Wirtschaft
anders denken.

Ideenmord oder das westliche Weltanschauungsdefizit

05.03.2017
Foto: Henrike Pilz / Flickr CC-BY 2.0 LizenzElementarteilchen

Europa wird nicht wegen des Islams untergehen. Es leidet an fehlenden Weltanschauungen und Denkgebäuden. Eine Streitschrift gegen die Abendlandverteidiger à la Michel Houellebecq.

Manche Reden haben etwas Soghaftes an sich. Einzelne rhetorische Elementarteilchen blitzen und funkeln und ziehen die Zuhörer in den Bann. Und wenn dieser jemand dann noch eine kulturelle Kampfzone ausruft, dann geht es mit dem Klatschen und Johlen meist noch einfacher. Dann werden die eh schon toten Linken mit den politisch Korrekten abgewatscht. Die Diktatur der Märkte und des Konsums wird praktischerweise mitverpanscht, damit auch wirklich alle etwas davon haben. Dann vergießt man literweise historisches Blut (Kopfabschlagen während der Französischen Revolution) und mixt es mit dem Wahnsinn des Islamischen Staats und überbackt das Ganze schließlich mit dem Islam an sich. Ergebnis: Unterwerfung.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat das mit Ehrgeiz und Freude getan und sich mit seiner Rede vom »Selbstmord Europas« einen Preis von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgeholt – für »herausragende Leistungen zum Verstehen unserer Zeit«. Er wird geehrt als lebendiger Widerspruch zum »Mainstream«, seine Analysen werden beklatscht wie Mutproben unter Pubertierenden: »Nichts für intellektuelle Feiglinge«, titelt Die Zeit.

Die Beliebtheit der Provokationen Houellebecqs ist verständlich. Denn sein Wüten gegen Politik, Linke, Europa und Islam steht für eine ganze Kritikgemeinde, die den Untergang des Abendlandes voraussagt: Identität und Kultur Europas gingen verloren, das Fremde nehme überhand. Diese Diagnose trifft kommunal gesehen in großstädtischen Bezirken zu, regio­nal gesehen nur in Ausnahmefällen und kontinental betrachtet überhaupt nicht.

Houellebecqs Wüten gegen Politik, Linke, Europa und Islam steht für Selbstentfremdung.

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Tatsächlich hat Europa nichts von seinen Werten an eine angebliche Überfremdung verloren, sondern an eine Selbstentfremdung. Es gibt vor allem eines nicht mehr: Weltanschauungen in all ihrer Bandbreite, seien sie nun rechts, links oder liberal. Alle diese Lehren, heute als »Ideologien« verpönt, hatten Visionen, philosophisch und politisch untermauert. Die Kommunisten genauso wie die Christen und auch die freien Marktwirtschaftler. Sie alle meinten, der Mensch sei »paradiesfähig«, es gebe einen Endzustand, der alle Not aufhebt und alle Gegensätze. Und diese Idee von etwas Größerem schuf Glauben, Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Heimat, wenn man so will.

Heute scheinen diese Gedankengebäude in Trümmern zu liegen. Die Idee der Gesellschaft hängt an einer Ideologie light, die ohne Fahnen, Gesänge und Aufmärsche auszukommen vorgibt. Man braucht die Menschen nicht mehr in der Kirche und nicht mehr bei den Maiaufmärschen. Man braucht sie als Humanressource. Aber nun vermissen wir jene Visionen, die Glauben schaffen. Und die EU vermisst diese Visionen auch. Geradezu verzweifelt sucht sie nach einer Substanz, die mehr ist und mehr kann als das konkrete Faktum des Wirtschaftlichen. Man nennt diese Substanz ein Narrativ, eine Vision, eine »Finalität«. Aber den Inhalt dazu gibt es nicht. Kritiker wie Houellebecq machen ihr Geld mit der Beschreibung ebendieser Leere.

Als wäre das nicht schon platt genug, werfen sie in ihrem Gejammer aber auch Errungenschaften des Geistes, wie stringente logische Argumentation, die Vermeidung von Trugschlüssen und die Prüfung auf Plausibilität über Bord. Deshalb gibt es in dieser Kritik keinen Unterschied mehr zwischen einer Religion und einer Terrororganisation. Sie mischt Bürgerrechte mit Rassismus und gießt aus Paranoia die Forderung nach Gesetzen, die den Grundgesetzen widersprechen. Sie misst die Macht einer Kultur an der Geburtenrate. Und sie beweint schließlich in einem selbstgefälligen Zucken ihrer Triebe die Ausrottung der europäischen Männlichkeit.

Dieses psychopathologische Schauspiel endet natürlich nicht in der Kastration der Kritik, vielmehr in ihrer geistigen Impotenz. Sie hat nichts weiter zu geben, als die Abwertung des Fremden und des Eigenen. Im Stillen beneidet sie ihre Todfeinde um ihre Blutbäder, und sie beneidet die eigene europäische Geschichte um deren Blutbäder, so als gäbe es auch heute noch einen kultischen Wert von Mord und Totschlag. So endet die Kritik in einer Destruktivität, die auch schwere narzisstische Störungen kennzeichnet. Die Unfähigkeit zur Kreativität führt zum Todeswunsch gegen die Umgebung und letztlich gegen sich selbst.

Dieses psychopathologische Schauspiel endet nicht in der Kastration der Kritik, vielmehr in ihrer geistigen Impotenz.

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Wenn es stimmt, dass die Zukunft aus den Wünschen der Gegenwart geboren wird, dann ist das aber die Gefahr, die von diesen kritischen Gecken, Artisten und politischen Fallenstellern ausgeht: Ihr eigentliches Thema ist nicht der »Selbstmord Europas«, sondern die »Anstiftung zum Mord« an seiner Idee.

Diese Kolumne erschien in OXI 11/2016.

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