Wirtschaft
anders denken.

Die Ökonomie der Willkommenskultur

Dieter Rucht, Bewegungsforscher, über die ökonomische Seite der deutschen Willkommenskultur und die Verantwortlichkeit der BürgerInnen.

03.04.2016
Foto: Stephan Moll
Dieter Rucht ist der bekannteste deutsche Bewegungs- und Protestforscher. Er promovierte über den AKW-Widerstand, forschte an der Harvard University, der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und an der University of Michigan. Bis zu seiner Emeritierung 2011 war er Co-Leiter der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Heute ist er Vorsitzender des Vereins für Protest- und Bewegungsforschung.

Dieter Rucht, Bewegungsforscher, über die ökonomische Seite der deutschen Willkommenskultur und die Verantwortlichkeit der BürgerInnen.

Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger sind bereit, Flüchtlingen über einen längeren Zeitraum zu helfen. Sie untersuchen schon lange, wie und wo die Zivilgesellschaft aktiv ist. Haben Sie ein solches Ausmaß an Hilfsbereitschaft erwartet?

Dieter Rucht: Die Hilfsbereitschaft ist größer als ich angenommen hatte. Vermutlich gibt es aber eine deutliche Kluft zwischen jenen, die in einer Spontanaktion mit Teddybären und Schokolade Flüchtlinge an Bahnhöfen willkommen hießen, und denen, die relativ dauerhaft, mit hohem Zeiteinsatz und relativ unspektakulär Hilfe leisten.

Gibt es Untersuchungen über das Ausmaß der zivilgesellschaftlichen Hilfe?

Inzwischen wurden erste Studien vorgelegt, deren Aussagekraft allerdings begrenzt ist. Sei es, weil sie zwar repräsentativ angelegt sind, aber relativ allgemeine und oberflächliche Fragen enthalten, wie die des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Sei es, weil sie regional begrenzt sind und keine stringenten Auswahlkriterien aufweisen, wie die der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Sei es, weil es sich um eine Online-Umfrage handelt, der eine Selbstselektion der hoch Motivierten zugrunde liegt, eine solche Studie erstellte das Berliner Institut für empirische Migrationsforschung. Zudem dürfte in all diesen Studien das sozial erwünschte Antwortverhalten eine erhebliche Rolle spielen.

Nach der erstgenannten Studie geben 36 Prozent der Befragten an, Flüchtlingen bereits geholfen zu haben. Diese Zahl erscheint mir sehr hoch. Klar ist jedenfalls, dass Helfer und Helfergruppen flächendeckend in den meisten Kommunen präsent sind, die Flüchtlinge aufnehmen.

Wer sind die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer? Und gibt es Erkenntnisse über ihre Motive?

Nach den bisherigen Studien sind Frauen stark überrepräsentiert. Das Bildungsniveau ist hoch, das Altersspektrum breit. Vermutlich sind diejenigen stark vertreten, die sich auch ansonsten für Belange des Gemeinwesens einsetzen. Es dürften sich aber vorwiegend solche Leute stark engagieren, die zeitlich relativ flexibel sind, etwa Rentner und Studierende, und solche, die eine nützliche fachliche Qualifikation, beispielsweise als Lehrer, Pfleger, Sozialarbeiter oder Übersetzer, einsetzen können. Wie beim sonstigen zivilgesellschaftlichen Engagement sind wohl Personen aus dem „Humandienstleistungssektor“ besonders stark vertreten.

Wie lange wird diese ehrenamtliche Hilfe noch anhalten?

Das ist schwer abzusehen, zumal sie auch vom Ausmaß und der Wirksamkeit staatlicher Hilfen beeinflusst wird. Ein kleinerer Teil der derzeit Engagierten wird langfristig weitermachen. Der größere Teil wird sein Engagement reduzieren oder ganz aussteigen, weil andere Pflichten und Neigungen wieder in den Vordergrund rücken.

Was lesen Sie aus diesen Aktivitäten über den Zustand der Gesellschaft ab?

Ich interpretiere die große Hilfsbereitschaft erstens als Ausdruck einer im langen historischen Trend wachsenden generalisierten Empathie, zweitens als ein bewusst gesetztes Zeichen gegen die mit Pegida und Co. verstärkt sichtbar gewordene Fremdenfeindlichkeit und drittens als Einsicht in die zumindest vorübergehenden Überforderung der staatlichen Behörden und professionellen Helfer.

Ist es nicht Gebot von menschlicher Hilfsbereitschaft und Solidarität, die auch wir von anderen erhoffen würden?

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Den Flüchtlingen zu helfen, das ist doch Aufgabe des Staates und der öffentlichen Verwaltungen. Nützen damit staatliche Organe Hilfsbereitschaft nicht schamlos aus? Und wird so nicht einer Entstaatlichung von sozialen Aufgaben Vorschub geleistet?

Wieso soll es nur Aufgabe des Staates sein, Flüchtlingen zu helfen? Ist es nicht Gebot von menschlicher Hilfsbereitschaft und Solidarität, die auch wir von anderen erhoffen würden, wenn wir hierzulande in einer ähnlichen Lage, etwa einem jahrelangen Bürgerkrieg, wären? Es sollte allerdings eine grobe Arbeitsteilung zwischen staatlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement geben. Staaten müssen Rahmenbedingungen und Infrastrukturen schaffen, Gelder aus dem Haushalt bereitstellen, sollen Anreize und Stützen für zivilgesellschaftliches Engagement bieten. Man kann von Bürgern und Bürgerinnen nicht erwarten, dass sie Flächen für Unterkünfte bereitstellen oder gar im Ausland riesige Zeltstädte als Maßnahme der Soforthilfe aufbauen. Umgekehrt sollte nicht erwartet werden, dass jedem Hilfsbedürftigen ein staatlich bezahlter Sozialarbeiter zur Seite gestellt wird. Hier sind ehrenamtliche Patenschaften oder punktuelle Hilfen gefragt, um Flüchtlinge bei Behördengängen, bei der Wohnungssuche, beim Erlernen der Alltagskonversation, beim Musikunterricht etc. zu unterstützen.

Das Interview führte:

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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