Wirtschaft
anders denken.

Wie Sozialstaat und Gleichheit wieder zu Rennern wurden

09.06.2019
andreas160578 / pixabay.com

Die Zahl derer, die sich für umfassende sozialstaatliche Absicherung und möglichst geringe Ungleichheit der Einkommen aussprechen, hat in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen. 

Vor ein paar Tagen machten Zahlen über die Einstellungen zu Demokratie, Sozialstaat und Institutionen die Runde. Die Studie der CDU-nahen Adenauer-Stiftung sorgte vor allem wegen der im Osten deutlich höhere Unzufriedenheit mit der real existierenden Demokratie für Aufmerksamkeit – ein alter Hut der Forschung über politische Einstellungen. In dem Zahlenwerk steckt aber noch mehr, eine Entwicklung verdient Beachtung: Die Zahl derer, die sich für umfassende sozialstaatliche Absicherung und möglichst geringe Ungleichheit der Einkommen aussprechen, hat in der jüngeren Vergangenheit deutlich zugenommen.

Dabei liegt ein fast sprunghaftes Wachstum schon ein paar Jahre zurück, die Zustimmung zu Sozialstaat und Gleichheit explodiert eine Legislaturperiode nach dem Ende der rot-grünen Koalition geradezu. Auf die Frage »Wie wichtig ist Ihnen, dass vom Staat eine möglichst umfassende soziale Absicherung gewährleistet wird?«, hatten 2005 nur 32 Prozent der Befragten mit »besonders wichtig« geantwortet, 2009 waren es schon 59 Prozent und 2018 sagten dann 61 Prozent, dies sei ihnen »sehr wichtig«. Dass »Einkommensunterschiede möglichst gering gehalten werden«, sahen 2005 nur 23 Prozent Prozent als »besonders wichtig« an, 2009 waren es 40 und 2018 44 Prozent.

Es liegt nahe, dies mit zwei Faktoren in Beziehung zu setzen: erstens mit der real erfahrenen, statistisch belegten, sichtbarer gewordenen Zunahme von sozialer Entsicherung, Prekarisierung, Armutsgefährdung etc. Und zweitens mit einem sich (auch dadurch) langsam aber stetig von der »neoliberalen« Kümmere-dich-gefälligst-selbst-Neigung (wieder) entfernenden öffentlichen Diskurs. Wir sehen hier also womöglich ein Echo der Agenda-Reformen, ausgehend auch von einer veränderten politischen, medialen Bearbeitung von sozialen Schieflagen.

Der Unterschied dürfte vor allem gegenüber der nicht zuletzt journalistisch angefeuerten Propaganda gegen die »soziale Hängematte« feststellbar sein, die dem Hartz-Gesetzespaket vorausging. Dafür geben die Zahlen aus Ostdeutschland ein Indiz, mit denen ein Vergleich zum Jahr 1999 möglich wird: Damals sagten dort 62 Prozent, ihnen sei »eine möglichst umfassende soziale Absicherung« besonders wichtig. Bei der nächsten Erhebung 2005 meinten dann nur noch 42 Prozent der Ostdeutschen, ihnen sei möglichst umfassende soziale Absicherung« besonders wichtig – ein Einbruch um 20 Prozentpunkte. Die politische Dauerbeschallung, die sozialstaatliche Absicherung in einen moralischen Makel und ein Versagen derer umtopfte, die auf Unterstützung angewiesen sind, hatte offenbar Wirkung gezeigt.

Echo der Agenda und der Krisenpolitik

Eine zweite Triebkraft im Hintergrund, mit der der Wandel der öffentlichen Meinung in Sachen Sozialstaat und Gleichheit erklärt werden könnte: die Finanzkrise 2008/2009 und eine Politik, die nun aus Systeminteresse heraus zu milliardenschwerer »Absicherung« für taumelnde Banken bereit war. Dies zeigte vielen Menschen einerseits, dass die Rede vom fehlenden Geld, vom engen Gürtel, von der Eigenverantwortung und so weiter eine des politischen Wollens war – Umverteilung, in diesem Fall die Sozialisierung der Risiken privater Reichtumsmehrung, ist eine Frage der Prioritäten, und die können sich ändern, können politisch geändert werden.

Dass sich die Zahlen dieser Umfrage auch in der dritten Erhebung 2018 noch in Richtung Mehrheiten für Sozialstaat und Gleichheit bewegten, mag mit der konjunkturell günstigen Phase zu tun haben, in der wirtschaftliche Leistung und daraus resultierendes privates Vermögen vielen Frage als naheliegend erscheinen ließ, ob da nicht mehr drin ist für gesellschaftliche Solidarität und die gegebenenfalls nötigen Regeln, diese wiederherzustellen oder zu vertiefen.

In der hier vorgeschlagenen Interpretation der Zahlen liegt eine politische Pointe: Es lohnt sich, soziale Missstände, Ungerechtigkeiten und den ideologischen Nebel zu kritisieren, der gern um eine Politik von Umverteilung nach oben und sozialstaatlichen Rückzug gelegt wird. Es ist nicht sinnlos, für Änderungen zu werben, die einen schwachen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Man kann Stimmungen drehen, Meinungen ändern sich wieder.

Was wollen die AnhängerInnen der Parteien?

Die Zahlen der Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung ermöglichen darüber hinaus eine Aufschlüsselung nach Parteipräferenzen: Unter den AnhängerInnen von Linkspartei und SPD sagen über zwei Drittel (72 und 68 Prozent), ihnen sei sehr wichtig, »dass vom Staat eine möglichst umfassende soziale Absicherung gewährleistet wird«, bei denen der Grünen sind es auch noch 59 Prozent, das entspricht nahe dem Gesamtdurchschnitt von 61 Prozent. Die geringste Zustimmung findet sich bei der rechtsradikalen AfD, deren AnhängerInnen finden »eine möglichst umfassende soziale Absicherung« nur zu 52 Prozent »sehr wichtig«.

Möglichst geringe Einkommensunterschiede werden ebenfalls vor allem bei den AnhängerInnen von Linkspartei und SPD als »sehr wichtig« betrachtet (58 und 54 Prozent), hier liegen die Grünen-WählerInnen (39 Prozent) deutlich unter dem Gesamtdurchschnitt von 44 Prozent. Noch zwei Aspekte: »Chancengleichheit in der Ausbildung genießt bei SPD- und Linken-Anhängern gegenüber AfD-Anhängern einen um 18 Punkte höheren Stellenwert«, so die KAS-Studie.

Und da Umverteilung, Einkommensfragen und Sozialstaat immer auch etwas mit Eingriffen ins Eigentum zu tun haben, sind auch die diesbezüglichen Zahlen von Interesse – hier sind die Unterschiede zwischen den Anhängerschaften der Parteien laut Adenauer-Stiftung auch am stärksten: »Einer völlig freien Verfügung über sein Eigentum stimmen die AfD-Anhänger am stärksten zu, während die Anhänger der Linken erwartungsgemäß die schwächste Zustimmung zeigen«, heißt es da. Konkret: Unter AnhängerInnen der Linkspartei sagen nur 55 Prozent, es sei »sehr wichtig«, dass man »völlig frei über sein Eigentum verfügen kann«, bei denen der Grünen 62 Prozent  und denen der SPD 77 Prozent.

Foto: andreas160578 / pixabay.com

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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