale und ehrliche Klimapolitik, Finanz- und Geldpolitik sowie Rentenpolitik. »Bei allen diesen Punkten muss man im Sondierungspapier mehr oder weniger Fehlanzeige konstatieren.« Die vergleichsweise »breite Diskussion über Ungleichheit und die Armut in einem reichen Land hätte der entscheidende Ansatzpunkt für eine sozialdemokratische Handschrift sein müssen. Herausgekommen ist so gut wie nichts«, so Flassbeck.

Grundsätzlich wird auch Ingo Schmidt in der »Sozialistischen Zeitung«. Mit Blick auf die Sondierungen heißt es da, die beteiligten Parteien seien sich »im Grundsatz einig: Akkumulation über alles. Damit sind Reformen heutzutage so gut wie ausgeschlossen. Sozialdemokratische Parteien sind zur permanenten Selbstverleugnung verdammt. Sie dürfen aber an der Suche nach den effizientesten Wegen zur politischen Profitförderung teilnehmen.« Unter dem Druck der Konkurrenz werde »weiter rationalisiert, wird der Kampf um Arbeitsplätze härter. Finanzkrisen, die eingebildete Renditen vorübergehend auf ein realistisches Maß zurückstutzen, dienen als Hebel zur weiteren Entwertung der Arbeitskraft und Privatisierung öffentlichen Eigentums.«


Profitiert die SPD von der »Stärke der Schwäche«?

Der Mannheimer Politikwissenschaftler Marc Debus hat die Ergebnisse der Sondierungen von Jamaika und einer möglichen neuen GroKo untersucht – und kommt zu dem Schluss, die Sozialdemokraten hätten »durchaus erfolgreich Position bezogen und die mögliche künftige Regierung gegenüber den Jamaika-Verhandlungsergebnissen deutlich nach links«  gerückt. Debus, Professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Mannheim und Direktor des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, untersuchte die jeweiligen Positionen in der Einwanderungspolitik sowie in der Wirtschafts-, Arbeits- und Finanzpolitik per quantitativer Textanalyse. Die entsprechenden Positionen der einzelnen Sondierungsergebnisse wurden sodann in ein Koordinatensystem übertragen und mit allen Koalitionsabkommen und Wahlprogramme auf Bundes- und Landesebene seit 1990 verglichen.

Debus’ Bilanz: »Der Einfluss der SPD ist deutlich messbar«, die Sozialdemokraten scheinen »also trotz der Niederlage bei der Bundestagswahl durchaus fähig zu sein, sich in einer möglichen Großen Koalition zu behaupten«. Wie erklärt sich das? Laut Debus mit der »Stärke der Schwäche« der Sozialdemokraten: »Damit zumindest Teile des linken Flügels der SPD einer Koalition mit der Union zustimmen, mussten Christdemokraten und Christsoziale, die beide die Fortsetzung der schwarz-roten Koalition wollen, offenbar stärker auf die SPD zugehen, als es dem Kräfteverhältnis nach der Bundestagswahl eigentlich entsprochen hätte. Wir nennen das ›strength of weakness‹«, so Debus.

Dies entspreche auch anderen Forschungsergebnissen, die Debus mit Kollegen vorgelegt hat: Intern heterogen aufgestellte Parteien, also konfliktreiche Organisationen, könnten sich in der Bundesrepublik »besser in Koalitionsverhandlungen durchsetzen«. Ihnen könne gegenüber Verhandlungspartnern der Hinweis als Hebel dienen, »dass einer ihrer Flügel einen Kompromiss nicht mittragen könne. Also muss ein neuer Vorschlag ausgehandelt werden, damit die Stabilität der künftigen Koalition nicht gefährdet ist«. Dieser liege »dann näher an der Position der Regierungspartei, die intern stärker programmatisch zerstritten ist«. Eine Aussage darüber, wie ein so gefundener Kompromiss beim Wähler ankommt, ist damit laut Debus nicht gemacht.


Was sagen die als führend bezeichneten Wirtschaftsforscher?

Die Einschätzungen überraschen wenig, sie entsprechen im Grunde der politischen Orientierung der bekanntesten Institute. Dennoch ist das Echo nicht nebensächlich, die Einlassungen der Experten und die daraus entstehenden Schlagzeilen bestimmen die wirtschaftspolitische Debatte über das Sondierungsergebnis mit.

Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das man im Vergleich zu den anderen Instituten durchaus links einsortieren kann, zeigte sich enttäuscht. »Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche deuten auf viele Kompromisse und wenige richtungsweisende Reformen hin«, so Marcel Fratzscher. Es fehle »eine klare Vision und es fehlen mutige Reformen, die Deutschland zukunftsfähig machen könnten«. Als positiv wird das geplante Kooperationsverbot in der Bildung angesehen, ebenso auf Wohlwollen bei Fratzscher stößt »das Bekenntnis zu Europa«, allerdings wird eingeschränkt, dass den Ergebnissen »jedoch eine Vision« fehle, »wie Europa reformiert werden soll«. Fratzscher spricht von »Klientelpolitik«.

Der ifo-Präsident Clemens Fuest äußerte sich grundsätzlich ablehnend, in seiner Kritik erscheint das Sondierungsergebnis als deutlich zu links. »In der Finanzpolitik liegt der Schwerpunkt des Programms in Ausgabensteigerungen, vor allem im Ausbau von Sozialleistungen«, so Fuest. Beklagt werden fehlende Einkommensteuer-Senkungen sowie die Tatsache, dass die angepeilte Soli-Senkung durch eine Freigrenze »Bezieher höherer Einkommen von jeglicher Steuerentlastung« ausschließe. Das ifo-Institut sieht »eine dauerhafte Ausdehnung des Staatsanteils an der Wirtschaftsleistung, also höhere Steuern und mehr öffentliche Leistungen« ebenfalls als negativ an und beklagt: »Es wird also mehr umverteilt. Insofern hat sich die SPD weitgehend durchgesetzt, abgesehen von der Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz, der offenbar nicht kommen wird.« Dagegen sei die zentrale steuerpolitische Forderung im CDU-Wahlprogramm, eine Senkung der Steuern für alle, nicht eingelöst. Kritik wird auch an den eher vagen europapolitischen Formulierungen geäußert. Einziger herausgehobener positiver Befund für Fuest: das geplante Migrationsgesetzbuch.

Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung und Chef der so genannten Wirtschaftsweisen, konzentrierte sich in seiner ersten Reaktion auf fiskal- und verteilungspolitische Fragen: Die »Entlastung der Steuerzahler«, die hier in einen großen Topf geworfen werden, greife »erheblich zu kurz«. Auch Schmidt verweist hier auf die Erhöhung der »Progression der Einkommensteuer«, die »versteckt durch eine geplante Freigrenze beim Soli« eingeführt werden würde. Grund zur Klage auch bei ihm: »stattdessen wird die expansive Ausgabenpolitik fortgesetzt«.

Beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat man sich die bekannt gewordenen Rentenpläne einer möglichen Großen Koalition angesehen, diese würden laut Jens Boysen-Hogrefe »auf absehbare Zeit zu Finanzierungsproblemen in der Rentenkasse führen und kommende Generationen belasten«. Die gesetzliche Festschreibung des Rentenniveaus auf 48 Prozent bis 2025 wird als »ein teurer Kompromiss« kritisiert, bei dem die Ausgestaltung – Bundeszuschusses aus Steuermitteln oder steigende Beitragssatz – noch ungeklärt seien. Mit Verweis auf demografischen Wandel und eine absehbar nachlassende Zuwanderung heißt es weiter, »die aktuelle Rentenformel trug dem Rechnung und sah daher eine Absenkung des Rentenniveaus vor«. Mit dem Sondierungsergebnis würde jedoch die »Anpassungslast an den demografischen Wandel noch mehr auf die Beitragszahler« abgewälzt. »Zudem ist unklar, wie es mit dem Rentenniveau nach dem Jahr 2025 weitergehen soll. Das Absinken des Rentenniveaus ist wohl nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.«

Michael Hüther, der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, äußerte sich in einem Gastbeitrag auf Zeit online zu den Sondierungsergebnissen. Aus Sicht das unternehmensnahen Instituts dürfe sich jede der Parteien »einige Wohltaten auf die eigene Fahne schreiben«. Von der Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung würden die Beschäftigten »vermutlich nur kurzfristig« profitieren, so Hüther: »Denn dadurch steigen aus Unternehmenssicht die Arbeitskosten. Das kann Jobs kosten. Und bei der Arbeitslosenversicherung fällt die geplante Beitragssenkung gemessen am Milliardenüberschuss eher mickrig aus.« Insgesamt herrscht auch beim IW in Köln das Urteil: Noch weniger Staat wäre besser gewesen.

Weitere Reaktionen aus der Wirtschaft

Im Blog der DZ Bank schreibt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der Zentral-Genossenschaftsbank, das Sondierungsergebnis bestehe »im Wesentlichen aus sozialpolitischen Wohltaten, die über das Land ausgeschüttet werden sollen. Die Sozialdemokraten haben sich wohl in Vielem durchgesetzt«, sehe man einmal von den Hauptforderungen nach einer Bürgerversicherung und der von Martin Schulz in Medienäußerungen avisierten »Vereinigte Staaten von Europa« ab. Bielmeiers Bilanz für den Wirtschaftsausblick? »Die deutsche Wirtschaft hat gezeigt, dass sie zumindest auf kürzere Sicht nicht auf eine funktionierende Regierung angewiesen ist. Koalitionsbildungen sind für die Unternehmen kein Aufreger.« Und weiter: »Für Wachstum und Beschäftigung im Jahr 2018 wird die Frage, ob die GroKo kommt oder nicht, also vermutlich keine große Rolle spielen.«

Geschrieben von:

OXI Redaktion

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