Wie Erwerbsarbeit ihre Übermacht verliert
Der Schlüssel für eine linke, emanzipatorische Agenda kann nur ein Bündnis von Arbeiter- und Frauenbewegung sein. Eine neue Gesellschaftspolitik kann nur entstehen, wenn man die soziale und die Geschlechterfrage zusammendenkt.
Wachstum und Beschäftigung heißen die großen Ziele der vorherrschenden Gesellschaftspolitik. Es sind genau diese beiden Leitsterne, die uns immer tiefer in die Krise führen. Wo ist ein fortschrittliches Projekt, das einen anderen Entwicklungspfad einschlägt und in die tagespolitischen Auseinandersetzungen dieses Wahljahres eingespeist werden kann? Eine radikal kürzere Arbeitszeit löst aktuelle Probleme und öffnet Wege zu einem anderen Wirtschafts- und Lebensmodell.
Den Zusammenhang von sozialer Frage und Geschlechterfrage zu sehen und anzuerkennen, ist der Schlüssel zu einer neuen Gesellschaftspolitik. Die herrschende Arbeitszeitnorm zu ändern, die Normalarbeitszeit perspektivisch auf 32, 30, 28, 25 Stunden pro Woche zu kürzen, diese Forderung gehört an die Spitze einer linken emanzipatorischen Agenda. Es geht um ein Bündnis von Arbeiter- und Frauenbewegung – die viel zu lange getrennt voneinander, ja gegeneinander operiert haben.
Es geht um ein Bündnis von Arbeiter- und Frauenbewegung – die viel zu lange getrennt voneinander, ja gegeneinander operiert haben.
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Entscheidend für dieses Projekt ist es, sozial- und gleichstellungspolitische Forderungen konkret zu verknüpfen: Es geht nicht nur darum, mit deutlich verkürzten Normalarbeitszeiten die Erwerbsarbeit umzuverteilen und damit den Arbeitsmarkt für mehr reguläre und auskömmliche Jobs zu öffnen (mehr soziale Gerechtigkeit). Es geht auch nicht nur darum, auf diese Weise ein besseres Leben für alle, mit mehr freier Zeit, Zeitsouveränität, Muße und kulturellen Sinnpotenzialen zu ermöglichen (mehr Lebensqualität). Es geht auch darum, die unbezahlte Arbeit im Rahmen von Haushalten und Familien in Zukunft gerecht zwischen allen Gesellschaftsmitgliedern, allen Männern und Frauen zu verteilen (mehr Geschlechtergerechtigkeit).
Frauenfrage gleich Männerfrage
Emanzipatorische Politik beschränkt sich nie darauf, materielles Vermögen und Einkommen umzuverteilen. Sie greift immer auch in kulturelle Werte, Anerkennungsmuster und die Verteilung von Rollen ein. Die heutige Arbeitsgesellschaft unterstellt, der männliche Vollzeiterwerbstätige, der von unbezahlten Haushalts-, Erziehungs- und Sorgearbeiten wesentlich freigestellt ist, sei die richtige Norm, also die Normalität, nach sich alle zu richten hätten. Dagegen soll die zukünftige Gesellschaft auf dem Prinzip gründen, dass alle praktisch sowohl für Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit zuständig sind. Für diese neue Etappe der Geschlechtergleichheit gilt das Motto: Die Frauenfrage ist eine Männerfrage.
Das heißt: Die Institution der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung wird als Ganzes frontal angegriffen und außer Kraft gesetzt. Sämtliche Arbeitspositionen (auch die qualifizierten und die leitenden!) müssen mit dauerhaften Arbeitsverpflichtungen in Haushalt und Familie vereinbar sein; was nur geht, wenn die normalen Arbeitszeiten viel geringer sind. Mehr Geschlechtergleichheit bedeutet in Zukunft nicht mehr nur, die weibliche Erwerbsbeteiligung zu steigern, sondern zugleich, die männliche zu verringern. Die traditionell als »weiblich« ausgewiesenen Arbeiten verlieren den untergeordneten, der Reproduktion der Arbeitskraft bloß dienenden Charakter.
Eine radikal kürzere Arbeitszeit löst aktuelle Probleme und öffnet Wege zu einem anderen Wirtschafts- und Lebensmodell.
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Dieser Vorschlag greift nicht nur in die bestehenden (staatlichen wie privatwirtschaftlichen) Tarifnormen und in die Sozialversicherungssysteme ein, welche heute noch diejenigen, die nicht Vollzeit arbeiten, wie selbstverständlich zur Altersarmut verdammen. Er greift auch in die symbolische Ordnung der Gesellschaft ein: in die Normalitätskonstruktionen des Lebens.
Soziale Normen, wie Recht und Moral sie festschreiben, setzen sich als Gewohnheiten fest und strukturieren unser Leben. Letztlich entscheiden sie über die konkrete Gestaltung des Alltags: wie wir Zeit einteilen, wer welche Rolle einnimmt, wer für was anerkannt wird. Die Bedenkenlosigkeit, mit der unsere Gesellschaft aller Aufklärung und allen Lippenbekenntnissen zum Trotz den Begriff Arbeit immer noch primär mit bezahlter Erwerbsarbeit verbindet, ist ein solcher Fall von »Normalisierung«. Das emanzipatorische Gegenprojekt, das hier skizziert wird, zielt insofern auf ein neues Alltagsprogramm ab, auf andere, bessere Normalitäten.
Eine neue soziale Grundnorm
Mit einer radikal verkürzten Normalarbeitszeit errichten wir eine neue soziale Grundnorm. Sie verändert die Tarifkämpfe zwischen Gewerkschaften und Unternehmern ebenso grundlegend wie den Alltag aller Einzelnen. Die gewonnene freie Zeit steht allen, Männern wie Frauen, zur Verfügung, um ihre Leben freier zu gestalten und die Arbeiten fair aufzuteilen.
Die Erwerbsarbeit verliert so ihre kulturelle Hegemonie, ihren kulturell herausragenden Stellenwert – eine Konsequenz, vor welcher der gegenwärtig dominierende rechte Flügel der Arbeiterbewegung ebenso zurückschreckt wie der liberale, in den Staatsapparaten bislang dominierende Teil der Frauen- und Gleichstellungsbewegung. Die einen, weil es sich um ihr angestammtes Revier handelt. Die anderen, weil sie davon träumen, in dieses Revier einzubrechen. Damit unterwerfen sie sich eben dem herrschenden Wertmaßstab, welcher »Arbeit« immer schon mit Lohnarbeit identifiziert und unbezahlte Tätigkeiten abwertet.
Die herrschende Arbeitszeitnorm zu ändern, die Normalarbeitszeit perspektivisch auf 32, 30, 28, 25 Stunden pro Woche zu kürzen, diese Forderung gehört an die Spitze einer linken emanzipatorischen Agenda.
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Insofern ist es eine der Schlüsselfragen progressiver linker Politik, ob die fortschrittlichen Teile der Arbeiter- und Frauenbewegung wieder an Stärke gewinnen und sich im Namen eines gemeinsamen Emanzipationsprojekts miteinander verbünden können. Aus meiner Sicht läge hier der Schwerpunkt einer neuen linken Erzählung, die konkrete Verbesserungen mit grundlegender Gesellschaftsveränderung verbindet. Sie zielt auf ein ganz anderes Leben ab; eines, das nicht mehr den Erfordernissen des Arbeitsmarktes und der Reproduktion der Arbeitskraft auf immer höheren Stufen unterworfen wäre. Sie bricht damit aber auch mit dem industriegesellschaftlichen Dual von Lohnarbeit und Familie.
Es wäre nur die halbe Emanzipation, wenn die mit einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung gewonnene freie Zeit mehr oder weniger komplett für Haushalt und Familienarbeit verausgabt werden müsste. Neue, emanzipierte Rollenmodelle in Geschlechter- und Paarbeziehungen stehen in der Gefahr, einer spießigen Ideologie der Familie als nützlicher sozialer, demografischer und moralischer Funktion der Gesellschaft zum Opfer zu fallen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Juli2017-Ausgabe von OXI.
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