Wirtschaft
anders denken.

Wie die Hungerkatastrophe in die Welt kam

08.06.2016
Foto: WikipediaEine Geschichte des Hungers im Imperialismus. Indigo-Fabrik in Bengalen um 1900.

Warum man Mike Davis‘ Buch »Die Geburt der Dritten Welt« auch 15 Jahre nach Erscheinen dringend nochmal lesen sollte.

Vor 15 Jahren erschien in London unter dem Titel »Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Making of the Third World« ein Buch von Mike Davis, das 2004 in Deutschland in die Läden kam. »Die Geburt der Dritten Welt – Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter«, wie die deutsche Ausgabe heißt, ist ein Höllenbuch, dem die 15 Jahre, die seit seinem Erscheinen vergangen sind, keine Patina verliehen haben. Vielleicht, weil es eine bis heute unübertroffene Recherche- und Aufbereitungsleistung sowie Schlussfolgerungen enthält, deren Richtigkeit sich täglich neu erweist.

Obwohl ein Sachbuch erinnert es – dieser Einschub sei gestattet – an einen Höllenroman von Roberto Bolaño, der den kryptischen Titel »2666« trägt. Im Mittelteil erzählt dieser Roman auf mehr als 400 Seiten und im Reportagestil von Gewaltdelikten an Frauen. Angelehnt ist diese kaum auszuhaltende Darstellung einer Mordserie an Vorkommnisse in Mexiko, wo seit Jahren und in Serie Frauen umgebracht werden. Bolaño schafft es, aus jedem einzelnen Opfer einen Menschen zu machen. Und das, obwohl er sie alle auf den Seziertisch legt.

Die Politische Ökonomie des Hungers

Zurück zu Mike Davis: Ende des 19. Jahrhunderts, im sogenannten Viktorianischen Zeitalter, wurden in jenen Teilen der Welt, die danach zur »Dritten Welt« wurden und es zum Teil bis heute geblieben sind, durch große Dürren die Ernährungsgrundlagen für die Millionen dort lebende Menschen zerstört. In Äthiopien, Indien, China und Brasilien starben dadurch und durch die darauf folgenden Epidemien zwischen 30 und 60 Millionen Menschen.

Eine »ungeheuerliche Massenvernichtung«, wie es im Klappentext des Buches heißt, für die lange und oft bis heute Wetterphänomene verantwortlich gemacht wurde, vor allem eines: El Niño. Mike Davis weist in seiner »Politischen Ökologie des Hungers« jedoch nach, dass erst die Interaktion zwischen Weltklima und Weltökonomie zu diesen Hungerkatastrophen mit Millionen Toten geführt hat – Davis spricht von »Massenvernichtung«. Denn zu der Heimsuchung der Dürrekatastrophen kam eine weitere, ebenso schlimme Heimsuchung: Die Länder der Tropen wurden zwischen 1870 und 1914 vollständig der Dynamik der Weltwirtschaft unterworfen, die damals von London aus gesteuert wurde. Die Anpassung an die ökonomischen und politischen Strukturen des Imperialismus in Kombination mit der Klimakatastrophe war tödlich. Typisch für diese Hungerkatastrophen war, dass es zwar noch immer genug Essen gab, um zu überleben, die Menschen aber nicht genug Essen hatten.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann man damit, die großen Bauernschaften außerhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren, wie Davis beschreibt. Damals habe es zwischen den Gesellschaften (nicht innerhalb der Gesellschaften) keine dramatischen Einkommensunterschiede gegeben. »Die Unterschiede im Lebensstandard zwischen einem französischen Sansculotte und einem Bauern des Dekhan waren relativ unbedeutend im Vergleich zu der Kluft, die beide von ihren ihren jeweilig herrschenden Klassen trennte. Am Ende der Herrschaft von Königin Victoria war jedoch die Ungleichheit zwischen den Nationen so groß wie die Ungleichheit zwischen den Klassen. Die Menschheit war unwiderruflich geteilt.«

Rekonstruktion einer Massenvernichtung made in Europe

Was Davis in seinem Buch über die Entstehung der »Hungerländer« und die eigentlichen Ursachen dieses tödlichen Hungers – jenseits einer äußerst genauen Analyse der ökonomischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Dynamik des mit aller Macht welterobernden Imperialismus – tut: Wie Bolaño gibt er den Toten Namen. Er macht aus Millionen Opfern Menschen, auch wenn er sie auf den Seziertisch legt.

Wie Davis aus Originalquellen zitiert, welche Akribie er an den Tag gelegt hat, um jedes Dorf und jeden Distrikt aufzurufen, in denen damals Menschen gelebt und dann infolge des Hungers und von Krankheiten gestorben sind, ist eine große Leistung. All diese Menschen starben, während auf dem Markt um Preise gefeilscht, Waren zwecks Gewinnsteigerung zurückgehalten und für die Industrialisierung der späteren Ersten Welt, für Kanonen und Kriege gezockt wurde. Das Getreide, der Reis verließen die Regionen in Richtung heutige Erste Welt, und zurück blieben alle und starben, die das Kapital für verzichtbar hielt.

»Die Geburt der Dritten Welt« ist ein nüchternes, zugleich emotionales, hochwissenschaftliches und unverzichtbares Buch, will man verstehen, was das Wesen des Kapitalismus ausmacht. Es ist zugleich die aufwühlende Darstellung des Siegeszugs dreier apokalyptischer Reiter: des Hungers, der Seuche, der Gier. Nicht nur der Hunger und der Mangel wurden monetarisiert, auch die Hungerhilfe. Und so ist es bis heute geblieben. Mike Davis schreibt: »Der plötzliche Rückgang der Nachfrage in den Metropolen nach Produkten aus den Tropen und Kolonien fiel mit einer gewaltigen Ausweitung der Agrarexporte zusammen, als die Eisenbahnlinien die amerikanischen und russischen Steppen erschlossen und mit dem Suez-Kanal die Entfernungen zwischen Europa, Asien, Australien und Neuseeland kleiner wurden. Das Ergebnis war eine weltweite Zunahme des Wettbewerbs und ein allgemeiner Verfall landwirtschaftlicher Einkommen. In vielen Gegenden fielen die Weltmarktpreise für Baumwolle, Reis, Tabak und Zucker auf das Niveau der Produktionskosten und manchmal sogar noch darunter. Millionen von Bauern, die erst seit kurzem an den Markt angeschlossen beziehungsweise in die Welthandelsstruktur integriert worden waren, bekamen so die Erschütterungen weit entfernter ökonomischer Turbulenzen zu spüren, deren Ursprünge ebenso mysteriös waren wie die des Wetters.«

Mike Davis GeburtMike Davis, Die Geburt der Dritten Welt, erschienen bei Assoziation A, 2004, Paperbackausgabe 2005, 464 Seiten, 20 Euro.

Geschrieben von:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

Hinweis

Guter Journalismus ist nicht umsonst…

Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.

Zahlungsmethode

Betrag