Wirtschaft
anders denken.

Wie Unternehmen Schüler manipulieren

Unternehmen und Verbände versuchen seit Jahren, Einfluss auf den Schulunterricht und das Unterrichtsmaterial zu nehmen. Die Gewerkschafterin Martina Schmerr über die Reaktionen der Eltern und die Einschätzung der GEW.

21.10.2016
Martina Schmerr
Martina Schmerr ist Referentin im Organisationsbereich Schule der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Unternehmen und ihre Verbände versuchen seit Jahren, Einfluss auf den Schulunterricht zu nehmen. Nehmen diese Aktivitäten zu?

Schmerr: Wir beobachten eine Zunahme der Aktivitäten von verschiedenen Akteuren. Sehr augenfällig ist das im Bereich der Unterrichtsmaterialien. Dabei tun sich Finanzdienstleister und Versicherungskonzerne besonders hervor, und dies vermehrt seit Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise in den Jahren 2008/09. Wenn man genau hinschaut, lässt sich hinter vielen Angeboten ein regelrechtes Netzwerk von Akteuren und Interessenvertretern erkennen. Diese publizieren zum Beispiel Standards für die »Ökonomische Bildung« und die Ausbildung von Lehrkräften. Sie machen Fortbildungsangebote, veranstalten Projekte und Schulwettbewerbe, fördern Kooperationen zwischen Schule und Wirtschaft und machen sich für ein Pflichtfach Wirtschaft stark. Wir haben es hier mit einem Wirtschaftslobbyismus zu tun, der massiv zunimmt, und der die inhaltliche Ausrichtung sowie die curriculare Verortung der sozioökonomischen Bildung an Schulen beeinflussen will.

Worin liegt das Interesse bei den Unternehmen?

Das ist unterschiedlich. Bei vielen Materialien zu ökonomischen Themen lässt sich das Interesse erkennen, ein bestimmtes Denken in den Köpfen junger Menschen zu verankern: Sie sollen die Ökonomisierung der Gesellschaft akzeptieren und den Märkten vertrauen. Auch die Argumente, die angeführt werden, um das Fach Wirtschaft einzuführen, sprechen in der Regel für ein solch verkürztes Verständnis von Ökonomie.

Ein weiteres Motiv kann im so genannten Green- oder Whitewashing liegen. Da geht es darum, fragwürdige Firmenaktivitäten vergessen zu machen und das eigene Image aufzubessern. Bei anderen Aktivitäten steht im Vordergrund, zukünftige Kunden zu gewinnen – sei es, weil Kinder zunehmend familiäre Kaufentscheidungen beeinflussen oder weil sie direkte Konsumenten sind, etwa bei Süß- oder Spielwaren. Schließlich gibt es Unternehmen, deren Hauptinteresse darin besteht, sich bei Nachwuchskräften bekannt zu machen.

Was sorgt Sie am meisten?

Am häufigsten sorgen wir uns über manipulative oder unverhohlen werbende Unterrichtsmaterialien. Zum Beispiel, wenn Unternehmen ihre Produktpalette, ihre Firmenphilosophie und ihre ökonomische Weltsicht in den Unterricht tragen. Hier ist zu hoffen, dass Lehrkräfte und SchülerInnen dem nicht aufsitzen. Wenn wir jedoch in Entwürfen für Bildungspläne lesen, dass 15-Jährige die Vorteile von Bausparverträgen oder die Unterschiede zwischen Aktien und Obligationen lernen sollen, fragen wir uns natürlich auch: Wie wird hier der Bildungsbegriff und der Bildungsauftrag von Schulen verändert?

Wie beurteilen Sie Versuche, ein Pflichtfach Wirtschaft im Schulunterricht einzuführen?

Das ist in Baden-Württemberg ja gerade so entschieden worden. Ich halte das für gravierend, dass sich hier die Wirtschaftslobby mit ihrer Forderung durchsetzen konnte. Das geht zum einen auf Kosten anderer Fächer und Bereiche. Zum anderen, und das halte ich für noch problematischer, werden die Lehrpläne und dann natürlich auch die Ausbildung der LehrerInnen an einem einseitigen Modell von Ökonomie ausgerichtet. Wir finden, SchülerInnen soll vermittelt werden, dass Wirtschaft und Gesellschaft gestaltet und verändert werden können. Dieser Anspruch droht verloren zu gehen.

Haben Sie Erkenntnisse, wie diese Einflussnahmen wirken?

Nur ein Beispiel: Eine jüngere, allerdings nicht repräsentative Studie der Universität Hannover – sie wurde im Rahmen des Forschungsprojektes »Denkweisen der Globalisierung« der Hans Böckler-Stiftung erstellt – hat ergeben, dass Jugendliche überwiegend eine unternehmernahe und marktaffine Perspektive bevorzugen. In gesellschaftlicher Teilhabe sehen sie kein Grundrecht, sondern sie sehen diese als Ergebnis von Wohltätigkeit an. Und bei dem Begriff »Partizipation« denken sie zuerst an ihre Rolle als Konsument. Nur drei von 210 befragten Jugendlichen waren sich bewusst, dass ArbeitnehmerInnen auch Rechte haben. Das kommt doch einem Notstand gleich, noch eher in der politischen, denn in der ökonomischen Bildung.

Eine jüngere Studie hat ergeben, dass Jugendliche überwiegend eine unternehmernahe Perspektive bevorzugen.

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Wie reagieren die Lehrerinnen und Lehrer auf die Angebote und Einflussnahmen?

Das ist leider empirisch nicht untersucht und schwer zu sagen. Wegen des hohen Anteils von Lehrkräften, die fachfremd unterrichten, und aufgrund der zunehmenden, auch zeitlichen Belastungen im Lehrberuf gehen wir davon aus, dass vor allem kostenlose Materialien willkommen sind. Zumindest brüsten sich einige Anbieter von Materialien zu Wirtschaftsthemen gerne mit hohen Abrufzahlen. Von unseren KollegInnen und auch von SchulleiterInnen hören wir freilich auch oft, dass einschlägiges Material sofort in den Papierkorb wandert. Manche der Materialien sind allerdings auch gut und können sehr wohl im Unterricht verwendet werden.

Und wie reagieren die Eltern?

Unserer Erfahrung nach reagieren die Eltern umso allergischer, je jünger die Kinder sind und je kommerzieller oder direkter werblich diese Materialien ausgerichtet sind. Bei Produktwerbung – vor allem, wenn es sich um gesundheitlich fragwürdige Markenartikel handelt – hört für viele Eltern der Spaß auf. Auch bei allzu offenkundiger Manipulation gab es gelegentlich Elternproteste. Bei subtileren Materialien, die von außen betrachtet auf den ersten Blick gut oder neutral aussehen, wird meist das Problem nicht gesehen. Viele Wirtschaftsakteure kaschieren ja ihre Urheberschaft, indem sie Agenturen oder Stiftungen mit der Produktion von Materialien beauftragen. Wenn Eltern und Lehrkräfte nicht schnell und klar erkennen können, wer der eigentliche Absender ist, wird eine Beurteilung erschwert.

Wo liegen die Vorteile dieser Aktivitäten? Immerhin bekommen die Schüler auf diese Weise doch Kontakt mit dem wirklichen Wirtschaftsleben.

Die Öffnung der Schule in Richtung Wirtschaft oder Arbeitsmärkte hat eine lange Tradition. Und freilich gibt es viele positive, unverfängliche und produktive Beispiele. Vor allem die schulische Berufsorientierung braucht die Kooperation mit Unternehmen. Allerdings sollte der Kontakt mit dem »Wirtschaftsleben« ebenso wenig einseitig sein wie das Unterrichtsmaterial. Zu einer guten Berufsorientierung gehört aus Sicht der Gewerkschaften, dass SchülerInnen im Laufe von Praktika oder Betriebserkundungen auch die Perspektive der ArbeitnehmerInnen kennenlernen, dass sie etwas über Fragen der Lebensplanung, der unterschiedlichen Interessen im Betrieb oder auch der Möglichkeiten mitnehmen, im Betrieb mitzuwirken und mitzugestalten.

Fragwürdig wird es jedoch dann, wenn die Kooperation mit Unternehmen finanzielle Nöte wettmachen soll. Anders ausgedrückt: wenn die Schulen und Lehrkräfte deshalb mit Unternehmen kooperieren, weil der Staat zu wenig Geld für die öffentliche Bildung und gute Schulmaterialien zur Verfügung stellt. Das birgt Gefahren. Denn dann wird unter Umständen die pädagogische Freiheit einer Art »Geschäftsbeziehung« untergeordnet und der schulische Bildungsauftrag einseitig von privatwirtschaftlichen Interessen vereinnahmt.

Fragwürdig wird es, wenn die Kooperation mit Unternehmen finanzielle Nöte wettmachen soll.

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Was wollen Sie als GEW unbedingt geändert haben?

Wenn inzwischen diese privaten Unterrichtsmaterialien in millionenfacher Auflage frei verfügbar sind und in Schulen verbreitet werden und wenn zeitgleich die Ausgaben für reguläre offizielle Schulbücher sinken, dann brauchen Schulen und Lehrkräfte mindestens mehr Orientierung. Denkbar wäre eine öffentliche Anlaufstelle, die Transparenz über die Produzenten und Finanziers dieser privaten Materialien herstellt, die Beschwerden aufgreift und überprüft und die Empfehlungen gibt. Und noch wichtiger ist: Die Schulen und Lehrkräfte brauchen mehr gutes Schulmaterial, das öffentlich verantwortet und geprüft ist, auf das sich Schulen inhaltlich verlassen können. Dafür muss mehr Geld investiert werden.

Wie reagieren Sie auf die doch berechtigte Kritik, an Schulen werde kaum Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge vermittelt?

Das ist richtig, da muss mehr getan werden. Wir brauchen vor allem in der Ausbildung der LehrerInnen überzeugende interdisziplinäre Konzepte, die Elemente von Politik, Soziologie und Ökonomie integrieren, damit das Thema Wirtschaft ganzheitlich im Unterricht behandelt werden kann. Angesichts des zunehmenden Lobbyismus und der schlechten Schulbuchausstattung ist es aus unserer Sicht als Bildungsgewerkschaft besonders wichtig, dass die jetzigen und die angehenden Lehrkräfte in Ausbildung und Fortbildung kompetent gemacht werden, damit sie die privaten Lehr- und Lernmaterialien kritisch beurteilen können. Es ist zuallererst die Verantwortung der zuständigen Ministerien, in diese eben skizzierte Richtung zu arbeiten und damit dem zunehmenden Lobbyismus und Kommerz an Schulen etwas entgegenzusetzen. Dazu gehört auch, die Politische Bildung zu stärken. Schließlich brauchen wir eine Schule für die Demokratie und nicht eine Schule, die zum Spielfeld für private und wirtschaftliche Interessen wird.

Welche Erfolge haben Sie bei diesem Konflikt in den letzten Jahren erreicht?

Wir pflegen eine lange und gute Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung. Die publiziert selbst Unterrichtsmaterialien zu diesen Themen, die auch der Arbeitnehmerperspektive gerecht werden. Das nehmen viele KollegInnen dankbar an. Wir sind zusammen mit den anderen Gewerkschaften im Rahmen der gewerkschaftlichen Initiative Schule und Arbeitswelt aktiv. Zunehmend kritisieren auch WissenschaftlerInnen und NGOs den Lobbyismus im Schulbereich, wie etwa lobbycontrol oder auch foodwatch.

Es gibt also mehr Unterstützer, mit denen wir gut zusammenarbeiten. Und es gibt sehr wohl einzelne Erfolge: So haben aufgrund von öffentlichem Druck und Protesten von Lehrkräften einige Bundesländer den Schulen die Teilnahme an einem Wettbewerb des Konzerns Amazon untersagt. In Niedersachsen hat das Kultusministerium die Kooperation einiger Gymnasien mit der Erdöl- und Erdgasindustrie beendet. Und in Nordrhein-Westfalen schritt das Ministerium gegen einen Braunkohle-Werbefeldzug von RWE ein. Das Thema Wirtschaftslobbyismus an Schulen ist inzwischen in der Öffentlichkeit ständig präsent. Das ist ein Erfolg.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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