Wie Reichtum und Armut zusammenhängen
Der Autor der 300 Jahre alten »Bienenfabel« beeindruckte Karl Marx und Friedrich August von Hayek. Warum seine Beobachtungen noch immer aktuell sind.
Man muss schon einiges tun, um von Karl Marx (1818-1883) und gleichzeitig von Friedrich August von Hayek (1899-1992), einem der lautesten Propagandisten des Antikommunismus und des marktradikalen Neoliberalismus, gelobt zu werden. Karl Marx nannte ihn »einen ehrlichen Mann und hellen Kopf«, Hayek nannte ihn einen »Meisterdenker«. Die Rede ist von Bernard Mandeville (1670-1733), Spross einer niederländischen Arzt- und Offiziersdynastie, der selbst Medizin und Philosophie studierte und sich auf beiden Gebieten profilierte.
Als philosophischer Autor legte er 1705 ein Gedicht unter dem Titel »Bienenstock« vor, das er 1714 als »Bienenfabel« in Prosa herausbrachte und 1723 in erweiterter Form unter dem Titel »Bienenfabel, oder private Laster, öffentliche Vorteile« (»The Fabel of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits«) erscheinen ließ.
… dass in einer Nation, wo Sklaven nicht erlaubt sind, der sicherste Reichtum aus einer großen Menge schwer arbeitender Armer besteht.
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Marx erwies dem Autor seine Referenz, stammte doch eines der längsten Zitate im ersten Band des »Kapital« (1867) von Mandeville. Es dreht sich erst um den Schutz des Eigentums, den Fleiß von denen »aus der untersten Klasse« und den Interessen »aller reichen Nationen« und geht dann so weiter: »Aus dem bisher Entwickelten folgt, dass in einer Nation, wo Sklaven nicht erlaubt sind, der sicherste Reichtum aus einer großen Menge schwer arbeitender Armer besteht. (…) Um die Gesellschaft glücklich und die Leute selbst in den niedrigsten Verhältnissen zufrieden zu machen, ist es notwendig, dass ein beträchtlicher Teil davon sowohl unwissend wie auch arm sei. Kenntnisse vergrößern und vervielfachen unsere Bedürfnisse, und je weniger Dinge ein Mensch begehrt, umso leichter kann er zufriedengestellt werden« (Zitat nach der von Marx eigener Übersetzung leicht abweichenden, modernisierten Übersetzung des Aufbau Verlages, Berlin 1957).
Die Aktualität der Bienenfabel
Mandevilles Einsicht in den genuinen, kausalen Zusammenhang der parallel verlaufenden Entwicklung von steigendem Reichtum und wachsender Armut beeindruckte Marx. An Aktualität hat die Erkenntnis nichts verloren, wie der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) kurz vor seinem Tod feststellte, als er sich in zorniger Anklage mit »der neuen Umverteilung« beschäftigte. Der Anlass für Wehlers Streitschrift war der Umstand, dass selbst gestandene SozialdemokratInnen wie damals Franz Müntefering die Existenz einer Unterklasse in Deutschland und die Tatsache der Vererbung von Armut im Namen des staatsreligiösen Mythos der »sozialen Marktwirtschaft« strikt leugneten. Wehler wandte sich zudem gegen »namhafte deutsche Soziologen«, die wachsende soziale Ungleichheit bei gleichzeitig steigendem Reichtum bestritten und dafür das postmoderne Postkartenidyll der »bunten Vielfalt der Individualisierung und Pluralisierung« in der schönen neuen Welt der »Marktwirtschaft« beschworen.
Der über 300 Jahre alte Text von Mandeville bewegt sich munter hin und her zwischen Ironie, Satire und Provokation. In der Substanz zielt er auf eine scharfe Kritik der damals herrschenden Ungleichheit. Er vermag heute noch gegen die Ignoranz der affirmativen Soziologie, des gehobenen Feuilletons und der Sprecher der politischen Klasse zu immunisieren, gegen die der große alte Mann der deutschen Sozialgeschichte seine Stimme erhob.
Die OXI Januarausgabe beschäftigte sich mit der Verteilung von Reichtum und Armut. OXI abonnieren
Bernard Mandeville, Die Bienenfabel, hg. von Walter Euchner in der Übersetzung des Aufbau-Verlages, Berlin 1957, im Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1968.
Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, C.H.Beck Verlag, München 2013.
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