Wirtschaft
anders denken.

Ein solidarisches Europa? Bausteine einer grundlegenden Korrektur der EU

11.07.2018
San Jose / Hayden120 , Lizenz: CC BY-SA 3.0

Es gibt solidarische europäische Alternativen zu neoliberaler Austeritätspolitik und nationalstaatlichen Gegenkonzepten in der EU: mehr Europa, aber anders. Wir müssen mit der neoliberalen Logik des Maastrichter Vertrags brechen. Ein Vorabdruck aus dem transform! Jahrbuch 2018 aus dem VSA-Verlag.

Auf den letzten Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU wurde deutlich, in welch angeschlagenem Zustand sich der europäische Staatenbund befindet. Die Europäische Union steht aktuell vor der größten Bewährungsprobe seit ihrer Gründung vor 60 Jahren. Der angestrebte Konvergenzprozess erweist sich zusehends als illusionär. Vor allem infolge der Wirtschaftskrise, die im Jahr 2008 einsetzte, setzte eine Auseinanderentwicklung der nationalen Lebensniveaus und der wirtschaftlichen Ressourcen und Entwicklungspotenziale ein. 

Faktisch ist auch die Konzeption eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gescheitert. Das ursprüngliche Motiv, die Sicherung des Friedens in Europa nach der Erfahrung von zwei verheerenden Weltkriegen, ist heute zur Selbstverständlichkeit geworden. Mit dem unkontrollierten Zustrom von Migranten ist die Frage nach der Sicherung der Grenzen und vielmehr noch das unzureichende EU-Asylsystem zum Problem geworden. Die Reisefreiheit im Schengen-Raum, eine der größten Errungenschaften der EU, wurde demzufolge eingeschränkt.

Kontrollverluste der Nationalstaaten

Die Finanzkrise und ihre Folgen haben die Schwächen der EU-Staatengemeinschaft schonungslos aufgedeckt. Das starke Anschwellen der Migrationsströme hat die Spannungen verstärkt. Nicht nur die hohen Flüchtlingszahlen, auch die Einführung der ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit haben Befürchtungen vor einer Überlastung der Sozialsysteme, steigender Arbeitslosigkeit und Überfremdung wachsen lassen. Dazu gesellt sich eine Skepsis gegenüber Globalisierung und Freihandel. Auf diesem Nährboden konnten national-chauvinistische Kräfte stark werden, die nicht nur die EU, sondern internationale Übereinkommen generell in Frage stellen.

Der Euro, die vermeintliche Krönung der europäischen Integration, steht heute im Zentrum von Europas Krise. Die Mitverantwortung der EU an den sozio-ökonomischen Defiziten in den Nationalstaaten wurde durch die Einführung des Euro verstärkt. Die Einheitswährung erweiterte dank niedrigerer Zinsen und leicht zugänglicher Kredite in vielen Ländern die Spielräume für öffentliche und private Verschuldung, die jedoch auch zu Fehlausgaben und Blasenbildungen führte. Zudem wurden die nationalen Wirtschaftspolitiken auch nicht nur ansatzweise in dem Maß aufeinander abgestimmt, wie es in einer Währungsunion der Fall sein sollte. Dazu kam die beliebte Masche, die Verantwortung für Fehler auf die europäische Ebene abzuschieben.

Die BritInnen haben sich angesichts der zutage tretenden Defizite mit einer knappen Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Was jahrzehntelang als spleenige Minderheitenposition immer mal wieder im Raum stand, ist Tatsache geworden. Großbritannien, die einstige Weltmacht, das drittgrößte Mitgliedsland und die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, will die Europäische Union bis zum 29. März 2019 verlassen. Aber die Austritts- und Nachfolgebedingungen stellen sich für die 27 verbleibenden Mitgliedsländer und das ausscheidende britische Königreich als kaum lösbares Problem dar. Die Löcher, die der Brexit in den EU-Haushalt reißt, sind nur eines der vielen ungelösten Probleme.

Trendwende?

Nach Jahren von Rezession und fragiler Erholung wachsen die Wirtschaften in der Euro-Zone und der EU wieder. Dies ist nicht zuletzt der flexibleren Interpretation der Haushalts- und Verschuldungsregelungen, dem Einsatz von europäischer Investitionsbank und Junckerfonds und vor allem der expansiven Geldpolitik der EZB zu verdanken. Im Juli 2012 erklärte EZB-Präsident Draghi: Innerhalb ihres Mandats sei die EZB bereit, zu tun, was immer es brauche (»whatever it takes«), um den Euro zu erhalten. Damit verbunden waren Anleihenaufkäufe und andere Instrumente der quantitativen Lockerung, die andere Zentralbanken längst erfolgreich erprobt hatten. Seither hat sich die Bilanzsumme der EZB um ein Drittel erhöht und der Einlagenzinssatz ist negativ geworden. Die unkonventionelle Geldpolitik hat die Finanzmärkte beruhigt, sie hat aber die wirtschaftlichen und finanziellen Strukturprobleme nicht kuriert und hat zudem schädliche Nebenwirkungen. Wenn Finanzierungskosten zu niedrig sind, führt das zu Fehlinvestitionen und schafft den Nährboden für neue Wertberichtigungen und Krisen.

Europas Politiker haben es versäumt, die strukturellen Probleme der Währungsunion anzupacken. Die längst überfällige Restrukturierung des europäischen Bankensektors verläuft nur sehr schleppend. Die Staatshaushalte sind unterfinanziert, was bislang noch durch die Niedrigzinspolitik der EZB kaschiert wird. In Griechenland und Italien ist die Industrieproduktion um je rund ein Viertel eingebrochen. Und die Arbeitslosigkeit liegt insgesamt auf untragbar hohem Niveau.

Das Versprechen einer Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse im Euro-Regime ist nicht durch Maßnahmen unterlegt. Deutschland hatte mit der Einheitswährung einen entscheidenden Zusammenhang ausgenutzt: Wettbewerbsunterschiede wurden nun nicht mehr durch Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen konterkariert. Die Politik der deutschen Bundesregierungen, die Exportwirtschaft und damit das wirtschaftliche Wachstum einseitig dadurch zu befeuern, dass man sich der kollektiven Nachfrage im europäischen Binnenmarkt bemächtigt, konnte in der Währungsunion richtig zum Zuge kommen. Da unterlegene Nachbarn nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung ihrer nationalen Währung hatten, wuchs der Druck, intern durch rabiate Senkung der Lohnkosten abzuwerten. Wo dies nicht geschah, stieg die Verschuldung. Ein knappes Jahrzehnt »funktionierte« dieses »Gläubiger-Schuldner«-System scheinbar.

Weißbuch der EU-Kommission zum 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge 

Im März 2017 hat die EU einen erneuten Diskussionsprozess zur Zukunft des vereinten Europas eingeleitet und ein Weißbuch mit möglichen Szenarien zur weiteren Entwicklung des vereinten Europas vorgelegt. Zusätzlich hat sie fünf Reflexionspapiere erarbeitet, darunter eines zur Wirtschafts- und Währungsunion sowie zur sozialen Dimension der europäischen Integration. Im sogenannten »Nikolauspaket« vom 6. Dezember 2017 hat sie ihre Pläne zur Weiterentwicklung der Währungsunion weiter konkretisiert.

Kurzfristig will die Kommission bis 2019 die Bankenunion reformieren, die Kapitalmarkt-union beschließen und mittelfristig – von 2020 bis 2025 – die Finanzstruktur im Euroraum, den Euro-Stabilisierungsmechanismus ESM sowie die Architektur der Währungsunion umgestalten. Um mittelfristig eine echte Finanzunion zu erreichen, seien darüber hinaus weitere Maßnahmen zur Risikoeindämmung und -teilung erforderlich. So bemängelte die Kommission zu Recht, dass es im Euroraum keine den US-Staatsanleihen vergleichbare gemeinsame sichere Anlage gibt. Vielmehr haben die Staatsanleihen der Mitgliedstaaten unterschiedliche Risikoeigenschaften, was sich in Krisenzeiten auf die Bankbilanzen auswirkt und zu unterschiedlichen Kredit- und Zinsstrukturen in den verschiedenen Staaten führt. Um diese Differenzen zu beseitigen, müsse über die Einführung einer sicheren europäischen Anlage nachgedacht werden, so die Kommission weiter.

Mittelfristig plädiert sie für die Einführung einer europäischen makroökonomischen Stabilisierungsfunktion. Diese solle bei schweren asymmetrischen Schocks, die nur einzelne Staaten erfassen, die nationalen Haushaltsstabilisatoren ergänzen – aber keine dauerhaften Transfers beinhalten. Ein solches Instrument könne auf verschiedene Weise ausgestaltet werden. Eine Option sei eine Schutzregelung für die öffentlichen Investitionen desjenigen Staates, der von einer Krise betroffen ist. Die Kommission erwägt aber auch die Einführung einer Europäischen Arbeitslosenversicherung, die die nationalen Instrumente ergänzen soll, oder einen »Rainy-Day-Fonds«, aus dem ein Staat Mittel abrufen könnte, um einen Schock abzufedern. Schließlich könne auch ein eigenständiger Haushalt der Eurozone eine stabilisierende Funktion übernehmen.

Die Kommission deutet auch mögliche Veränderungen an der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion an. Dazu zählt die Einführung eines europäischen Schatzamts, das für die wirtschafts- und finanzpolitische Überwachung des Euroraums, die makroökonomische Stabilisierung und den Euro-Haushalt sowie die Ausgabe von sicheren europäischen Anlagen zuständig wäre. Auch ein Europäischer Währungsfonds – als Alternative zum Internationalen Währungsfonds mit Sitz in Washington – könnte stabilisierend auf die Eurozone wirken, so die Kommission.

Macrons Vorschläge zur Stärkung der Eurozone und EU

Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich in diese Debatte zur Stärkung der Eurozone und EU eingeschaltet. Sein Ziel: angesichts der schwierigen Lage Frankreichs und anderer europäischer Mitgliedsländer durch gemeinsame Zukunftsinvestitionen einen Erneuerungsprozess einzuleiten. Die Vorschläge für einen gemeinsamen Haushalt, einen gemeinsamen Finanzminister und neue Formen der Finanzierung zielen in die gleiche Richtung. Priorität wäre ein Budget für die Eurozone, das unterschiedliche Finanzierungsformen einschließen kann. Dadurch könnten seiner Ansicht nach dauerhafte Haushaltstransfers von den stärkeren Ländern hin zu denjenigen stattfinden, die durch die Austeritätspolitik der Eurozone benachteiligt sind bzw. sonst wirtschaftlich abgekoppelt zu werden drohen. Dieser gemeinsame Haushalt würde durch die Steuereinnahmen der einzelnen Länder finanziert. Ein gesondertes Eurozonen-Parlament würde die nötige politische Übersicht und Verlässlichkeit gewährleisten. Eine solche mit Finanzmitteln ausgestattete Einheit könnte es dann Ländern wie Frankreich ermöglichen, die Ausgaben für Infrastruktur zu erhöhen und Arbeitsplätze zu schaffen, ohne die Haushaltsdefizitgrenzen zu durchbrechen.

Grundsätzlich ist die europapolitische Offensive des französischen Präsidenten zu begrüßen. Allerdings gehen seine Vorschläge weit über das in der gegenwärtigen Situation Realisierbare hinaus. Im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung vertritt Macron ein dezidiert anderes makroökonomisches Verständnis für Finanzpolitik. Seine Vorschläge für einen Umbau des europäischen Krisenfonds ESM und seine Distanz zur Austeritätspolitik zeigen, dass er einen anderen Weg zur Überwindung der Strukturschwächen der EU und des Euro-Raumes vertritt als der frühere deutsche Finanzminister Schäuble. Wie die deutsch-französische Meseberger Erklärung vom Juni 2018 beweist, treffen seine Pläne aber auch in der neuen Bundesregierung mit dem sozialdemokratischen Finanzminister Scholz auf erbitterte Gegenwehr. Eine Unterstützung des europapolitischen Reformansatzes Macrons ist in meinen Augen wichtig, selbst wenn seine arbeitsmarktpolitischen »Reform«vorschläge in Frankreich zu Recht auch reichlich Widerspruch auslösen.

Eine Haushaltsunion wäre sinnvoll. Zumindest könnte sie der Eurozone einen vernünftigen Ausweg aus ihrer momentanen Sackgasse bahnen. Macrons Haltung ist nicht nur eine andere europäische Wertorientierung. Sie ist auch eine Voraussetzung für den Erfolg seines Wirtschaftsprogramms. Ohne größere fiskalische Flexibilität in der Eurozone wird sich Frankreich nicht aus seiner Arbeitsmarktmisere befreien können. Also hängt der weitere Weg Frankreichs, aber auch anderer europäischer Staaten, entscheidend von der Kooperation der deutschen Hegemonialmacht ab. Macron hat der zu erwartenden deutschen Reaktion bereits im Vorfeld widersprochen: »Ohne Transfers haben die Randstaaten keine Möglichkeit aufzuholen, und dies wird den politischen Extremisten in die Hände spielen.«

Ein zentrales Budget für die Euro-Zone – Charakteristikum einer jeden funktionierenden Währungsunion – könnte den Konvergenzprozess unter den Mitgliedstaaten stark verbessern. Im Rahmen einer ersten Vorstufe dieses Budgets würden eigene Finanzmittel zur Verfügung gestellt  (zum Beispiel Teile einer gemeinsamen Finanztransaktionsteuer sowie ein kleiner Anteil an einer harmonisierten Körperschaftsteuer), und es wäre denkbar, das Budget mit der Fähigkeit zur Kreditaufnahme zu versehen. Zur Überwindung der bestehenden Konstruktionsmängel ist entscheidend, dass die Währungsunion einen Weg einschlägt, der gemeinschaftliche Finanzmittel erschließt, mit denen die Investitionsschwäche bekämpft werden kann. Gleichzeitig sollte der ESM in das europäische Gemeinschaftsrecht einbezogen und in einen Europäischen Währungsfonds im eigentlichen Sinne umgewandelt werden. Diese Änderungen könnten Ansätze für eine neue Architektur der Eurozone schaffen, die zunehmend auf gemeinsamen Institutionen beruht. Ein „Euro-Kommissar“ könnte ein zusätzliches Exekutivorgan einer stärkeren Euro-Zone sein.

»Säule sozialer Rechte«

Die aktuellen Brüsseler Debatten über die Zukunft der EU und der Eurozone bleiben weit hinter den Notwendigkeiten und den Herausforderungen der tiefen ökonomischen und politischen Krisen zurück. Die Spitzen der Europäischen Union unterzeichneten Ende 2017 in Göteborg die Erklärung für eine »Säule sozialer Rechte« in Europa. Gleiche Chancen und Zugang zum Arbeitsmarkt, faire Arbeitsbedingungen und sozialer Schutz und Inklusion – das sollen die Grundprinzipien für das neue soziale Gesicht der Europäischen Union sein. Damit will die EU den Populisten und EU-Skeptikern den Wind aus den Segeln nehmen, aber zugleich die soziale Spaltung in Europa überwinden. Im Gegensatz zur gelebten Praxis behauptet EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker: »Unsere Union war im Herzen immer ein soziales Projekt.« Für ihn sei die EU »mehr als ein gemeinsamer Markt, mehr als Geld, mehr als der Euro«. EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen fügte hinzu: »Das soziale Europa ist der Weg in die Zukunft.«

Aber wie soll das neue soziale Europa genau aussehen? Die EU-Staaten bekennen sich gemeinsam mit der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament zu 20 Standards, die möglichst überall in der Union gelten sollen. So sollen unter anderem ein Recht auf lebenslanges Lernen und die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen festgeschrieben werden.

  • Junge Menschen sollen ein »Recht auf Weiterbildungsmaßnahmen, einen Ausbildungsplatz, einen Praktikumsplatz oder ein Beschäftigungsangebot von gutem Ansehen innerhalb von vier Monaten« erhalten. Die Staaten verpflichten sich auch, »Beschäftigungsverhältnisse, die zu prekären Arbeitsbedingungen führen«, zu unterbinden.
  • Es sollen »angemessene Mindestlöhne« bezahlt und bezahlbare Kinderbetreuung gewährleistet werden. Zudem erhalten ArbeitnehmerInnen ein Recht auf »eine angemessene Kündigung«, auf Rechtsbeihilfe und sie haben Anspruch auf eine »angemessene Entschädigung«. Menschen mit Betreuungspflichten sollen das Recht auf Freistellungen und flexible Arbeitszeiten bekommen.
  • Selbstständige und ArbeitnehmerInnen sollen einen »angemessenen Sozialschutz« erhalten. Wer in die Rentenkassen eingezahlt hat, soll als RentnerIn über ein »angemessenes Einkommen« verfügen. Jede Person hat laut Sozialagenda das Recht auf eine »rechtzeitige, hochwertige und bezahlbare Gesundheitsversorgung« und häusliche Pflege.

Leider ist derzeit diese Verabredung nicht mehr als eine unverbindliche Absichtserklärung, da es eine Rechtsverbindlichkeit zur Durchsetzung dieser »sozialen Säule« nicht gibt. Letztlich muss jeder Mitgliedstaat aus eigener Kraft dafür sorgen, dass diese Standards in allen Staaten erreicht werden. Zu Recht fordert der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann: »Wir brauchen endlich verbindliche europäische Arbeitnehmerrechte, damit die soziale Dimension des Binnenmarkts deutlich gestärkt wird.« Aus »bisher unverbindlichen Regeln mit schwachen Vorgaben muss ein starker Pfeiler für soziale Rechte werden«, so Hoffmann weiter. Die »soziale Säule« müsse darum rechtsverbindlich werden, und für die Umsetzung der Standards sollten ausreichend Finanzmittel bereitstehen.

Dass dies im Bereich der Träumerei bleibt, solange es nicht in Deutschland zu einem grundlegenden Wandel im Umgang mit der EU kommt, verdeutlicht die Europaministerin Bayerns Beate Merk (CSU) mit ihrer unzweideutig nationalistischen Rhetorik: Sie pocht weiterhin auf die Eigenverantwortung jedes einzelnen Landes. »Wir können nicht zulassen, dass deutsche Rentner oder Steuerzahler dafür bezahlen sollen, höhere Sozialleistungen zum Beispiel in Griechenland oder Bulgarien zu finanzieren.«

Renaissance des Nationalstaates

Seit vielen Jahren machen die BürgerInnen die Erfahrung, dass, ganz gleich wen sie wählen, für sie nichts besser und vieles schlechter wird. Während Konzerne und Aktionäre unbehelligt ihre Milliardengewinne einstreichen und Subventionen kassieren, läuft im unteren Drittel der Einkommenspyramide europaweit ein gnadenloser Wettlauf um niedrige Löhne und den Abbau von Schutzrechten. 

Die bittere Ironie daran ist, dass die eigentliche Ursache der Misere keineswegs direkt bei den EU-Institutionen liegt, sondern bei den nationalen Regierungen. Denn es sind die nationalen Regierungsapparate und politischen Eliten, die seit Jahrzehnten sich der Logik der Austeritätspolitik unterwerfen und damit verhindern, dass der so geschaffene Binnenmarkt auch sozial und demokratisch regiert und gestaltet wird. Darum gibt es bis heute keine Mindeststeuer für Unternehmensgewinne, weil die nationalen Regierungen eher den Ausweg Steuersenkungswettlauf sehen. Darum gibt es bis heute keine gemeinsame EU-Sozialpolitik, weil es immer genügend Regierungen gibt, denen das nicht in ihr nationales Kalkül passt.

Kein Wunder, dass Europa erneut durch einen Flächenbrand des Nationalismus bedroht wird. Der abgetretene SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und Emmanuel Macron kamen in einem Arbeitspapier zu dem Schluss: »Wir müssen Mittel und Wege finden und umsetzen, damit nicht länger der Eindruck entsteht, dass das übergeordnete europäische Interesse nicht mit den nationalen Interessen übereinstimmt. Unser gemeinsames Ziel muss darin bestehen, dass sich kein Land, das rechtmäßig seine nationalen Interessen verfolgt, eine Zukunft außerhalb Europas – oder in einer kleineren Union – vorstellen kann. Dieses Ziel können wir mit einer Union der Solidarität und – wo notwendig – der Differenzierung auch über unterschiedliche Integrationsniveaus – erreichen. Frankreich und Deutschland stehen in der Verantwortung, voranzugehen, weil Europa nicht länger warten kann.«

Die Krisenphänomene sind nicht in erster Linie der Brüsseler EU-Bürokratie in die Schuhe zu schieben. Sie erfolgen primär aus dem Druck von Globalisierung und technischem Wandel sowie dem Versagen nationaler Politik in den Mitgliedstaaten – auch in Großbritannien. Die Finanz- und Bankenkrise hatte ihren Ursprung in mangelnder Regulierung und Aufsicht der nationalen Finanzplätze und in dem verantwortungslosen Gebaren vieler Banken. Überbordende Staatsschulden hätten von den nationalen Regierungen im Zaum gehalten werden müssen. Korruption und Reformunfähigkeit sind Erscheinungsformen nationaler und kommunaler Politik in den Mitgliedsländern.

Die Infragestellung der Europäischen Union, bedingt teils durch eine intransparente und unsoziale Politik der europäischen wirtschaftlichen und politischen Eliten, teils als Projektionsfläche des erstarkten Rechtspopulismus, bedeutet, dass die politische Linke die Europa-Frage auch künftig als prioritäres Problemfeld behandeln muss.

Bausteine einer grundlegenden Korrektur

Es gibt solidarische europäische Alternativen zu neoliberaler Austeritätspolitik und nationalstaatlichen Gegenkonzepten. Die BefürworterInnen einer Renationalisierung überschätzen angesichts der tiefen Verflechtungen der Weltwirtschaft die Spielräume nationalstaatlicher Politik und verharmlosen die Kosten der Rückabwicklung der europäischen Integration insbesondere des Euros. Vor dem Hintergrund freier Kapital- und Warenströme sowie einer gemeinsamen Währung können nationale Regierungen in den zentralen Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik keine progressive Politik im nationalen Alleingang durchhalten. Was aber im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass eine engere Zusammenarbeit der größten Volkwirtschaften (Deutschland, Frankreich, Italien, …) nicht neue Handlungsspielräume schaffen könnte. Eine Rückkehr zu nationalen Währungen – die radikalste Variante einer Renationalisierung – ist aber keine ökonomisch machbare und politisch wünschenswerte Option. Dieser Weg würde mit dramatischen Übergangskosten einhergehen, ohne letztlich die Spielräume für eine progressive Politik wirklich zu erhöhen. Die Alternative zu weniger Europa ist mehr Europa, aber anders: Ziel ist ein demokratisches und soziales Europa, das mit der neoliberalen Logik des Maastrichter Vertrags bricht.

Es ist falsch, Strukturanpassungen der nationalen Ökonomien in der Euro-Zone einseitig durch eine in ökonomische Depression führende Lohnsenkungs- und Austeritätspolitik erzwingen zu wollen. Europa braucht einen sozial-ökologischen Umbau und ein wirtschaftlich nachhaltiges Wachstum. Die Führungsrolle Deutschlands, die bislang in der massiven Durchsetzung von Austeritätsregimen besteht, muss überwunden werden, indem sich die ökonomische Hegemonialmacht von ihrer auf Leistungsbilanzüberschüsse (und damit auf Auslandsverschuldung und Export von Arbeitslosigkeit) ausgerichteten Wirtschaftspolitik verabschiedet und eine tendenziell ausgeglichene Leistungsbilanz anstrebt.

Um den berechtigten Kritiken an der Politik der EU sowie dem Unbehagen gegenüber der Euro-Zone und der Politik der Europäischen Zentralbank wirksam zu begegnen, sind auch institutionelle und instrumentelle Maßnahmen geboten. Dahinter steht gleichzeitig eine grundlegende Änderung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeption. 

Dabei geht es um:

  • die Abwehr der Entdemokratisierung, einschließlich der über technokratische Institutionen vollzogenen Austeritätsdiktate für Krisenstaaten;
  • die Verteidigung demokratischer Freiheitsrechte und politischer Liberalität. Dazu sind neue Bündniskonstellationen und ein Aufbrechen der neoliberalen Bündniskonstellation erforderlich. Das heißt: Ablehnung weiterer Schritte zentralistischer, antidemokratischer und neoliberaler Integration auf unterschiedlichen Ebenen solange die EU in erster Linie als neoliberales Projekt fungiert.
  • Gleichzeitig ist das Unbehagen an dieser Art des Wirtschaftens aufzugreifen, d.h. die Kritik an Austerität und EU-Fehlkonstruktionen u.a. zu formulieren.
  • Um die EU wirtschaftlich voran zu bringen, kommt es heute vorrangig darauf an, für einen sozial-ökologischen Umbau, für mehr Arbeitsplätze und höhere Einkommen zu sorgen, um überall in Europa die Finanzkrise hinter sich zu lassen. Dazu sind Strukturreformen, ein stabiles Finanzsystem und höhere Investitionen erforderlich. Weitere Kompetenzen sollten der EU dort übertragen werden, wo in den Mitgliedsstaaten Konsens dafür gegeben ist. Das kann auch ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten bedeuten, in dem weitere Integrationsschritte zunächst nicht von allen Staaten vollzogen werden. Jede Ausweitung der Zusammenarbeit ist ein Experiment.
  • Die Rückführung der Leistungsbilanzungleichgewichte im Rahmen einer Euro-Ausgleichsunion, unterstützt durch ein Euro-Investitionsprogramm, das durch einen kurzfristig zu etablierenden Wirtschaftskoordinationsrat (als Vorstufe einer europäischen Wirtschaftsregierung) gestaltet und aus aufgestockten Mitteln der EU-Struktur- und Ausgleichsfonds in Weiterentwicklung des Juncker-Plans finanziert wird.
  • Die Schaffung einer eigenen Fiskalkapazität der Euro-Zone durch das Aufkommen der kurzfristig umzusetzenden Finanztransaktionsteuer und der Emission von Euro-Bonds.
  • Die Trockenlegung von Steueroasen innerhalb der EU und Ausschaltung von Steuerdumping durch vorgeschriebene Mindeststeuersätze für die Körperschaftsteuer bei gleichzeitiger Harmonisierung einer breiten Bemessungsgrundlage und (dadurch) Vermeidung der Steuerverlagerung von transnationalen Konzernen durch Gewinnverschiebung in Niedrigsteuerländer; entsprechende Regelungen müssten auch auf weltweiter Ebene vorangetrieben werden.
  • Schuldenerleichterungen für überschuldete Staaten.
  • Die Aufhebung des Verbots der direkten Staatsfinanzierung, um die Europäische Zentralbank zu einer vollwertigen Zentralbank zu machen, die ihre Aufgabe als Lender of last Resort wahrnehmen kann;
  • Die drastische Schrumpfung und Re-Regulierung der Finanzmärkte, Einführung einer breiten Finanztransaktionsteuer (hier ist Gegenwehr gegen den Vorschlag von Macron nötig, die Finanztransaktionsteuer zu einer reinen Aktiensteuer zu verwässern);
  • Die EU-weite Einhegung der Sekundärmärkte der Börsen: u.a. durch ein neues, deutlich restriktiveres Verfahren zur Zulassung von Finanzprodukten („Finanz-TÜV“) sowie Unterbindung des Hochfrequenzhandels.

Mittelfristig sind die in der Krise genutzten Institutionen und Instrumente weiter auszugestalten:

  • Fortentwicklung des Wirtschaftskoordinationsrats zur einer Europäischen Wirtschaftsregierung, die demokratisch durch das Europaparlament legitimiert und kontrolliert wird und deren Aufgaben u.a. die Erarbeitung eines strukturpolitischen Entwicklungsleitbildes (inkl. Detaillierung auf verschiedenen Entscheidungsebenen) und die Koordination des makroökonomischen Politik-Mixes aus Struktur-, Geld- und Fiskalpolitik sind;
  • Weiterentwicklung des gegenwärtigen ESM zu einem Europäischen Währungsfonds (EWF), der u.a. den symmetrischen Ausgleich der Leistungs- und Kapitalbilanzen der Euro-Staaten überwacht und sich von austeritärer Strukturanpassung emanzipiert;
  • Fortentwicklung der Europäischen Investitionsbank (EIB) zu einem Institut für Beteiligungskapital sowie als Bank für wirtschaftspolitische Aufgaben im Hinblick auf Bündelung öffentlicher und privater Mittel zur Umsetzung einer europäischen Strukturpolitik entsprechend den Leitbildern auf den verschiedenen Ebenen;
  • Gründung einer öffentlichen Europäischen Rating-Agentur;

Die längerfristige Perspektive ist die Überwindung des gegenwärtigen Übergangs(Hybrid)charakters der Euro-Zone zu einer europäischen Volkswirtschaft (europäischer Gesamtreproduktionsprozess) mit grenzüberschreitenden Wirtschaftsregionen für den reproduktiven Wert- und Stoffersatz und Vollendung der europäischen Föderation durch eine durch Wertschöpfungsprozesse und Transfers abgesicherte Sozialunion, die gleichwertige Lebensverhältnisse in den beteiligten Staaten anzielt und materiell gewährleistet. Im Zusammenhang mit einer derartigen Fortentwicklung einer ökonomisch konsolidierten Euro-Zone zu einer europäischen Volkswirtschaft sind auch die Beitrittsmöglichkeiten für weitere EU-Länder wieder zu eröffnen.

Mit derartigen Überlegungen kann sich die politische Linke in die politische Debatte um die Perspektive Europas einbringen und bestehende Vorschläge dort stützen, wo sie eine Perspektive für eine Reformalternative beinhalten.

Literatur

Peter Bofinger u.a., Eine Strategie für mehr Investitionen, mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa, Arbeitspapier der Gruppe »Restart EUROPE now!«, Berlin 2017.

Bsirske, Frank/Busch, Klaus (2013): A Concept for Deepening the Social Dimension of the European Union, in: Social Europe Journal, 14.8.2013 

Bsirske, Frank/Busch, Klaus/Höbel, Olivier/Knerler, Rainer/Scholz, Dieter (Hrsg.) (2016): Gewerkschaften in der Eurokrise – Nationaler Anpassungsdruck und europäische Strategien, Hamburg

Busch, Klaus/Troost, Axel/Schwan, Gesine/Bsirske, Frank/Bischoff, Joachim/Schrooten, Mechthild/Wolf, Harald (2016): Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union, Hamburg

Busch, Klaus (2016): Das Versagen Europas – die Euro- und die Flüchtlingskrise sowie die »brexit«-Diskussion, VSA, Hamburg

Europäische Kommission (2017a), Reflexionspapier zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, Brüssel 2017.

Europäische Kommission (2017b), Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas, Brüssel.

Europäische Kommission (2017c): Vorschlag für eine interinstitutionelle Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte, Brüssel 2017.

Höpner, Martin/Scharpf, Fritz/Streeck, Wolfgang (2016): Europa braucht die Nation, in: »Die Zeit«, 39/2016 

Juncker, Jean-Claude u.a. (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden, Brüssel

Macron: ›Deutschland muss sich bewegen‹«, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/emmanuel-macron-appelliert-an-deutschland-15103946.html.

Schwan, Gesine (2016): Ein Weg aus der aktuellen europäischen Misere in der Flüchtlingspolitik – als Chance für einen europäischen Neuanfang, Mai, http://restart-europe-now.eu/2016/05/05/ein-weg-heraus-aus-der-aktuellen-europaeischen-misere-in-der-fluechtlingspolitik/

Stiglitz, Joseph E. (2016): The Euro and Its Threat to the Future of Europe, Allan Lane, UK

Troost, Axel/Paus, Lisa (2011): Eine Europäische Ausgleichsunion – Die Währungsunion 2.0, Institut Solidarische Moderne, Denkanstöße, Nr. 13, März 2011

Yanis Varoufakis (2016): Wenn wir nicht nachgeben. Die europäische Linke nach dem Brexit: Die Perspektive der DiEM25-Bewegung, Neues Deutschland, 5.9.2016

Axel Troost ist Vizevorsitzender der Linkspartei und Senior Fellow für Wirtschafts- und Europapolitik bei der Rosa Luxemburg Stiftung. Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem »transform! Jahrbuch 2018«, das von Walter Baier und Bernhard Müller herausgegeben wird und unter dem Titel »Integration – Desintegration – Nationalismus« steht. Die Versprechen der Jahre 1917 und 1918, ein friedliches Miteinander der Menschen und eine gerechte Gesellschaft, scheinen 100 Jahre nach der Russischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkrieges weiter denn je entfernt von ihrer Erfüllung.  Die aktuelle Ausgabe des transfom!-Jahrbuches zieht eine ernüchternde Bilanz: Nationalismus, Rassismus und Neofaschismus sind unter neuen Vorzeichen wieder zu Alltäglichkeit geworden und beeinflussen in wachsendem Maße das Handeln der Staaten, der EU und der NATO. Alle emanzipatorischen Kräfte wirken demgegenüber zersplittert und tun sich schwer, diesen Entwicklungstendenzen wirksam zu begegnen. Welche Mechanismen wirken hier? Was kann die Linke diesem Umbruch der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse entgegenstellen? Es wird mit Blick auf seinen 200. Geburtstag diskutiert, welchen Beitrag die Bezugnahme auf das Marxsche Erbe dabei leisten kann. Weitere Beiträge setzen die Analysen zum Brexit und zu den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in einzelnen Mitgliedsstaaten der EU fort. 

Das Jahrbuch wird von transform! europe herausgegeben, einem aus 27 Organisationen aus 19 Ländern bestehenden linken Think-tank. Er fungiert gleichzeitig als die politische Stiftung der Partei der Europäischen Linken. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die kritische Europaforschung. Die Ausgabe 2018 enthält Beiträge von Luciana Castellina, Samir Amin, Marica Frangakis, Gregor Gysi, Marisa Matias, John Grahl, Michael Löwy, Joachim Bischoff, Ilona Švihlíková, Axel Troost und vielen anderen. Das Jahrbuch wird von transform! europe herausgegeben, einem aus 27 Organisationen aus 19 Ländern bestehenden linken Think-tank. Er fungiert gleichzeitig als die politische Stiftung der Partei der Europäischen Linken. Den Schwerpunkt seiner Arbeit bildet die kritische Europaforschung.

Weitere Informationen und Bezugsmöglichkeiten gibt es hier beim VSA Verlag. 

Walter Baier/Bernhard Müller (Hrsg.), Integration – Desintegration – Nationalismus. transform! Jahrbuch 2018. VSA-Verlag 300 Seiten EUR 19,80, ISBN 978-3-89965-834-7

Geschrieben von:

Axel Troost
Axel Troost

Senior Fellow für Wirtschafts- und Europapolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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