Wie halten es die Gewerkschaften mit Marx?
Um die Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses von Gewerkschaften und Marx geht es auf einer Tagung von Ebert-Stiftung und DGB. Gelegenheit, um auf die »Kritischen Gewerkschaftsjahrbücher« zurückzublicken.
»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals«, so kann man es bei Karl Marx in »Lohn, Preis und Profit« von 1865 nachlesen – aber »sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zu endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«
In dem Zitat steckt nicht nur eine historische Frage nach dem Verhältnis eines von Marx ausgehenden Denkens und der politischen Realität von Gewerkschaften im Kapitalismus. Es drängt sich auch unmittelbar ein nächster Gedanke auf: Wie halten es die Gewerkschaften mit Marx heute? Beide Perspektiven sind das Thema einer »Historisch-politischen Tagung«, die das Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und der DGB »im Jahr des 200. Geburtstags von Marx« Mitte Oktober in Trier veranstaltet.
In diversen »Panels werden Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses von Gewerkschaften und Marx beleuchtet«, heißt es in der Ankündigung. Es geht dabei unter anderem um Gewerkschaften und Marx vor dem Ersten Weltkrieg oder im frankophonen Raum. Betont wird auf der Konferenz aber der Blick ins Jetzt und in die Zukunft: Stefanie Hürtgen geht der Frage nach, warum Marx »für eine Kritik der Arbeitsverhältnisse« weiterhin gebraucht wird. Brigitte Pellar vom ÖGB, Hartmut Simon von ver.di und Hans-Jürgen Urban von der IG Metall diskutieren, wie es die Gewerkschaften mit Marx heute halten. Und schließlich werden Justizministerin Katarina Barley und der Vorsitzende des DGB, Reiner Hoffmann, der Frage nachgehen: »Wie viel Marx brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute (noch)?«
Wer gibt Arbeit, wer nimmt?
Der Titel dieses die Tagung abschließenden Podiums lädt zu zwei Gedanken ein: Erstens könnte man sich die Frage stellen, warum ausgerechnet eine sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Konferenz, die sich Marx zuwendet, mit Begriffen hantiert, die Friedrich Engels bereits 1883 als »den landläufigen Jargon« kritisierte, »in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen«: dass nämlich »derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben lässt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird«. Eine Antwort führt von hier aus zum zweiten Gedanken – der die Klammer am Ende des Veranstaltungstitels betrifft: Warum steht hier so ein verschämt-zweifelndes »(noch)«?
Man könnte noch ein Drittes anfügen: Eigentlich ist das tatsächliche Verhältnis von Gewerkschaften und einem an Marx anschließenden Denken mit dieser Einschränkung wohl ganz realistisch beschrieben. »Der Marxismus als System eignet sich nicht mehr zur politischen Theorie der Gewerkschaftsbewegung oder der Arbeiterbewegung überhaupt«, schrieb Walter Theimer 1951 in den »Gewerkschaftlichen Monatsheften«. Der deutsche Gewerkschafter sei »heute grundsätzlich staatsbejahend, evolutionär und reformistisch eingestellt. Das ist als Grundtatsache zur Kenntnis zu nehmen«. Auch »die weltanschauliche Abneigung breiter Kreise in den heutigen Einheitsgewerkschaften gegen den Marxismus« sei ein Faktor. Allerdings gehöre »ein partieller Marxismus« doch weiterhin zum Gedankengut der Beschäftigtenorganisationen.
Wie weit es damit her in der Geschichte des DGB in den vergangenen Jahrzehnten war und heute weiter ist, wäre zu diskutieren. Wie »partiell« war der Bezug auf ein Denken im Anschluss an Marx? Hans-Jürgen Urban hat vor nicht allzu langer Zeit einen kritischen Befund formuliert. Die »Gewerkschaften des Gegenwartskapitalismus« würden »den radikalen Kapitalismustheoretiker« als einen »toten Hund« behandeln. Urban sieht hier eine »Marx-Vergessenheit«, die »Folge einer Verschiebung im Orientierungsgerüst der Gewerkschaften« sein könne. Diese würden mehr und mehr – wie die Sozialdemokratie überhaupt – »normativ begründeten Appellen den Vorzug vor politökonomischen Kapitalismusanalysen« geben. Die Formel »Schlechtes Gewissen statt tragfähiger Analysen, Werte statt ökonomischer Gegenthesen« würde sich der DGB zwar nicht freiwillig zu eigen machen. Das Problem sei aber unübersehbar.
Kritische Verteidigung der linken Tradition
So sehr also Theimers Diktum von 1951 für die Gewerkschaften als Ganzes Gültigkeit beanspruchen kann, so bleiben doch die meist dissidenten, linken Strömungen gewerkschaftlicher Debatte in so einem Bild unterbelichtet. Noch jeder von links kommende Versuch einer »Erneuerung« der Gewerkschaften argumentierte unter Verweis auf Überlegungen, die mehr oder weniger stark an Marx anschließen. Zudem darf an dieser Stelle der Linksgewerkschafter und frühere SDS-Bundesvorsitzende Helmut Schauer zitiert werden, der einmal sagte: »Die erste Aufgabe besteht in der kritischen Verteidigung der linken Tradition. Unsere gegenwärtige Krise beruht nicht zuletzt auf einem massiven kollektiven Gedächtnisverlust der Linken.«
Ein Beispiel für so einen Ort der historisch-kritischen Selbstvergewisserung sind die »Kritischen Gewerkschaftsjahrbücher«, die in zwei Phasen von 1972 bis 1989 erschienen. Zunächst im Fischer-Verlag publiziert, startete die von Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch und Eberhard Schmidt herausgegebene Reihe mit dem Untertitel »Gewerkschaften und Klassenkampf«. Die Debatte dieser Zeit war nicht nur vom (langsam leiser werdenden) Echo des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968ff geprägt, sondern auch von einer zunehmenden »Skepsis gegenüber reformistischen Illusionen«, wie auch die »Gewerkschafts-Diskussion« in der Zeitschrift »Argument« zeigte: Die erste »große Krise« des »Goldenen Zeitalters« nachkriegskapitalistischer Entwicklung nährte diese Haltung, wie Bernd Röttger dies einmal nachgezeichnet hat. Gewerkschaftsorientierte Wissenschaft, so Frigga Haug 1978, könne nicht erst anfangen, »Lösungen zu erarbeiten, wenn das Gewinnmaximierungsprinzip als Voraussetzung akzeptiert ist«.
1978 wurde die Reihe bei Rotbuch fortgesetzt, die Herausgeber merkten zur Einstellung der Herausgabe seitens des Fischer-Verlages an, »dass bei dieser Entscheidung nicht wirtschaftliche, sondern politische Gründe den Ausschlag gaben, steht für uns außer Zweifel«. Das verwies auf einen Stimmungswandel, der auch in den Gewerkschaften durchschlug – deren Krise sah das Jahrbuch nicht nur dadurch geprägt, dass ihre »weitgehend auf Lohnfragen« beschränkte Strategie von immer komplexeren Herausforderungen ernsthaft in Frage gestellt sei. Sie komme auch »in der Unterdrückung innerverbandlicher Kritik und Opposition durch Ausschlüsse und Ausschlussdrohungen« zum Ausdruck.
Dokumentation, Chronik, Analysen, Debatten
Die Jahrbücher blieben auch nach dem Verlagswechsel ihrer ursprünglichen Konzeption treu. Jede Ausgabe schlosse ein Dokumentationsteil ab, der Daten zu Tarifabschlüssen, gewerkschaftlicher Organisierung und eine Chronik enthielt. Die einzelnen Jahrbücher widmeten sich Themenschwerpunkten, hielten aber auch Platz für aktuelle Debatten offen. Analysen der Betriebsratswahlen sowie kritische Auswertungen von Tarifrunden und Arbeitskämpfen finden sich in den Jahrbüchern ebenso wie fortlaufende Diskussionen über innergewerkschaftliche Streitfragen.
Hierbei ging es unter anderem um den Stellenwert der Sozialpartnerschaft, um Widersprüche zwischen Naturerhaltung und Beschäftigteninteressen, um Gewerkschaften in der Rüstungsindustrie und der Atomwirtschaft, um Konversionsmodelle. Anfang der 1980er Jahre rückten Fragen der Automatisierung, neuer Technologien und des Strukturwandels in bestimmten Branchen auf die Agenda. Diskutiert wurde ebenso über Probleme des gewerkschaftlichen Internationalismus. Auch das Thema Arbeitszeitverkürzung wird von den Jahrbüchern immer wieder aufgegriffen – als Hebel »gegen Arbeitslosigkeit und Leistungsdruck«.
Lang anhaltend blieb die innergewerkschaftliche Demokratie und der Pluralismus ein Streitfeld. Dass der DGB gegen kommunistische Aktive in den Betrieben vorging, hielt das Redaktionskollektiv der Jahrbücher für »nur zu durchsichtig«: Der »sozialpartnerschaftliche Flügel will durch strammen Antikommunismus, unterstützt durch Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit, in den innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen Punkte sammeln«. In diesen ging es nicht zuletzt um die Dominanz allzu sozialpartnerschaftlicher Vorstellungen. Mit der »Linkenhatz« werde versucht, so das Redaktionskollektiv, »politische Positionen, die an gesellschaftlichen Reformvorstellungen sowie an einer aktiven, notfalls konfliktorientierten Tarifpolitik auch in schwierigen Zeiten festhalten, in die linke Ecke zu drängen« und »politisch zu erledigen«.
»Nicht an dieser Struktur zerschellen«
Manches an dieser Debatte hat viel mit dem zeitgenössischen Hintergrund zu tun, anderes lässt sich als weiterhin aktuelle Substanzfrage gewerkschaftlicher Politik ansehen. In sich ändernder, aber weiterhin bestimmender Weise wirkte das Problem, das Marx 1865 noch in einer ganz anderen Entwicklungsetappe des Kapitalismus anspricht, in den 1970er und 1980er Jahren weiter und tut es heute immer noch: eine Strategie zu finden, die nicht auf einen »Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems« beschränkt bleibt, weil auf diese Weise die Gewerkschaften selbst in ihrem notwendigen »Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals« schwächer werden müssen.
Das bringt uns zurück zu Hans-Jürgen Urban. Der empfiehlt den Gewerkschaften ein »Marx-Consulting«, dies auch trotz der Tatsache, dass »Marx sicherlich ein Kind des 19. Jahrhunderts war«; seine Analysen hätten dennoch »erstaunlich Aktuelles zu den gewerkschaftlichen Strategiedebatten beizusteuern«. Das geht bei einem Verständnis ökonomischer Zusammenhänge los, mit der »eine Bescheidung der gewerkschaftlichen Forderungen auf Verteilungsneutralität« nicht zu vertreten ist. Es betrifft Marx als Ökologen und Arbeitsschützer.
Entsacheidend ist aber der Hinweis, dass sich »die Interessen von Kapital und Arbeit… in der kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung« materialisieren, einer Struktur, die dauerhaft »den Reproduktionsinteressen der Arbeit (sowie der Gesellschaft und Natur) entgegensteht und erzielte Erfolge stets zum Gegenstand neuer Kämpfe werden lässt«. Urbans Schlussfolgerung: »Sollen die Ideen von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und Humanität nicht an dieser Struktur zerschellen, muss sie selbst früher oder später zum Objekt normativ orientierter Transformationen werden. Und in diesem Transformationsprozess sind nicht zuletzt die Gewerkschaften gefordert.«
Man kann das als Antwort auf die auf der eingangs erwähnten Konferenz zu diskutierende Frage »Wie viel Marx brauchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer heute (noch)?« betrachten.
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