»Wir erleben die Zuspitzung eines offenen Konflikts«
Helmut Scholz, Welthandelsexperte und langjähriger Europaabgeordneter der Linken, zu neuen Handelskonflikten zwischen EU, USA und China.
Es gibt einen neuen Handelskonflikt im Dreieck EU-USA-China. Anfang Oktober haben nach den USA auch die EU-Mitgliedstaaten mehrheitlich Extrazölle auf in China produzierte Elektroautos beschlossen – ungeachtet eines Nein Deutschlands und vier weiterer Staaten. Als Begründung für diese »Strafzölle« werden die staatlichen Subventionen der chinesischen Regierung für die massive Stärkung der E-Mobilität und diese Fahrzeuge genannt. Ist das der Auftakt für einen neuen Handelskrieg?
Die Zeitschrift »OXI« hatte im Oktober 2019 einen Beitrag von Joachim Bischoff, Björn Radke und Axel Troost publiziert, der eine Verfestigung der Fronten im Handelskrieg zwischen China und den USA durch die vom damaligen US-Präsidenten betriebene Eskalationsstrategie mit immer neuen Zöllen konstatierte. Damit steht weniger die Frage, ob die jetzt verhängten Zölle etwas Neues sind. Eher sehen wir die stetig zunehmende Zuspitzung eines offenen Konflikts im Verhältnis zwischen den gegenwärtig weltweit größten Volkswirtschaften und dessen geopolitischer und geowirtschaftlicher Dimension im Prozess der Neuausrichtung der Weltwirtschaftsstrukturen. Und in diesem Kontext erfolgt jetzt – ungeachtet der vor fünf Jahren ausgerufenen strategischen Autonomie der EU – die prinzipielle Parteinahme der Europäischen Union an der Seite der USA. Dabei geht es um grundlegende ordnungspolitische Fragen: Wie bewältigen Volkswirtschaften angesichts sich rasant verändernder technologischer Umwälzungen im Zeitalter des digitalen und Finanzmarktkapitalismus jeweilige gesellschaftliche Erwartungen an eine funktionierende Wirtschaft, für die Lösung grundlegender Problemstellungen gesamtvolkswirtschaftlicher Entwicklungsprozesse und notwendiger sozialer Stabilität – national und in der Welt? Insofern ist das, was sich vor dem Hintergrund der E-Mobilität abspielt, ein grundlegendes Problem. Nach wie vor gibt es zwischen den Vereinigten Staaten und China zunehmende Konfrontation darum, wie man mit den jeweiligen ordnungspolitischen Vorstellungen im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit und der Kooperation umgeht. Kurz: Was 2019 in »OXI« beschrieben wurde, auch in Reaktion auf die weltwirtschaftlichen Auswirkungen des WTO-Beitritts Chinas, findet offensichtlich nun eine Fortsetzung auf höherer Stufe.
Treiber im jüngsten Konflikt waren die USA. Ist die EU abermals ins Fahrwasser Washingtons eingeschwenkt?
Die übergroße Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten und der politischen Parteien und Fraktionen im Europäischen Parlament und natürlich auch in den nationalen Volksvertretungen hält am historisch gewachsenen, engen transatlantischen Bündnis fest – sowohl im Wertekanon der politischen Zusammenarbeit, der außen- und sicherheitspolitischen Interessenwahrnehmung als auch in der Organisation der wirtschaftlichen Kooperation mit intensivsten Verflechtungen der Wirtschaftsakteure. Angesichts des bedenklichen Zurückbleibens europäischer Volkswirtschaften im Vergleich zu den USA und zu China heute und in naher Zukunft in den globalen Markt und Wettbewerb entscheidenden Bereichen, und angesichts des Fehlens einer gemeinschaftlich entwickelten und abgestimmten Wirtschaftspolitik der EU jenseits nationaler Interessenlagen folgt die EU somit konsequenterweise der transatlantischen Verankerung. Wenn man so will, ist sie eingeschwenkt, oder genauer gesagt ist sie nicht abgebogen. Und zwar vor dem Hintergrund einer Vertiefung des transatlantischen Verhältnisses angesichts eines veränderten internationalen Kräfteverhältnisses mit sich überlagernden und verschränkenden politischen und wirtschaftlichen Problemstellungen. Hier sind ja die Wechselbeziehungen mit Ländern des Globalen Südens, die Abhängigkeiten in global zu organisierenden und zu gestaltenden Lieferketten, die Gewichtung global agierende transnationaler Konzerne und Technologieriesen gerade auch im Vergleich zur Wirtschaftsmächtigkeit von Nationalstaaten mitzudenken. Da geht es auch um den Auftritt der Brics-Staaten (Brasilien, Russische Föderation, Indien, China und Südafrika – U.S.), der Golfstaaten oder den Asean-Mitgliedern als internationale Player.
Der angesprochene Konflikt bringt anschaulich zum Ausdruck: Wie soll im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – angesichts der vom Klimawandel zeitlich bestimmten bzw. genauer begrenzten Möglichkeit für einen notwendigerweise radikal notwendigen Umbau aller Volkswirtschaften – das weltwirtschaftliche Miteinander von Staaten und wirtschaftlichen Akteuren im Interesse der Menschen und der Natur gestaltet werden? Diese Frage zu beantworten und Handelskriege nicht entstehen zu lassen, heißt konsequent multinationale und regelbasierte Handels-, Umwelt- und Entwicklungspolitik, nachhaltige Agar- und Industriepolitik, Mobilität, Technologieentwicklung und zugleich Zugang zu dieser und Wissenstransfer zum gegenseitigen Nutzen und Bürger*innen im lokalen, regionalen und internationalen Kontext zu verknoten.
Leider sehe ich sehe hierzu erschreckendes Desinteresse in den EU-Mitgliedstaaten durch ihre Fokussierung auf nationale Belange und Vorteile und zugleich auch einen Rückschritt bei den vorgestellten Leitideen der EU-Kommissionspräsidentin für die begonnene Legislatur 2024-2029. Wir haben aber die entscheidendsten Jahre zur Einlösung der Nachhaltigkeitsagenda 2030 der UNO und damit auch für die Rekonstruktion einer verantwortungsbewussten internationalen fairen Handels- und Wirtschaftszusammenarbeit vor uns, einschließlich einer Neuordnung und -justierung der internationalen Institutionen dafür. Notwendig ist eine ehrliche makro- wie mikroökonomische, ordnungspolitische Debatte, die gesamtgesellschaftlich zu führen ist. Und darauf sollte auch eine neu gedachte und zu gestaltende, grundlegend an internationalen Bedarfen ausgerichtete, solidarische transatlantische Kooperation der EU ausgerichtet werden. Wie ebenso eine offene Strategie gegenüber China, Indien, Brasilien oder den Mitgliedstaaten der Afrikanischen Union. Um damit auch der von der EU-Kommission ausgerufenen strategischen Autonomie realen Inhalt und ein zukunftsfestes Ziel zu geben.
Die Entwicklung ist verschlafen worden
Noch einmal zurück zur E-Mobilität: Haben EU und europäische Unternehmen die Entwicklung verschlafen?
Ja, da sind entscheidende Innovationen ausgeblendet geblieben – verschlafen wurde vor allem der Weckruf sich gravierend verändernder internationaler Entwicklungs- und Wettbewerbsbedingungen. Das ist jetzt aufzuholen, einschließlich einem sich der ändernden Marktrealität von Binnennachfrage und -angebot stellenden Produktionslogik. Von der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der individuellen E-Mobilität und das konsequente Setzen auf einen modernen, flächendeckenden und nachhaltig betriebenen ÖPPNV abgesehen, für viele erschwingliche E-Autos anzubieten – hier haben Mercedes, Volkswagen und BMW, um in Deutschland zu bleiben, wirklich die Zeichen nicht erkannt. Bereits vor acht, zehn Jahren gab es von sehr vielen Fachleuten die Forderung, die deutsche Automobilindustrie müsse sich auf die Elektrifizierung einstellen. Diese hat aber an alten Positionen festgehalten. Aber noch einmal: Es geht um weit mehr als E-Autos. Europäische Unternehmen und unsere Öffentlichkeit wie Politik müssen sich solchen Herausforderungen wie Digitalisierung, Hochtechnologie, der Batterieproduktion und damit auch des entsprechenden Rohstoffbedarfs und der damit verbundenen Problematik von Wertschöpfungs- und Lieferketten stellen. Beispiel: Sind die Bürger*innen im Erzgebirge bereit, Lithiumabbau mit seinen möglichen Auswirkungen auch zu Lasten von Umwelt zu tragen? Denn wir erleben gerade in Serbien massenhafte Bürger*innen-Proteste gegen den von der EU dort vorgesehenen Abbau des Metalls. Wie also halten wir es weltweit mit den sozialen und ökologischen Bedingungen von »grünen Produkten«.
China hat diese Entwicklung, nicht nur in der Automobilbranche, offensichtlich nicht verschlafen. Inzwischen hat man den Eindruck, dass »der Westen« auf Peking schaut wie das Kaninchen auf die Schlange …
Seit China 2001 Mitglied der Welthandelsorganisation WTO wurde, dachte man, China werde die ordnungspolitischen Strukturen des neoliberalen Modells amerikanischer, europäischer Tradition adoptieren. Das ist aber so nicht aufgegangen, weil die Volksrepublik eine eigenständige Strategie hin zum globalen Wirtschaftsakteur konzipierte, realisierte und realisiert, die auf den Mix von staatlichen, privaten und anderen Eigentumskonstruktionen, z.B. joint ventures, auf massenhafte staatliche, private und ausländische Direktinvestitionen zur Ankurbelung der wirtschaftlichen Entwicklung orientierte und zugleich mit planwirtschaftlichen Methoden einen anderen Ansatz im internationalen Wettbewerb verfolgte. Die jahrelange bis 2015/16 währende Debatte in der WTO zwischen den mehrheitlich der OECD angehörenden »westlichen« Industriestaaten und einer Reihe von Schwellen- und Entwicklungsländern um den sogenannten Marktwirtschaftsstatus (MES) der letzteren Volkswirtschaften, vor allem Chinas und Vietnams, demonstriert dies nachdrücklich. Im Kern ist das auch die Frage nach Subventionierung oder Wettbewerbsverzerrung, wie im Falle der Extrazölle. Eine Klärung und gegebenenfalls Neujustierung entsprechender Regeln und Vertragsbestandteile in der WTO wird hier notwendig sein, damit ein Regelwerk universal gültig bleibt und den sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst werden kann. Damit nicht durch nationale Interessenwahrnehmungen seitens einzelner Schwergewichte in der internationalen Handelswelt wie den USA – diese haben durch die ausschließliche Gewichtung auf Eigeninteressen die WTO-Schiedsbarkeit de facto außer Kraft gesetzt – Chinas oder der EU eine faire, regelbasierte Multilaterale Handelsstruktur weiter aushöhlen. Ohne eine solche strategische, auch andere Mitglieder der WTO einbeziehende Diskussion droht sich – von meiner Warte aus – die Konfrontation zwischen diesen drei großen Akteuren in der Weltwirtschaft zu verschärfen.
Stichwort WTO als »Lenkungsinstanz« des Welthandels und zur Verhinderung von Handelskriegen: Ist die Welthandelsorganisation überhaupt noch ein Gremium, das in diesem Sinne wirken kann? Schließlich war die WTO in den vergangenen Jahren sehr oft Spielball politischer oder geostrategischer Interessen, insbesondere der USA.
Voraussetzung dafür, dass die WTO diese Aufgaben erfüllen kann, ist die Bereitschaft der Länder, sich überhaupt auf internationale Strukturen und Netze einzulassen. Ich formuliere das mal vorsichtig: Die WTO ist entstanden unter Führung der Vereinigten Staaten als eine Organisation im Interesse der amerikanischen Vorherrschaft im Weltmaßstab. Sie sollte handelspolitische Regeln setzen, die den USA und ihren Unternehmen nützen. Und dies in der Hoch-Zeit neoliberal gestalteter Globalisierung. Das aber hat sich jedoch in den letzten 20, 25 Jahren zunehmend verändert. Die brutale Einbindung von allen Ländern und Regionen in die globale Weltwirtschaft und ihrer Unterwerfung der Profitlogik – zumal eines Finanzmarktkapitalismus – und die Verstärkung der gegenseitigen Abhängigkeiten hatten und haben aber signifikante Folgerungen für die wirtschaftliche Entwicklungs- und Aufholprozesse vieler WTO-Mitgliedsländer und deren Formulierung eigener Interessenlagen. Das hat die Organisation WTO selbst auch verändert. Hier kommt nun ein interessantes vertragliches Moment ins Spiel: Alle Mitglieder sind gleichberechtigt, haben de jure pro Mitglied eine Stimme und alle multilateralen Verträge und Positionen sind im Konsens zu entscheiden. Und entscheiden nun selbst und selbstbewusster als in der Vergangenheit, wo sie bereit sind, Kompromisse zu suchen, wo sie Kooperationsbeziehungen ausbauen wollen, wo nicht. Die »neuen« Fragen – ich komme zurück auf den Zusammenhang von Waren- und Dienstleistungs-Handel, Industrie- und Agrarpolitik, Umwelt und Nachhaltigkeit, Ernährungssicherheit, Wertschöpfung und Entwicklungsgerechtigkeit – und deren Beantwortung durch die Mitgliedsländer, und die EU spricht in der WTO für alle 27 Mitgliedstaaten, werden maßgeblich sein, ob es in den nächsten Jahren regelbasierten Handel noch geben kann und wird, oder ob sich hier Konflikte verschärfen, die von anderen als volkswirtschaftlicher Entwicklung dienenden Interessen bestimmt sind und einen globalen Handelskrieg auslösen (können).
WTO: Eine widersprüchliche Entwicklung
Trotzdem scheint die WTO oft nicht mehr handlungsfähig, was die Umsetzung des Regelwerks für die internationalen Handelsbeziehungen anbelangt.
Es ist ja tatsächlich eine durchaus widersprüchliche Entwicklung. Denn einerseits soll die WTO nach wie vor das Regelwerk aufrechterhalten. Dass aber zunehmend diese Regeln bestimmten nationalen Interessen widersprechen, führt dazu, dass sie missachtet werden. Folge wäre, dass die Organisation ihre universale Kraft verliert. Wir haben gesehen, dass bereits in den letzten fünf Jahren zunehmend der Ansatz von multilateraler Handelszusammenarbeit und multilateralen Handelsstrukturen hin zu plurilateralen Handelsstrukturen gegangen worden ist. Das heißt, nur noch die, die dazu bereit sind, schließen Vereinbarungen, oft regional begrenzt. Dies mag für eine bestimmte Zeit für einige handelspolitische Aspekte ein Ausweg aus der Selbstblockade sein- es torpediert jedoch insgesamt das Funktionieren einer auf universalen Regeln basierenden Handelsarchitektur. Vielmehr muss daran gearbeitet werden, wie die Architektur und Regeln unter den veränderten internationalen Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln sind. Transparent und gleichberechtigt, inklusiv und demokratisch und damit auch durch eine stärkere Rückbindung der exekutiven Entscheidungsebenen der WTO (Die Ministerkonferenzen und die Botschafter-Verhandlungen am Sitz der WTO in Genf sind ja Regierungshandeln) in die Gesellschaften der WTO-Mitgliedsländer und Parlamente.
Letztlich sind faire und geregelte Handelsbeziehungen auch notwendig, um die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Bis 2030 sollten unter anderem Armut und Hunger ausgemerzt, medizinische Versorgung und Bildung sichergestellt, Gleichberechtigung der Geschlechter hergestellt werden. Sie haben sich in Ihren 15 Jahren parlamentarischer Tätigkeit sehr stark für die Umsetzung dieser Nachhaltigkeitsziele eingesetzt. Die Chancen für deren Realisierung schwinden aber angesichts der von Ihnen beschriebenen Konflikte und Entwicklungen.
Wenn wir die Agenda aus dem Blickwinkel der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer oder den USA allein betrachten, droht dieses Szenario einzutreten. Wir erleben schon von verschiedensten Akteuren auf EU-Ebene, im EU-Rat, bei der Auswahl der künftigen Kommissions-Mitglieder und im Europaparlament, dass Wachstumslogik, Wettbewerbsfähigkeit und weniger verbindliche »soziale und grüne« Rahmensetzungen das Herangehen an die Lösung der vielen unmittelbaren aber auch mittelfristigen Aufgaben der EU bestimmen sollen. Und sicherlich verhindern die Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan und anderswo auch die fristgemäße Umsetzung der SDG-Agenda 2030. Aber warum nutzen wir nicht diese Herausforderung als Einstieg in einen Narrativwechsel hin zu so dringlich notwendigem Waffenstillstand, zu Friedensverhandlungen, Abrüstung… Aber ich habe ja davon gesprochen, dass die Brics-Staaten, die Asean-Länder oder auch die Mercosur-Länder ihre Positionen einbringen, auch wenn diese natürlich vor einer Vielzahl von gravierenden Herausforderungen stehen. Ob sie es zulassen werden, dass die UN-Nachhaltigkeitsziele aufgegeben werden, stelle ich infrage. Aber tatsächlich ist es so, dass sie nur umgesetzt werden können, wenn wir unsere Art und Weise zu produzieren und zu konsumieren grundsätzlich ändern.
Guter Journalismus ist nicht umsonst…
Die Inhalte auf oxiblog.de sind grundsätzlich kostenlos. Aber auch wir brauchen finanzielle Ressourcen, um oxiblog.de mit journalistischen Inhalten zu füllen. Unterstützen Sie OXI und machen Sie unabhängigen, linken Wirtschaftsjournalismus möglich.
Zahlungsmethode