Wirtschaft
anders denken.

Wider die Ideologie der Beschäftigung

Anstatt zu überlegen, wie wir Arbeit so organisieren, damit mit dem geringsten Aufwand und zum Wohle aller produziert wird, hängen wir einer Ideologie der Beschäftigung an, sagt Michael Hirsch. Ein Gespräch über die Krise der Arbeitsgesellschaft

15.07.2016
Michael Hirsch - Philosoph, Politikwissenschaftler und Kunsttheoretiker hat sich 2014 an der Universität Siegen habilitiert mit einer Schrift über »Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Theorie der Arbeit«. Als Buch erschien die Habilitationsschrift 2016 im Verlag Springer VS und fand in der links-aufklärerischen Öffentlichkeit Beachtung. In seinen Büchern, Zeitschriften- und Rundfunkbeiträgen stehen Gesellschaftskritik, Emanzipation, soziale Demokratie im Zentrum. Seine Aufsätze haben Titel wie »Konkrete Utopien der Arbeit in Freiheit«, »Kritische Politische Theorie und emanzipatorische Gesellschaftstheorie«, »Repolitsierung des Feminismus. Jenseits von Postdemokratie und Entpolitisierung sozialer Bewegungen«. Er plädiert dabei für eine drastische allgemeine Arbeitszeitverkürzung und für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

»Die Überwindung der Arbeitsgesellschaft« ist der Titel eines Ihrer Bücher. Die Arbeitsgesellschaft hat die Menschen, welche die Arbeit leisten, im Unterschied zu Jahrtausenden vorher zu vollwertigen Gesellschaftsmitgliedern gemacht. Sie hat einen Wohlstand erzeugt, der viel größer ist und an dem sehr viel mehr Menschen teilhaben als jemals zuvor. Welche Probleme haben Sie eigentlich mit der Arbeitsgesellschaft?

Hirsch: Wir leben in einem Staat der Arbeitsbeschaffung. Obwohl immer mehr Reichtum mit immer weniger Arbeit erzeugt wird, werden Mangel, soziale Ungleichheit und sozialer Ausschluss, Stress, Angst, Zeitarmut und kulturelle Armut nicht weniger, sondern nehmen eher zu. Anstatt zu überlegen, wie wir Arbeit so organisieren, damit mit dem geringsten Kraft- und Zeitaufwand sowie unter Einbeziehung und zum Wohle aller Menschen die notwendigen Güter erzeugt werden, hängen wir einer Ideologie der Beschäftigung an. Theodor W. Adorno schrieb schon 1961: »Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge sein müßte.« Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Das ist ein interessanter Satz: »Wir leben in einem Staat der Arbeitsbeschaffung«. Für die DDR traf er zu. In der Bundesrepublik leben wir seit 35 Jahren ununterbrochen in einer Gesellschaft der Massenarbeitslosigkeit. Selbst die Gewerkschaft redet kaum noch von Vollbeschäftigung, sondern lieber über »gute Arbeit«.

Auf der Ebene der staatlichen Leitideologie und in Form repressiver Elemente des aktivierenden Sozialstaats von Hartz IV ist der Unterschied zwischen den beiden Systemen gar nicht so groß. Beide folgen dem Prinzip »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit«. Es geht um die Stigmatisierung von Lebensweisen, die nicht der Erwerbsarbeit geweiht sind. Wobei mit Arbeit in fortgesetzter Verkennung der Realität von im Alltag geleisteter Arbeit immer Lohnarbeit gemeint ist. Obwohl die jährlich im Bereich unbezahlter Arbeit geleisteten Arbeitsstunden (Haushalt und Familie, Ehrenamt usw.) bei weitem höher sind als die bezahlten. Der Staat der Arbeitsbeschaffung betreibt vor allem eine Umdeutung des Phänomens der Arbeitslosigkeit: Wo es in Wirklichkeit darum ginge, die vorhandene und strukturell immer weiter zurückgehende Menge an Erwerbsarbeit sowie ihre Erträge gerecht unter den Gesellschaftsmitgliedern zu verteilen, versucht der neoliberale Staat weniger, sinnvolle Arbeit für Menschen zu schaffen, die welche suchen, als vielmehr durch Androhung von Strafen Arbeitskräfte für Beschäftigungen zu schaffen, die eigentlich keiner haben will. Das ist auch die These von Loïc Wacquant in seinem Buch »Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit«.

Die Gewerkschaften, sozialdemokratische und linke Parteien sehen dass offenbar etwas anders, sie fordern den Staat immer wieder dazu auf, mit besserer Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik mehr Arbeit zu schaffen.

Unsere Gesellschaft verfolgt ein falsches Ziel. Das betrifft den Staat, die Parteien, die Gewerkschaften, die Medien und die große Mehrheit der Intellektuellen. Das Ziel »Mehr Arbeit schaffen« unterwirft die Mehrheit des Volkes der Macht der Unternehmer und des Staates, die uns gemeinsam versprechen, »Arbeit zu schaffen«. Kein Wunder, dass auf diese Weise massenhaft schlechte Arbeit, Niedriglohnarbeit und entregelte Arbeitsverhältnisse entstanden sind und die soziale Spaltung der Gesellschaft voranschreitet. Es war diese falsche herrschende Definition des Problems der Arbeit als eines Mangels an »Beschäftigung«, welche zu einer allgemeinen Verwilderung der Arbeitsverhältnisse geführt hat – zu einer Gesellschaft, in welcher die Arbeitsplatzbesitzer aus Angst vor Arbeitslosigkeit und Prekarität zu immer größeren Zugeständnisse bei der Qualität der Arbeit, der Arbeitsintensität, der Arbeitszeit und bei den Löhnen erpresst wurde. Und in welcher das untere Viertel der Bevölkerung in ein Schattenreich von Armut, chronisch prekärer Arbeit und sozialer Verwundbarkeit abgedrängt wird.

Sie sprechen von einer »Ideologie der Beschäftigung«. Woran machen Sie das Ideologische fest?

Das Ideologische liegt darin, dass im Unterschied zu den 1970er und noch 1980er Jahren gar keine politische Diskussion um gesellschaftspolitische Alternativen geführt wird. Die Festlegung des Ziels »Mehr Beschäftigung« wird von den herrschenden ökonomischen, politischen und intellektuellen Eliten als alternativlos dargestellt und vom Volk so wahrgenommen. Und dies, obwohl alle sehen können, dass Angst, Stress, Erschöpfung und soziale Ungleichheit auf diese Weise immer mehr zugenommen haben – dass das Leben in den letzten Jahrzehnten für die meisten eher schlechter als besser geworden ist. Dass diese weit verbreitete Grundstimmung politisch bisher kaum Wirkung zeigt, hat damit zu tun, dass der Besitz eines Arbeitsplatzes mittlerweile schon als höchstes Ziel im Leben des Menschen gilt. Die Macht dieser Ideologie der Beschäftigung zeigt sich in der sozialpsychologisch höchst bedeutsamen Tatsache, dass es ihr gelungen ist, mit ihrer aus Verlockungen und Drohungen bestehenden Botschaft die beiden wichtigsten Gruppen zu verführen, die bis vor kurzem der männlichen Hegemonie der Erwerbsarbeit eher distanziert gegenüberstanden: die Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.

»Dass diese weit verbreitete Grundstimmung politisch bisher kaum Wirkung zeigt«, wie Sie sagen, also die Zunahme an Angst, Stress, Erschöpfung und sozialer Ungleichheit, halte ich für eine Beschönigung der Lage. Ich sehe hier Zusammenhänge mit den politischen Erfolgen rechtspopulistischer Positionen und rechtsradikaler Aktionen. Sie nicht?

Da haben Sie natürlich recht – die einzige politische Wirkung der herrschenden negativen Grundstimmung einer gesellschaftspolitischen Ohnmacht ist bisher leider ihre rechtspopulistische Bearbeitung durch AfD, Pegida usw. Das ist ein Grundgesetz politischer Auseinandersetzungen: Wenn die progressiven gesellschaftlichen Kräfte keine klaren, die gesamte Bevölkerung ansprechenden Alternativmodelle zur Debatte stellen, dann wird die Lücke eben durch Rechtspopulisten, Nationalisten und Faschisten gefüllt. Der Erfolg rechtspopulistischer und rechtsradikaler Strömungen bei Arbeitern, Prekären und Arbeitslosen ist stets das Symptom einer politischen Schwäche der Linken. Insofern liegt die Schuld hier bei den großen Partei-, Gewerkschafts-, Medien-, Schul- und Hochschulapparaten der Linken. Sie scheinen immer noch nicht begriffen zu haben, dass das auch »ihre« Leute sind, die da – wohl mehr aus Verzweiflung denn aus Überzeugung – nach ganz rechts abwandern.

Sie plädieren dafür, »unter Einbeziehung und zum Wohle aller Menschen die notwendigen Güter« zu erzeugen. Wer oder was steht diesem Ziel im Weg, wer oder was könnte uns diesem Ziel näher bringen?

Zunächst einmal müssten wir überhaupt ein neues, progressives Ziel formulieren. Ein mögliches Motto ist von dem großen französischen Sozialphilosophen André Gorz formuliert worden: »Weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können.« Bisher stehen die wichtigsten gesellschaftlichen Interessengruppen einer solchen Vision entgegen – sogar die meisten etablierten Linksintellektuellen. Ohne eine neue intellektuelle Offensive, eine gemeinsame Initiative progressiver Wissenschaftler, Journalisten, Parteifunktionäre und Gewerkschafter werden wir daran nichts ändern können. Im Mittelpunkt eines neuen linken Fortschrittsprojekts (die Voraussetzung einer zukünftigen rot-rot-grünen Regierung) steht ein Entwurf für eine zeitgemäße Lösung der sozialen Frage. Er muss einen neuen Gesellschaftsvertrag der fairen Aufteilung und Entlohnung von Arbeit für alle enthalten. In seinem Zusammenhang werden die gesellschaftlichen Normalarbeitszeiten reduziert und die unteren Löhne angehoben.

Sie beschreiben, wo eine neue intellektuelle Offensive hinführen soll, aber wo soll sie herkommen?

Meine These ist: Der Erfolg eines solchen Projekts hängt vom Kampf um die politische und intellektuelle Deutungsmacht über das Problem der Arbeit und der Krise der Arbeitsgesellschaft ab. Intellektuelle im weiteren Sinne spielen hier eine herausragende Rolle. Daher werden in Zukunft die Angehörigen der intellektuellen und politischen Berufe untereinander eine harte Debatte über ihr professionelles Selbstverständnis führen müssen: Auf welcher Seite stehen wir? Haben wir eine Vision einer anderen, besseren Zukunft? Oder soll unsere Arbeit und unser Leben weiter darin bestehen, dass wir dem Volk (irgendwie »kritisch«) erklären, warum alles so ist wie es ist, und warum es im besten Fall so weitergeht wie bisher?

Die feministische Perspektive ist Ihnen wichtig. Ist die Geschlechterdifferenz auch noch zu erkennen, wenn Frauen große Macht und/oder viel Geld haben?

Die Geschlechterdifferenz hat auch noch in der Gegenwart eine herausragende Bedeutung. Wir leben in einer androzentrischen Arbeitsgesellschaft, in welcher die Wertmaßstäbe für ein normales Leben weiterhin von der männlichen Normalerwerbsbiografie gebildet werden. Zwar wird mittlerweile überall über »Doppelbelastungen« geklagt (interessanterweise nicht von Männern), und es gibt einen Diskurs über das Problem der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, über die mangelnde Vereinbarkeit von Arbeitsverpflichtungen im Bereich des Erwerbslebens und von Haushalt und Familie. Aber dieses Problem gilt weiterhin als ein Frauenproblem. Die Tatsache, dass sich mittlerweile immer mehr Frauen in gehobenen gesellschaftlichen Positionen finden, hat daran nichts geändert. Vielmehr hat sich eben die Botschaft durchgesetzt: Wer in dieser Gesellschaft Erfolg haben will, muss aus der »weiblichen« Rollendefinition und ihren Verantwortlichkeiten flüchten und sein Leben ganz unters Gesetz der Lohnarbeit stellen – so wie es früher ja die meisten Männer auch schon getan haben. Das bedeutet: Geschlecht ist mittlerweile eigentlich keine biologische Kategorie mehr sondern eine soziale.

Geschlecht ist mittlerweile eigentlich keine biologische Kategorie mehr sondern eine soziale.

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Eine biologische Kategorie bleibt es wohl auch, aber konzentrieren wir uns auf Gender, nicht auf Sex. Wie charakterisieren Sie die soziale Dimension der Geschlechterdifferenz?

»Weiblich« ist die Rollendisposition der konstanten, zeitlich intensiven Übernahme unbezahlter Arbeitsverpflichtungen im Bereich von Haushalt, Familie, Nachbarschaft oder anderen sozialen Netzen. »Männlich« ist die (ebenso gefühlte wie reale, im Alltag wirksame) Befreiung von solchen Verpflichtungen. Es spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle, ob diese Verpflichtungen auf Ehepartner oder andere Verwandte oder Freunde, oder auf staatliche und/oder private haushaltsnahe oder personenbezogene Dienstleistungen abgewälzt werden. Wichtig ist, dass wir heute den Triumph der androzentrischen Arbeitsgesellschaft erleben: Auf der Ebene unserer symbolischen Ordnung ist das männliche Lebensmodell der virtuell unbegrenzten zeitlichen Verfügbarkeit für die Bedürfnisse der Lohnarbeit die einzig verbliebene kulturelle Norm. Zwar können immer noch die meisten Frauen dieser Norm im Alltag nicht genügen – aber ihr Leiden wird als privat und nur vorübergehend betrachtet. Die Ideologie der Beschäftigung zielt darauf ab, dieses Problem in Zukunft dadurch zu lösen, virtuell sämtliche unbezahlten Haus-, Sorge- und Erziehungsarbeiten durch bezahlte zu ersetzen. Wie unschwer zu erkennen ist, zielt sie also auf die umfassende Ökonomisierung des menschlichen Lebens ab.

Und wie sieht Ihre Alternative aus?

Demgegenüber käme es darauf an, hier eine ganz neue kulturelle Norm aufzustellen: die Norm der prinzipiellen Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und unbezahlter Arbeit in Haushalt, Familie und anderen Sozialverbänden. Es ginge also nicht darum, die Arbeitszeiten von Frauen immer weiter zu erhöhen, als vielmehr darum, diejenigen der Männer schrittweise zu verringern. Dies ist ein Kampf, der die zukünftigen Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und privaten ebenso wie öffentlichen Arbeitgebern betrifft – aber auch Auseinandersetzungen über eine zeitgemäße Änderung unseres Rentenversicherungssystems, das bisher auf die männliche Norm der lebenslangen Vollzeiterwerbstätigkeit zugeschnitten ist und also massenhaft (vor allem weibliche) Altersarmut produziert.

 

Das Interview führte:

Hans-Jürgen Arlt

Professor für strategische Organisationskommunikation

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